Kapitel 14 - Franziskas Erzählung.

Die Teilnahme, mit der die Freunde und Fürst Siegmund der Geschichte von dem wunderlichen Edelmann gelauscht, hatte sie nicht verhindert, die Erregung zu bemerken, von der Franziska mehr und mehr ergriffen schien. Beim Verlesen des Briefes, den die Gräfin Caroline an eine Vertraute geschrieben, hatte sie sich emporgerichtet, und unablässig hingen dann ihre Augen an den Lippen Georg Vinzenz Lambergs. Und als dieser geendet, warf sie sich mit dem Gesicht gegen das Polster, und das Beben der schlanken Gestalt verriet, daß sie mit bemitleidenswerter Anstrengung ihr Weinen zu ersticken suchte.

Der Fürst ging zu ihr, setzte sich neben sie und faßte ihre Hand. Er schwieg. Borsati aber sagte: „Kann Erdmann Promnitz deinen Schmerz lösen, Franzi, warum sollten wir es nicht können?“


Fürst Siegmund beugte sich ein wenig zu ihr herab und bat, sie möge ihn anschauen. Sie schüttelte den Kopf. „Keiner unter uns wünscht, daß du eine Wunde aufreißen sollst,“ sagte der Fürst gütig und ruhig, „und mich selbst verlangt es nur, dich wieder so zu sehen, wie du ehedem warst. Ist es dir nicht möglich zu vergessen, so dünkt es mich doch gefährlich, wenn dich fremde Geschicke immer wieder mahnend in die eigene Vergangenheit zerren, und deinen Freunden hier sind diese Tränen vielleicht ein unverdienter Vorwurf. Was aber auch an Bewahrung oder Stolz im Schweigen liegt, das eine glaub mir als altem Lebensmenschen: es ist nicht fruchtbar, und es ist nicht fromm. Es verengert das Herz.“

Da kehrte sich Franziska um, ließ den Blick sinnend über alle schweifen, und mit blassem Gesicht antwortete sie: „Ihr sollt es wissen. Was mich an der Geschichte vom Grafen Erdmann so getroffen hat, das kann ich kaum erklären. Nicht die Frau ist es und was sie hat ertragen müssen, dergleichen ist ja häufig, es bestätigt nur die Erfahrungen und wühlt nicht so unerwartet auf. Es ist etwas Anderes; es ist da eine Luft, ein Ton, eine Folge, etwas wie dumpfaufschlagende Steine, ich vermag es euch kaum anzudeuten, etwas über die Wahrheit der Worte hinaus, etwas, was wie Musik wahr ist. Und dann die Sterne! und dieser Tod! Und das Bildnis zuletzt! Auch ich habe von einem Bildnis zu erzählen, von nichts anderem eigentlich.“

„Aber wie soll ich sprechen?“ fuhr sie hastiger fort, betrachtete die aufmerksamen Gesichter der Freunde und ließ das Haupt auf die stützende Hand sinken, „wie soll ich das Unglaubliche schildern, euch, die ihr mich so gut kennt und doch nicht kennt? Vielleicht war ich damals müde; ja, in jeder Hinsicht müde. Ich hielt nichts mehr von mir, mein Körper war mir eine Last, mein Talent eine Grimasse, mein Dasein kam mir erbitternd nutzlos vor, ich erschien mir unsagbar einsam, und die Gleichgültigkeit, die einen erfüllt, wenn man stets getragen wurde und nie gegangen ist, war das Schlimmste. Mich verlangte nach einem Sturz, oder nach einem Widerstand, denn trotzdem ich kraftlos war, war ich zugleich verwildert. Nein, ihr habt nichts von mir gewußt; ihr wart zu klug, zu vornehm, zu sparsam, zu beiläufig.“

Sie seufzte, und nach einer bedrückenden Pause begann sie die Ereignisse zu erzählen, auf die sie in so ungewöhnlicher Weise vorbereitet hatte, die aber mit ihren eigenen Worten nicht gut wiedergegeben werden können, weil das Heftige und Sprunghafte des Vortrags die Faßlichkeit beeinträchtigen würde.

