Kapitel 16 - Der Affe und der Spiegel.

„Diese Wendung: das Leben von vorn anfangen, habe ich selten mit so triftigem Grund gebrauchen hören“, sagte Cajetan, als Hadwiger geendet.

„Und wie wir wissen, kann er mit dem Erfolg zufrieden sein“, fügte Borsati hinzu, indem er einen langen milden Blick auf Hadwiger heftete.


„Wie kompliziert, wie vielfältig, wie unerschöpflich, wie reich, wie groß ist doch das menschliche Dasein!“ rief Cajetan ergriffen. „Ich fühle mich in einer Stimmung wie jener Bramarbas auf der Plassenburg. Man möchte sich manchmal wirklich zum Ertrinken tief hineinstürzen. Aber man muß schwimmen können, das seh ich wohl ein. Und eine umpanzerte Seele braucht man“.

„Eine umpanzerte Seele und ein unverschlossenes Herz“, sagte Lamberg ernst.

Hadwiger sah sie alle mit einem sonderbar glänzenden Blick an, als wolle er antworten: wißt ihr es denn? habt ihr es denn erfahren, ihr Reichen, Reichgeborenen, Verwöhnten, ihr, die ihr Zeit gehabt, Zeit und Raum, Freiheit und Bestimmungsrecht? Borsati erriet seinen Gedanken. „Es gibt auch eine mittelbare Art zu leben und zu erleben“, meinte er; „obschon sie nicht so zwingt, zum Entschluß nicht und zur Verwandlung nicht, ist sie oft doch viel schmerzlicher, – dem unverschlossenen Herzen nämlich, das dann so belastet, so verwundet, so zerrissen sich findet, so zerteilt in die wechselnden Lose, daß es nicht einmal zu einer Tat der Selbstbewahrung mehr die Kraft hat. Das heißt mit gefesselten Gliedern dem Moloch überliefert werden.“

„Und ist Ihnen diese Stunde nicht wie ein Märchen?“ wendete sich Fürst Siegmund an Hadwiger, „ist es nicht wunderbar, daß Sie hier, von einer freundlicheren Natur umgeben, wieder unter Freunden weilen, denen Sie zum erstenmal von jenen außerordentlichen und weittragenden Begebenheiten erzählen? Ich täusche mich vielleicht, oder ich kann meiner Empfindung nicht den rechten Ausdruck verleihen, aber für mich hat dies etwas von einer Spiegelung, etwas, das sinn- und bedeutungsvoller ist, als Sie selbst im Augenblick denken. Das Wort ist nicht immer bloß ein gesagtes Ding, es wird auch bisweilen zum Symbol der Erkenntnis und Erhöhung.“

„Sie haben Recht, Fürst“, versetzte Cajetan, „und das ist auch weitaus das Schönste, was man darüber sagen kann.“

„Und das Schönste, was man dafür tun kann“, ließ sich jetzt Franziska hören, die bis zu diesem Moment ganz verloren vor sich hingeschaut, „ist, daß wir ihm den goldenen Spiegel geben“.

„Ein Vorschlag, der keinem Widerspruch begegnen wird“, erwiderte Lamberg lächelnd und quittierte mit einer reizend chevaleresken Geberde die stumme Zustimmung Cajetans und Borsatis. Hadwiger stand auf, errötend wie ein Schuljunge. „Bleiben Sie nur sitzen, Heinrich“, fuhr Georg Vinzenz ermahnend fort, „wir lassen uns einen solchen Anlaß zur Feierlichkeit nicht entgehen, und Sie müssen warten, bis Ihnen die Trophäe mit den gebührenden Zeremonien überreicht wird.“

„Vortrefflich“, lachte der Fürst, „da bekommen wir am Ende gar noch eine Rede zu hören“.

„Wir sind dem Spiegel zu vielem Dank verpflichtet“, fuhr Lamberg fort; „wer von uns kann ihn von nun ab in die Hand nehmen, ohne eine Fülle von Gesichten und Gestalten in ihm zu erblicken? Seine Scheibe, wie tief und wie seltsam! gibt kein Gegenbild des Auges, das hineinschaut. Sie ist matt. Und doch ist eine Welt in ihr. Frauen und Männer, Tiere, Schiffe und Häuser, Seefahrer und Landflüchtige, Ritter und Knechte, Bürger und Bauern, Eroberer und Künstler, Liebende und Verbrecher, Sonderlinge und Besessene, Verzweifelte und Narren, Prahler und Dulder, der Zufall, der Traum und das Wunder, alles das ist in ihr. Keiner von uns, die wir dies Gewebe von Schicksalen gesponnen haben, war bemüht, den Partner zu übertreffen, ja, nicht einmal von einem Wetteifer war die Rede. Es war kein Werben, es war ein Verschenken. Und wir sprechen Ihnen, Heinrich, den Spiegel zu, weil Sie am meisten geschenkt haben, aus Ihrem eigenen Innern geschenkt. Das wollte ich noch sagen, und damit ist auch mein Bedürfnis nach Feierlichkeit im Grunde schon befriedigt.“

