Kapitel 13 - Die Geschichte des Grafen Erdmann Promnitz.

Als der große Friedrich von Preußen zum erstenmal um Schlesien stritt, blühte dortselbst noch das alte und angesehene Geschlecht derer von Promnitz. Seit jenem Balthasar Promnitz, dem Fürstbischof von Breslau, der außer Pleß, der größten schlesischen Standesherrschaft, auch Sorau und Triebel in der Niederlausitz erworben hatte, gehörte die Familie zum höchstbegüterten Adel des Landes, und späterhin, als sie schon ein Haupthort des Protestantismus war, besaß sie auch Peterswalde, Kreppelhof, Drehna und Wetschau, lauter große Gemarkungen mit umfangreichem Ackerland und ausgedehnten Wäldern.

Graf Erdmann, der letzte Sproß der Promnitze, galt als Kind für einen ausgemachten Tölpel. Zu Sorau, wo sein Vater, der sächsische Kabinettsminister, einen förmlichen Hof hielt mit Jagdpagen, Kammerhusaren, Zwergen und einer Leibgarde von hundert bärenmützigen Riesen, gab er die denkbar schlechteste Figur ab. Er war mißtrauisch, verstockt, gefräßig und faul. Wegen seiner Streitsucht hielt es kein Spielgenosse bei ihm aus.


Eines schönen Tages machte er in Begleitung des Hoffräuleins Collobella und seines herrnhutischen Erziehers von Wrech einen Ausflug nach dem ländlichen und entlegenen Peterswalde. Die Collobella war eine immer noch muntere Italienerin, die der regierende Graf vor dreißig Jahren aus Florenz mitgebracht hatte und die aus Liebe zur Familie Promnitz evangelisch geworden war. Ihr war das heimliche und heimtückische Gemüt des Knaben ein Greuel, und sie ging ihm bei jeder Gelegenheit mit Vorwürfen und entrüsteten Predigten zu Leibe. Währenddem starrte der zwölfjährige Erdmann böse in einen Winkel, und so oft die Collobella einen ihrer frivolen Witze losließ, zuckte er zusammen wie ein Fisch, wenn man mit dem Stock ins Wasser fährt. Aus den gröberen Redensarten machte er sich wenig, und wenn sie ihm ein schlimmes Ende prophezeite, lachte er ihr ins Gesicht. Was Herrn von Wrech anbelangt, so huldigte er wohl äußerlich den Grundsätzen seiner Sekte, doch trug er das Herrnhuter Gewand mit der unverpflichtenden Sachlichkeit, mit der etwa Monsieur de Rohan den römischen Kardinalshut trug. Eigentlich war er ein Genüßling und erwartete sehnsüchtig den Tag, wo er mit seinem Zögling die übliche europäische Tournee antreten durfte.

In einem Seitenflügel des Peterswalder Schlosses befand sich eine kleine Kapelle. Indes die Italienerin und Herr von Wrech Siesta hielten, streunte Erdmann durch die verödeten und vernachlässigten Räume und gelangte schließlich in jenes Kapellchen, in dem ein Bild, welches über dem Altar hing, seine Aufmerksamkeit fesselte. Es war kaum darnach angetan, kirchliche Empfindungen zu wecken; wahrscheinlich hatte ein übereifriger Verwalter es aus einem der Säle hierherbringen lassen. Es stellte Adam und Eva vor dem Sündenfall dar, beide natürlich splitternackt, das Weib mächtig dick, den Apfel hinhaltend, und Adam halb weggewendet, als lausche er, zwischen beiden die Schlange, die sich vom Baum herunterringelte, und hinter dem grünen Wipfel ein kobaltblauer Himmel. Es war keine üble Arbeit und mochte die Kopie nach dem guten Werk eines süddeutschen Meisters sein.

Graf Erdmann ward davon anders getroffen als ein gewöhnlicher und harmloser Beschauer. Zunächst schämte er sich vor der unanständigen Nacktheit der beiden Personagen derart, daß ihm der Schweiß bei den Haarwurzeln herausbrach. Nachdem sich sein Auge daran gewöhnt hatte, kam es wie eine Erleuchtung über ihn. Mit finsterem Triumph schaute er in das Gesicht der Eva und auf den Apfel in ihrer Hand, und er sagte zu sich selber: von daher stammt also das ganze Elend; deswegen ist mir so schnöde zumut in dieser schuldbeladenen Welt; deswegen hab’ ich immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich eine reichliche Mahlzeit verzehrt habe. Ich merke schon, worauf das hinauswill mit den Zweien, dachte er voll Haß; dieses fette Frauenzimmer will das einfältige Mannsbild beschwatzen; jetzt begreif ich erst, was die Bibel meint, jetzt weiß ich, was das ist: der Sündenfall. Was bist du für ein Narr und Dummkopf gewesen, du Menschenvater Adam!