Eines Tages erhielt sie einen Brief von einer Freundin, die acht oder neun Jahre zuvor vom Theater weg eine glänzende aristokratische Heirat gemacht hatte und deren Mann im Ausland gestorben war. Die Zurückgekehrte wünschte Franziska zu sehen. Sie bewohnte einen kleinen Palast in der Metastasio-Gasse, und als die Beiden in einem rondellartigen Raum einander gegenüber saßen, erblickte Franziska ein Porträt, von dem sie aufs Wunderbarste berührt wurde. Sie konnte die Augen nicht von dem Gemälde losreißen, und da bisher Bilder nie tiefer auf sie gewirkt hatten als etwa schöne Stoffe oder Teppiche oder Geschmeide, geriet sie selbst in Bestürzung über den Eindruck. Auch die Freundin erstaunte, als Franziska sie um die Erlaubnis bat, öfter hier sitzen zu dürfen, um das Bild betrachten zu können. Franziska kam von da ab jeden Tag. Anfangs leistete ihr die Baronin Gesellschaft, dann ließ sie sie häufig allein. Sie war der Ansicht, daß eine trübe Erinnerung oder ein kürzlich erlittener Seelenschmerz Ursache des sonderbaren Benehmens sei, und vielleicht um Franziska auszuforschen, vielleicht um sie zu zerstreuen, teilte sie ihr nach einiger Zeit mit, sie habe unter den Papieren ihres Gatten Aufzeichnungen über die Persönlichkeit des Porträtierten gefunden; es sei ein schottischer Edelmann gewesen, der für den Gemahl einer von ihm hoffnungslos geliebten Dame sein Leben geopfert habe; dieser nämlich war wegen Rebellion gegen das königliche Haus zum Tod verurteilt worden; um die angebetete Frau vor dem schrecklichen Verlust zu bewahren, hatte sich der Liebende des Nachts, eine Stunde vor der Exekution, Eingang in die Zelle verschafft, hatte die Kleider mit dem Delinquenten getauscht und sich hinrichten lassen, ohne daß weder die Richter noch die Henker den Betrug merkten.

Dies Tatsächliche oder Sagenhafte ging Franziska anscheinend nicht nahe. Es war sogar, als hätte sie eine Abneigung dagegen. Zu wirklich war es und als Wirkliches zu fern. Sie war in einem Fieber, in dem man weder sieht noch denkt, nur tastet. Das Bild war so unlöslich in das rätselhafte Weben ihrer Seele versenkt, daß es immer gegenwärtiger und wahrer wurde, je öfter sie es sah. Niemals kam ihr der furchtbare Gedanke, daß sie sich an ein Gespenst verliere, daß ihr Gemüt außerhalb der Ordnung der Dinge sei; es war ein Rausch, nicht zu wissen, nicht zu deuten, nicht umzukehren; auch ein Bewußtsein von Folge war darin, – als ob der Schatten zur Gestalt werden oder sie selbst zu einem Schatten hindorren müsse.

Er wurde zur Gestalt.

Herr von H., der um jene Zeit von seinem Botschafterposten zurücktrat, gab eine Abendgesellschaft, zu der Franziska eine Einladung erhielt. Obwohl sie seit Wochen solche Festlichkeiten zu besuchen vermieden hatte, folgte sie diesmal der Aufforderung, ohne eine Absage nur zu erwägen. Als sie in den Salon getreten war, sah sie bloß ein einziges Gesicht unter den zahlreichen; es war dasselbe Gesicht wie auf dem Bild. Es war, sie zweifelte nicht daran, dasselbe weiße, glatte, schmale, ruhige und vollkommene Antlitz mit Augen wie aus grünem Eis; es waren dieselben verächtlich und schmerzlich geschwungenen Lippen, es war dieselbe Entschlossenheit der Miene, derselbe phosphoreszierende Glanz auf der Stirn, dieselbe feine Knabenhand, sogar mit demselben Smaragd am Finger.

Er ging auf Franziska zu. Hinkend kam er heran. Er hatte einen Klumpfuß, und seltsam, gerade dieser Körperfehler war es, der in ihr das Gefühl der Identität bestärkte. So wird ja oft ein Gleichnis eben durch das Unerwartete zwingend. Manche der Anwesenden spürten die gewitterhafte Spannung zwischen den beiden Menschen, als diese einander gegenüber standen. Franziska hatte natürlich schon von Riccardo Troyer gehört, von seinem Reichtum, von seinen Abenteuern, von seinem Geist; es war eine verführerische Kraft in ihm, durch welche er Anhänger gewann fast wie ein Prophet und nicht wie ein Reisender und Fremdling von unbekannter Herkunft. All das bedeutete ihr nichts; sie hatte nicht einmal Neugier empfunden.