Cajetan und der Fürst klatschten Beifall, Hadwiger blieb mit gesenktem Kopf stehen. Lamberg schritt zur Türe und drückte auf den elektrischen Knopf, um von Emil den Spiegel heraufholen zu lassen. Der Fürst verabschiedete sich indessen von Franziska. Sie sprachen mit leiser Stimme. Da der Diener nicht kam, läutete Lamberg noch einmal, und als auch dies vergeblich war, öffnete er ungehalten die Türe, um zu rufen. Nun erschien an Emils Statt die Köchin und teilte ihrem Herrn ziemlich erregt mit, der Affe sei entflohen und Emil verfolge ihn. „Entflohen? es ist ja Nacht“, erwiderte Lamberg und begann die verwirrte Person auszuforschen. Es stellte sich heraus, daß Quäcola schon am Nachmittag, um die Zeit, da der Fürst gekommen, den goldenen Spiegel aus dem Speisezimmer entwendet hatte und damit verschwunden war. Emil sei sehr aufgebracht gewesen und habe das Tier im ganzen Haus gesucht, in allen Zimmern, im Keller, auf dem Dachboden, zwei Stunden lang und ohne eine Spur von ihm zu finden. Schließlich sei er auf den Balkon hinausgetreten, und da sei nun Quäcola in einem Winkel ganz zusammengekauert unterm Efeu gesessen, mit einem Radmantel bedeckt, den er ebenfalls gestohlen, und den Spiegel in der Pfote. Emil habe versucht, ihm den Raub zu entreißen, doch der Affe habe ihn bösartig angeknurrt und sich überhaupt so betragen, daß man sich habe fürchten müssen. Da habe Emil die Peitsche geholt und habe die widerspenstige Bestie geschlagen. Quäcola habe wütend gefaucht, sich über das Geländer geschwungen, sei an dem Baumstamm vor dem Haus hinabgeklettert und gegen den Wald hinauf gerannt. Und Emil sei nun hinter ihm her.

„Jetzt? in der Finsternis? im Wald?“ fragte Lamberg erstaunt. Die Freunde, Franziska und der Fürst hatten dem Bericht mit Neugier und Verwunderung gelauscht. Man hielt Rat, was zu tun sei, und Lamberg meinte, es sei das Beste, wenn er selbst gehe, um den Flüchtling heimzulocken, dieser idiotische Emil habe nicht so viel Grütze im Kopf, um ein unschuldiges Tier harmlos zu fassen. Die andern erklärten sich bereit, ihm beizustehen. Fürst Siegmund äußerte lächelnd sein Bedauern über den Zwischenfall; er fragte, ob er Leute herüberschicken solle, die mit Fackeln den Wald absuchen könnten; Lamberg dankte und antwortete, er hoffe, daß Quäcola den Aufenthalt unter den feuchten Bäumen von selbst unbehaglich finden und zum Gehorsam zurückkehren werde. Voll Herzlichkeit drückte der Fürst allen die Hand und ging.

Mit Laternen versehen, machten sich Lamberg und die drei Freunde auf den Weg. Als sie sich fünfzig Schritte oberhalb der Villa befanden, kam ihnen Emil aus dem dunkeln Forst entgegen. Er war ohne Hut oder Mütze und keuchte erschöpft. In der Hand trug er eine Fuhrmannspeitsche, deren Schnur an den Stiel gebunden war, augenscheinlich zu dem Zweck, um sie als Lasso benutzen zu können. Lamberg hob die Laterne gegen das Gesicht des Dieners, und er sah, daß es voller Blut war; Zweige und Buschwerk hatten ihm die Haut zerrissen. „Sie haben das Tier nicht gefunden?“ fragte Lamberg. Der unglückliche Mensch konnte nicht reden, er zuckte verzweifelt die Achseln. „Und Sie wissen genau, daß Quäcola den Spiegel bei sich gehabt hatte, als er entwischte?“ Emil nickte. „Das ist es ja eben“, stammelte er, „das ist ja die Niedertracht; er wollte mich in Schuld bringen, er wollte mich dem gnädigen Herrn verhaßt machen. Die Herren müssen das begreifen“, wandte er sich aufgeregt und fast schreiend an die Freunde, „der Schabernak war auf mich gemünzt, mich wollte das Vieh verderben ...“

„Bis wohin haben Sie ihn verfolgt?“ unterbrach Lamberg mit Unwillen den sich ausbreitenden Redeschwall.