Diese letzten Worte rief er ziemlich laut vor sich hin. Da erschallte ein klirrendes Spottgelächter hinter ihm. Es war die Collobella. Wütend schritt er auf sie zu und fuhr sie an: „Geht nur allein zurück nach Sorau, ihr beiden, ich will hier auf Peterswalde bleiben. Ich mag das Luderleben nicht mehr mit ansehen, daß man dorten führt. Meine Mutter ist unglücklich, das weiß ich längst; längst weiß ich, daß mein Vater sie mit Huren betrügt. Mein Vater hätte mich nicht auf die Welt setzen sollen, denn was ich von dieser Welt erfahre, ekelt mich an. Insonderheit die Weiber ekeln mich an, drum fort mit dir, du welscher Haubenstock.“

Die Dame Collobella lief schreiend davon und holte Herrn von Wrech zur Hilfe herbei. Aber Erdmann war schon wieder in seine Schweigsamkeit versunken. Nur weigerte er sich heharrlich, Peterswalde zu verlassen. Der Herrnhuter verbarg seinen Ärger. Potz Wetter überlegte er im Stillen, wenn mich der idiotische Teufel hier festhält, so gibts ein Leben, wogegen das des heiligen Antonius eine babylonische Orgie war. Und er beschloß, der Sache von innen her beizukommen.

Dem Grafen Promnitz fiel ein Stein vom Herzen, als er vernahm, sein unfroher Sprößling wolle nicht mehr an den Hof zurück. „Laßt nur den Hamster“, sagte er zur Collobella, „der wird schon wieder nach unserer besetzten Tafel jappen.“ Darin täuschte sich der Graf. Junker Erdmann kam nicht mehr nach Sorau, und seine Mutter mußte zu ihm fahren, wenn sie ihn sehen wollte. Allmählich wandelte die Gräfin auch ihre eigenen, nicht sehr erbaulichen Wege. Junker Erdmann erfuhr dies in ungeschminkter Weise durch Herrn von Zech, einen Emporkömmling, der es vom Schreiber zum geheimen Rat gebracht hatte und jeden Monat einmal in Peterswalde erschien, um die Wirtschaftsbücher zu inspizieren. Er schweifwedelte vor dem Vater und speichelleckte vor dem Sohn, weshalb ein Witzbold von ihm bemerkte, er hätte beständig hinten und vorne zu tun, und obwohl er sich mit dem herrnhutischen Präzeptor nicht vertrug, erlitt dieser die Unbill, daß am Sorauer Hof das Verslein in Umlauf gebracht wurde: Herr von Wrech und Herr von Zech schmarotzen all zwo beim Junker Pech. Junker Pech war der Spottname für Erdmann, erstlich wegen der schwarzen Kleidung, die er zu tragen pflegte, und dann wegen seines schwarzen Geistes.

Der gute Wrech hörte allmählich auf, den Junker für blöde zu nehmen, da in diesem eckigen Schädel im Verfluß der Jahre ein paar Augen erwachten, welche die Glut eines Jakobiners und die Melancholie einer Nonne enthielten. Er ließ sich mit ihm in profunde theologische Disputationen ein, bemühte sich aber unter dem Mantel einer scheinheiligen Duldung, ihm die Welt lecker zu machen.

Umsonst; der einsiedlerische Jüngling fürchtete die Fallstricke des Lasters. Nach seiner Meinung konnte die einzelne Kreatur keines Glückes teilhaftig werden, da sie von Adam und Evas Zeit an verdammt war, dürfe auch das Glück garnicht genießen, weil sie damit die Leiden der Andern genau um jene Summe vermehrte, der sie sich freventlich entzog. Eine so rabulistische Sünden-Arithmetik verdroß den Herrnhuter, und er berief sich auf das Erlösungswerk Jesu Christi. Da aber fuhr er schlecht; der Junker bewies ihm haarklein, daß das Sündenregister der Menschheit seit siebzehnhundertsoundsoviel Jahren dermaßen in die Länge gewachsen sei, daß eine demnächst zu erwartende Abrechnung nur mit einem allgemeinen Untergang enden könne. Herr von Wrech ließ sich nicht beirren; halb näselnd, halb singend rezitierte er das Lied Numero eintausendundachtzehn:

„Wenn es sollt der Welt nach gehn,
blieb kein Christ auf Erden stehn,
Alles würd’ von ihr verderbt,
was das Lamm am Kreuz vererbt.