Ihre Schönheit lockte ihn sicherlich, jedoch sie spürte es kaum. Sie spürte sich selbst nur als eine Hingerissene und von unwiderstehlicher Gewalt Umschlungene. Es verlangte sie, ihn vor dem Bildnis zu sehen, und sie ersuchte die Baronin, die gleichfalls anwesend war, ihn für den folgenden Tag zum Tee zu bitten. Er kam. Sie befanden sich in dem Rondell, und Franziska war beglückt, als sie wahrnahm, daß ihr Auge sie nicht im geringsten betrogen hatte. Besonders wenn er den Blick emporgeschlagen auf sie heftete, hatte sie Mühe, den Lebendigen von seinem gemalten Ebenbild zu unterscheiden. Es verwunderte sie in höchstem Maß, daß weder die Baronin noch Riccardo Troyer die unheimliche Ähnlichkeit bemerkten, aber sie schwieg.

Es war kein Zaudern in ihr, kein Zurückbeben. Sie vertraute ihm grenzenlos. Sie war ihm gehorsam wie ein Kind. Sie riß sich von allem los, was sie kettete, von Menschen und von Dingen. Nachdem es beschlossen war, daß sie mit ihm ins Ausland reisen würde, besuchte sie zum letzten Mal den Fürsten. Daß die Freunde sich bei Lamberg aufhielten, war ihr bekannt. Sie durfte nicht reden, sich von den Genossen ihrer früheren Jahre nicht verabschieden. Sie begriff das Verbot nicht, aber sie fügte sich; nur forderte und gab sie, in einer ersten trüben Ahnung, das Gelöbnis eines Zusammentreffens, und das Jahr, das sie als Frist setzte, erschien ihr in jener Stunde von dunklen Schicksalen zum voraus beschwert.

In die Stadt zurückgekommen, löste sie ihren Haushalt auf. Was sie an Schmuck und barem Geld besaß, gab sie Riccardo. Sie wollte ihre Jungfer mitnehmen, ein Mädchen, das ihr seit langem sehr ergeben war, doch Riccardo engagierte, ohne sie zu fragen, eine andere, eine Italienerin und schickte die Erprobte fort. Er erstaunte bei diesem Anlaß über Franziskas Willfährigkeit, ja, ihre unbedingte Hingebung machte ihn stutzig. Man ist fester an eine Sklavin gefesselt als an eine Geliebte. Sie zu ernüchtern, fand er schwieriger, als er geglaubt, trotzdem er Übung darin besaß, Frauen, die sich weggeworfen hatten, wegzuwerfen. Er war kein Taschendieb, kein Hotelschwindler, kein Einbrecher, kein Falschspieler; sein Betrügertum war von höherer Schule. Seit zwanzig Jahren zog er als Rattenfänger durch die Städte. Er hatte seine Agenten, seine Herolde, seine bezahlten Spione, seine Helfershelfer, Kuppler und Kupplerinnen von den untersten bis in die obersten Schichten der Gesellschaft. Seine Beziehungen waren in der Tat so weitgreifend wie die eines Mannes der großen Politik, und meisterhaft war seine Geschicklichkeit, sie einerseits auszunützen, andererseits zu verbergen. Er war fein und verschlagen, seine Menschenkenntnis war das Resultat der Notwehr, seine Bildung etwa die eines internationalen Literaten. Er betörte durch eine vornehme und hintergründige Schweigsamkeit, durch blendende Einfälle, durch eine edelgehaltene Melancholie. Was er trieb, war Raub, Plünderung, Seelenmord auf Grund einer Faszination, die ihn der Verantwortlichkeit enthob und gegen die kein Paragraph des Gesetzes anwendbar war, da sie das Opfer in eine Schuldige und den Verbrecher beinahe in einen Helden verwandelte. Sein Metier forderte von ihm nichts, als daß er sich bewahrte, und so sah er trotz seiner fünfzig Jahre wie ein Mann von dreißig aus, ja bisweilen wie ein Jüngling, der in stürmischen Erlebnissen gereift ist.