„Bis an die Trisselwand hinüber“, erwiderte der Diener zaghaft.

„So weit?“ rief Cajetan betroffen; „dann ist unsere nächtliche Unternehmung aussichtslos. Warten wir den morgigen Tag ab.“

Trotzdem Lamberg das Vergebliche der Nachforschung zugab, wollte er noch einen Gang in den Wald tun. Er rief den Namen Quäcola hundertmal, und ein sanftes Echo antwortete ihm aus der Einsamkeit des Gebirges. Auch pfiff er, wie er gewohnt war, wenn er den Affen zur Gesellschaft zu haben wünschte. Nach einer halben Stunde kehrte er enttäuscht um und löschte am Waldrand die Laterne, da inzwischen der Mond aufgestiegen war. Sehr verspätet nahmen die Villenbewohner das Abendessen und es wurde nur wenig gesprochen. Lamberg war verstimmt, Franziska müde, die andern überließen sich ihren Betrachtungen. Der Diener hatte sich zu Bett begeben müssen; bei der Jagd im nassen Wald hatte er sich erkältet, und ein Fieberfrost schüttelte den armen Affenhasser.

Am andern Morgen, nach weitläufigem Marsch über Waldpfade und Felsensteige entdeckten die Freunde den Affen. Er lag am Ufer des Sees, der Unterkörper im Wasser, der braunbehaarte Kopf zerschmettert auf einem Stein. Die Situation erlaubte keinen Zweifel darüber, daß er sich oben in den Felsen verirrt und an der überhängenden Wand herabgestürzt war. Lamberg setzte sich an die Seite des Leichnams und sagte: „Schaut doch nur sein verzogenes Gesicht an, da ist irgend ein menschlicher Kummer drinnen und eine menschliche Angst. Bedauernswerter Quäcola! Auch du hast unter der Dummheit leiden müssen, auch aus dir hat sie einen Märtyrer gemacht. Deine roten Höschen und dein blauer Frack sehen närrischer aus als du selber warst; du warst ein Sokrates unter den Affen, und wer weiß, was für erhabene Regungen deine Schimpansen-Seele beherbergt hat.“

Borsati und Cajetan lächelten, Hadwiger schüttelte verwundert den Kopf.

Der goldene Spiegel war und blieb verloren. Lamberg ließ die ganze Gegend durch Scharen von Bauernkindern absuchen, doch ohne Erfolg. Es mußte angenommen werden, daß während seines Sturzes dem Affen der Spiegel entglitten und in den See gefallen war, der an dieser Uferstelle sich zu einer steilen Tiefe senkte. So wurde die schöne Kostbarkeit dem Bestand menschlicher Schätze für immer geraubt.

Hadwiger und Franziska reisten noch an demselben Abend in die Stadt zurück, Cajetan und Borsati erst zwei Tage darnach.

Es steht ein kleines Landhaus in einem Garten, der zwischen Weinbergen sein herbstliches Laub aufflammen läßt. Es ist ein später Nachmittag, und die Hügel flimmern im nebligen Sonnenlicht. Aus dem Hause tönt eine leidenschaftlich klagende Mazurka von Chopin; am Gitter lehnen zwei lauschende Menschen, ein Mann und eine Frau, die einander die Hand gegeben haben. Und drinnen im halbdunklen Gemach liegt Franziska; Hadwiger, das Gesicht in die Dämmerung des Raums gewandt, blickt vom umleuchteten Fenster aus nach ihr hin. Sie muß sterben, die Liebreizende. Er weiß es. Ihm ist, als hätte sie stets vergeblich auf ihn gewartet und er vergeblich sie zu erreichen gestrebt. Vorüber, ach vorüber! Sie aber empfindet die Stunde voll, nicht nur wegen der Musik, die aus dem Nachbarzimmer klingt, – es ist, wie wenn ein Namenloser sie spielte, – sondern auch wegen der Musik, die harmonisch ihrem Innern entquillt. Denn es ist ihr bewußt, daß sie ihr Leben in Wahrheit zu Ende gelebt hat; so bis an den letzten Rand, daß es nur eines leichten Hinüberbeugens bedarf, und das Herz hört auf zu schlagen gleich einer Uhr, die nicht mehr tickt, weil die Ewigkeit beginnt. Auch ist ihr bewußt, daß manche trauern werden, denen sie viel gewesen ist, und einige weinen werden, die sie geliebt haben.

_Ende_

Begonnen: April 1907
Beendet: Mai 1911

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der goldene Spiegel