Franziska wußte nichts von seinen Geschäften und Unternehmungen, nichts von seinem Charakter, nichts von seinem Leben, nicht, woher er stammte. Der, den sie liebte, war in ihrem Innern, war ihr Werk, ihr Geschöpf. An ihm zu zweifeln, war sinnlos. Sie erlag einem aus Ermattung und übersinnlichem Durst gemengten Zustand; sie folgte einer Fata morgana des Herzens. Die Lust jedes Herzens ist Aufschwung. Einmal in jedem Dasein erreicht das Herz seinen Gipfel. Ihres, von gleichmäßigen Freuden eingeschläfert, war auf natürlichem Wege nicht in die Sphäre der großen Leidenschaft gehoben worden, und so hatte es der geknebelte Dämon, rasch ehe der Tod der Jugend ihn ohnmächtig werden ließ, durch Bezauberung getan. Der Sturz war gräßlich.

Riccardo Troyer, zu scharfsinnig, um nicht zu gewahren, daß keine seiner Künste ihm irgend welchen Vorschub bei ihr geleistet hatte, zerbrach sich den Kopf über die Gründe ihrer tiefen Entflammung. Nicht immer war es so leicht gewesen zu täuschen, desto leichter stets, die Komödie zu enden, eine Verstrickte, Bereuende, Entwurzelte und nun Hilflose preiszugeben und, mit der Beute beladen, ein andres Jagdrevier zu suchen. Mit Franziska lag der Fall umgekehrt. Sie betrachtete ihn manchmal mit Blicken, als ob sie sich an einen wende, der hinter ihm stand. Unwillkürlich suchte er, unwillkürlich schaute er zurück, in die Luft. Es war das Merkwürdigste und Aufrüttelndste, was ihm je begegnet war. Franziska fühlte, daß ihn sein Gleichmut verließ. Der Nebel vor ihren Augen zerstreute sich, es kam ein quälendes Besinnen und Verwundern: bin ich es? Wer ist er? Sie wollte nicht geirrt haben. Mit beklagenswerter Hartnäckigkeit überredete sie sich, daß ein Irrtum unmöglich sei, und sie gedachte des Bildnisses wie einer sicheren Verheißung; es wurde heller, glühender, wirkender in der Erinnerung, sie klammerte sich daran als an den letzten Halt, die letzte Gewähr, und keine List, keine Schmeichelei, keine Drohung Riccardos konnte ihr das Geheimnis entreißen.

Sein Argwohn wurde gleichsam materieller. Die Geduld, die sie ihm entgegensetzte, erbitterte ihn. Er ertrug ihre Verschlossenheit nicht. Ihre gegen den Unsichtbaren gerichteten Augen weckten in ihm das böse Gewissen. Um jeden Preis wollte er erfahren, was es damit für eine Bewandnis hatte. Auch ihre Körper- und Atemnähe beruhigte ihn nicht, auch die ließ ihn spüren, daß er nur Gefäß war, nur Hülle, Phantom. Der Betrüger fühlte sich betrogen, der Dieb bestohlen. Nicht eher wollte er sie von seiner Seite lassen, als bis sie ihn erkannt, wie er wirklich war, bis er den Vorhang zerrissen hatte, der zwischen ihnen hing. Schaudernd sah Franziska, daß er in diesem Bestreben tiefer sank als er zu sinken wähnte, unter sich selbst hinab, daß sie es war, die ihn dazu trieb, und ihre Verzweiflung war namenlos. Er wurde roh; er wurde pöbelhaft. Ich habe verspielt, sagte sich Franziska, und in Neapel war es, als sie ihren Entschluß kundgab, sich von ihm zu trennen. Seine grünen Augen erloschen für einen Moment. Es ist gut, antwortete er und ging. Am selben Abend teilte er ihr mit, daß ihn ein Telegramm nach Turin gerufen habe, sie möge die Ausführung ihres Vorsatzes bis zu seiner Rückkehr verschieben. Von Scham und Mutlosigkeit ohnehin benommen, willigte Franziska ein. Riccardo übergab ihr eine Kassette zur Aufbewahrung, die mit den herrlichsten Diamanten gefüllt war. Als er nach drei Tagen wiederkam, ersuchte sie ihn, er möge sie von den Juwelen befreien, deren Behütung ihr drückend sei. Da sie es forderte, begleitete er sie ins Nebenzimmer, sie sperrte den Schrank auf und griff nach der Kassette. Die Sinne vergingen ihr; das Kästchen war so leicht, daß sie sofort wußte, es war seines Inhalts beraubt. Was war das? was war geschehen? wie war es möglich? sie hatte die Wohnung nicht verlassen. An allen Gliedern zitternd überreichte sie ihm die Kassette. Riccardo blickte sie mit großen, starren Augen an, deren Brauen immer höher wurden. Er prüfte das Schloß und die Scharniere, er zog ein Schlüsselchen aus der Tasche und öffnete den Ebenholzdeckel; die Diamanten waren verschwunden. Franziska preßte die Hände vor die Brust und lehnte sich wortlos gegen die Wand. Indessen begab sich Riccardo leise pfeifend ins andere Zimmer. Als sie ihm folgte, saß er wie vernichtet in einem Sessel. Sie eilte ans Telephon, da sprang er auf und packte ihren Arm. „Man muß die Polizei benachrichtigen“, stammelte sie. Er lachte ihr ins Gesicht. Seine Augen durchbohrten sie. „Hältst du mich für gewillt, meinen Namen durch die Zeitungen schleifen zu lassen?“ fragte er höhnisch; und wenn ich mich dazu entschließen könnte, denkst du, daß der Ruf in die Öffentlichkeit mir zu meinem Gut verhälfe? Gibt es einen Weg, so bin ich Manns genug, ihn zu finden. Immerhin steht die Sache so“, fuhr er kalt fort, „daß der Wert der gestohlenen Edelsteine den Wert deines mir anvertrauten Vermögens um das Zehnfache übersteigt; es handelt sich um eine Millionensumme. Ich bin ruiniert. Wundere dich also nicht, wenn ich dir erkläre, daß du mir mit deiner Person haftest, und so lange haftest, bis die Juwelen wieder in meinem Besitze sind.“ Franziska hörte den zerschmetternden Verdacht aus diesen Worten; sie entgegnete nichts; die Erstarrung ihres Herzens verhinderte sie am Weinen. Ehe der Tag zu Ende ging, hatte Riccardo alle Vorbereitungen zur Abreise getroffen, und in der Nacht befanden sie sich an Bord eines Schiffes, das nach Marseille fuhr.

Jetzt kam Schlag auf Schlag. Sie wohnten in einem Haus außerhalb der Stadt, in dem es bei Tage friedlich herging, aber in der Nacht kamen Herren aus der Stadt und blieben bis zum Morgengrauen beim Glücksspiel. Riccardo mußte Anlaß haben, sich zu verbergen, denn er überschritt wochenlang die Schwelle nicht. Wenn die Sonne emporstieg, saß er allein und überzählte gleichmütig seinen Gewinnst. Oft vernahm Franziska in ihrem Gemach heiser streitende Stimmen, und um die Marter des Lauschens zu mindern, wühlte sie den Kopf in viele Kissen. Einmal lag ein junger Mensch, aus tiefer Wunde blutend, an der Gartenmauer, und sie sah, wie seine Genossen ihn zu einem Automobil trugen und mit ihm fortfuhren. Ein andermal hinkte Riccardo zur Tür herein und befahl ihr, daß sie sich seinen Freunden als Wirtin präsentiere. Sie weigerte sich. Er riß sie mit teuflischer Kraft vom Lager herunter und hob den Arm gegen sie. Sie lächelte todessüchtig vor sich hin. In diesem Augenblick war die Erkenntnis, daß die reinste, die feurigste Regung, die sie jemals empfunden, sie in den ekelsten Schmutz des Lebens gezerrt, bitterer als alles schon Ertragene. Sie widerstrebte nicht mehr. Sie tat ein prangendes Kleid an und ging mit leichenblassem Gesicht hinunter. Ihr Anblick machte die Wüstlinge stutzig. Madame ist krank, hieß es, und Riccardo raste, als sich alle Gäste nach und nach entfernten. Aus Rache führte er gemeine Frauenzimmer ins Haus und veranstaltete Orgien des Trunkes und der Ausschweifung, deren Zeugin zu sein er sie zwang. Eines Nachts verließen sie fluchtartig diese Hölle und wandten sich nach Paris. Er schleppte sie in verrufene Quartiere des Lasters. Sie mußte mit Menschen sprechen, deren bloße Nähe sie mit Grauen erfüllte. Er wußte, daß er ihr Blut vergiftete. Er wollte es. Er wollte sie in den Abgrund des Daseins hinunterstoßen. Er haßte sie, weil er sich nicht von ihr lösen konnte. Er genoß ihre Schwäche. Er weidete sich an ihrem Adel, wenn sie neben einer Dirne saß. Er liebte es, wenn sie bittend die Hände faltete. Schamlos genug, ihr all dies zu bekennen, maß er ihr auch die ganze Schuld daran bei. „Du bist wie eine, die in finsterer Kammer ihren Anbeter erwartet hat und dem, der kommt, überschwängliche Wonne spendet; sage mir, wen du erwartet hast, sag mir dies, und ich will aufhören, mich und dich zu quälen; sag mir, wen du erwartet hast, und ich gehe meiner Wege, denn es wurmt mich schon, daß du mich so nackt gemacht hast.“ So redete er zu ihr, sie aber schwieg. Je mehr er ihr von seiner Existenz verriet, je fester glaubte er sie halten, je grausamer erniedrigen zu müssen. Was hätte sie tun sollen, um ihre unwürdige und furchtbare Lage zu enden? Die Vergangenheit erschien ihr wie einem Verbrecher die makellose Jugend erscheint. Sie war eines Entschlusses nicht mehr fähig. Wohin sie griff, Schande; wohin sie blickte, Unrat. Vieler Menschen Geschick wird von ihrem bösen Dämon nur gestreift; einmal vielleicht, in einer Stunde der Besessenheit oder Gottverlassenheit erliegen sie dem Anti-Geist, dem Nachtmar ihrer Seele; sie aber, sie war mit ihm zusammengeschmiedet und ganz in seiner Gewalt.

Und auch deshalb schwieg sie, weil noch weit hinten das Auge leuchtete, das sie verlockt, das Antlitz, das sie beglückt. Gab sie das Geheimnis preis, so war sie selbst leer wie die Kassette, aus der die Edelsteine verschwunden waren, so war jenes besudelt und wurde zur Lüge. Es geschah aber, daß sie im Schlummer davon sprach. Riccardo erlauschte es. Mysteriöse Eifersucht tobte in seiner Brust. Es war als wollte er sie auseinanderreißen, um es zu erfahren. Nacht für Nacht weckte er sie aus dem Schlaf und verlangte zu wissen. Sie befanden sich um diese Zeit nicht mehr in Paris, sie lebten in einer kleinen Villa an der bretonischen Küste, in der Nähe einer Hafenstadt. Und einmal fuhr er mit ihr in einem Boot auf dem Meer; es kam ein Sturm, sie wurden abgetrieben, sie schienen verloren. Die Wolken lasteten beinah auf ihren Häuptern, der Gischt spritzte sie an, Riccardo hatte die Ruder ins Boot gezogen, seine durchnäßten Haare hingen über das Gesicht und schweigend heftete er den Blick auf Franziska. Den Tod vor Augen, dumpf und willenlos, sagte sie: „Es gibt ein Bild von dir, das ich gesehen habe, bevor ich dich selber sah; wenn du es sehen könntest, würdest du alles begreifen, mein Leben und vielleicht auch deines, und diese Stunde, und was bis zu dieser Stunde geschehen ist.“ Und mit kurzen Worten berichtete sie noch, wie und wo sie das Bild zuerst erblickt, und er hatte sich dicht zu ihr gebeugt, das Ohr an ihrem Mund, damit das Brüllen der Wogen nicht ihre Stimme verschlänge. Er schüttelte den Kopf und lachte spöttisch, dann griff er wieder zu dem Ruder und arbeitete mit Riesenkraft; sie wurden eines Fischerbootes ansichtig, näherten sich ihm langsam, die Fischer warfen ein Seil herüber, und nach unsäglichen Anstrengungen gelangten sie endlich in den Hafen.

Am andern Morgen war Riccardo fort. Die italienische Dienerin sagte, er sei abgereist. Franziska freute sich des Friedens nicht. Sie wandelte ohne Rast durch die Zimmer oder schaute von den Balkonen auf das Meer. Es kamen Personen, die ihren Namen nicht nannten und die Riccardo zu sprechen wünschten. Er hatte keine Aufträge gegeben. Die Dienerin, der Koch und der Gärtner verließen das Haus, denn Riccardo hatte ihnen gekündigt und sie nur bis zu einem nahen Termin bezahlt. Franziska war allein. Der Eigentümer der Villa schrieb ihr, daß sie das Haus nach Verlauf von drei Tagen räumen müsse. Sie wartete, aber sie wußte nicht worauf. Am letzten Abend betrat sie das Zimmer, in dem Riccardo gewohnt. Sie setzte sich an ein geschnitztes Tischchen und verfiel in schwermütige Gedanken. Sie hatte eine Kerze vor sich hingestellt, die brannte langsam nieder und verlosch mit leisem Zischen. Der Schlag der Wellen schallte durch die offenen Fenster, und es wetterleuchtete am Himmel. Sie entschlummerte. Sie war müde. Seit vielen Nächten hatte sie des Schlafes entbehrt.

War es denn ein Schlaf? Sie sah den Weg, den Riccardo genommen. Die Neugier, die ihn trieb, hatte etwas Geisterhaftes. Er war zu dem Bildnis geeilt. Er wollte das Bildnis in seinen Besitz bringen. Verkleidet ging er hin; sie sah ihn feilschen, hörte ihn lügen; man war froh, für das obskure Gemälde einen nennenswerten Preis zu erhalten, man wunderte sich über die Laune des Händlers. Dann stand er irgendwo vor einem Spiegel und daneben das Bild. Sie sah, wie er suchte, wie er grübelte, wie er förmlich hineinkroch in das fremde Antlitz, und wie sich seine Neugier in Spott verwandelte, und wie er hinübergrinste zum andern Pol der Welt, ins Auge des großen Liebenden, er, der große Dieb, den eine Verirrte um das eigene Ich bestohlen hatte.

Jetzt aber öffnete sich die Tür, und er trat ein. Trug er nicht das Gemälde? Stellte es auf das Tischchen und lehnte den Rahmen an die Mauer? Er zündete eine Lampe an. Sein totenbleiches Gesicht war triumphierend über sie geneigt. Sein Hauch umwehte sie, seine Hand umtastete sie, sie schlug die Augen auf. Sie sah sein Gesicht, sie sah es, wie es wirklich war. Es war alt, es trug die Spuren häßlicher Sorgen und allerlei Art von Angst und gemeiner Beflissenheit. Eine Kruste von Anmut und Geist, dahinter Täuschung, Betrug und Lüge; eine Grimasse von Leidenschaft; die reine Form zerstört, von niedrigen Gelüsten, wie verbrannt, wandelvoll im Schlechten, aufgerissen bis zu einer Tiefe, in der noch Schmerz um das verlorene Göttliche lag, kein Zug ähnlich jenem Bilde, fremd, erbarmungswürdig fremd. Ihr Kummer, ihr nachdenkliches Erstaunen wich einem Gefühl der Freiheit, das so lange umkrampfte Herz konnte sich wieder dehnen, die Kette fiel von den Gelenken, sie besaß sich wieder, sie preßte die Stirn in die Hände und konnte weinen. Und er blieb stumm wie einer, der gerichtet ist, der nicht mehr zu fragen braucht und der einen unabänderlichen Weg geht.

Es war kein Schlaf; sie hörte das hohle Aufstoßen seines Klumpfußes, als er sich entfernte, und später rollten draußen die Räder eines Wagens. Sie kauerte auf dem Teppich, und ihre Wange ruhte auf den gelösten Haaren. Es war kein Schlaf; die Lider öffnend, erblickte sie einen leeren goldenen Rahmen, der gegen die Mauer lehnte, und auf dem Boden das zerfetzte Porträt des schottischen Edelmanns. Sie nahm die vier Teile, legte sie zusammen und betrachtete sinnend das entseelte Bild. Es war Leinwand, mit Ölfarbe bemalt. Es glich einem Kleid, das einst von einem geliebten Toten getragen worden war.

Ein Bauer brachte ihr Gepäck zum Bahnhof. Sie hatte noch so viel Geld, um in die Schweiz reisen zu können. Ein einziges Schmuckstück von größerem Wert war ihr geblieben, ein Ring; diesen veräußerte sie in Genf, und lebte zwei Monate in einem Dorf am See. Als der Sommer und damit das schicksalsvolle Jahr zu Ende ging, erinnerte sie sich der Verabredung mit den Freunden. Es war, als stiegen aus einem Abgrund der Vergessenheit Gestalten aus einer früheren Existenz empor. Die Mittel zur Reise gewann sie durch den Verkauf einiger Toiletten.

Und so war sie gekommen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der goldene Spiegel