Doch weil Jesus bleibt der Herr,
wird es täglich herrlicher,

Weil der Herr zur Rechten sitzt,
ist die Sache auch beschützt.“

Damit brach er listig ab; jedoch Junker Erdmann fügte triumphierend den Schluß hinzu:

„Aber wenn sie diesen Mann
erst herabgerissen han,
Dann wirds bös mit uns aussehn,
übel wird es mit uns gehn.“

Es war ein ergötzlicher Anblick, wie die beiden sich rauften, der glatte Epikuräer, der sich nur gerade soviel hinter der Frömmigkeit verschanzte, daß seine heimliche Verräterei nicht zu merken war, und der plumpe Jüngling mit dem dünngespaltenen Mund und dem zurücktretenden Profil eines traurigen Schafes.

Graf Erdmann hatte einen Farbenkasten, und in müßigen Stunden beschäftigte er sich mit Malereien. Immer lief es darauf hinaus, daß er eine Eva malte; diese Eva trug ein züchtiges Gewand; sie streckte den Arm lüstern nach den Äpfeln aus, die an den Zweigen eines Baumes hingen, und eine giftgrüne Schlange züngelte gegen das von sträflichen Begierden erfüllte Weib.

Nun ereignete sich in der Familie Promnitz ein Vorfall, der darnach angetan war, das Gemüt des jungen Grafen, der jetzt zwanzig Jahre alt geworden war, vollends zu verdüstern. Die Gräfin Callenberg, seine Tante, eine sechzigjährige Messalina, die die Gesellschaft der Mannsleute noch immer nicht entbehren mochte, weil sie bei ihnen mehr Gründliches fand, wie sie sagte, als bei Personen ihres Geschlechts, hatte ihren letzten Liebhaber, einen Franzosen namens Lefevre, aus gemeiner Eifersucht bei Wasser und Brot in einem Verließ ihres Schlosses eingemauert. Preußische Soldaten entdeckten ihn verhungert, mit langem Bart und irrsinnig; er starb wenige Tage nach seiner Befreiung. Die entrüsteten Untertanen der Gräfin überfielen sie im Bett, banden sie mit Stricken, warfen sie auf einen Leiterwagen und brachten sie nach Neiße, wo sie vor Verdruß und Zorn alsbald der Schlag rührte.

Graf Erdmann verfiel bei der Kunde des Geschehnisses in solche Trübsal, daß Herr von Wrech um seine Gesundheit besorgt wurde; dazu kam, daß auch seine Mutter um jene Zeit aus Herzenskummer starb. Herr von Wrech konnte es nicht mehr mit ansehen, wenn der Jüngling jeden Morgen und jeden Abend auf die Knie stürzte und in tiefer Schwermut ausrief: „O Gott, laß mich ohne Schuld! bewahre mich vor Sündenschuld! Ersticke meine Gelüste und gib mir Frieden!“ Herr von Wrech machte sich auf und gab dem gräflichen Vater zu verstehen, daß er seinen Sohn auf Reisen senden müsse, wenn er ihn vor verderblicher Geistesfäulnis zu bewahren wünsche. Der Graf war’s zufrieden und befahl, daß Erdmann in Begleitung des Herrnhuters nach Paris aufbrechen solle. Dagegen war kein Widerpart möglich. Graf Erdmann fügte sich mit unerwarteter Sanftmut. „Ich will doch sehen“, sagte er, „ob eure große Welt wirklich so groß ist. Es soll nicht heißen, daß ein Promnitz hinterm Ofen sitzen bleibt, weil er sich klüger dünkt als die Weitgereisten. Mich gelüstet nach einem andern Himmel, denn unserer drückt mir den Kopf wie das Dach einer Köhlerhütte und nach andern Menschen, denn unsere sind mir so wohlbekannt, wie die Verba auf mi. Aber ich fürchte, lieber Wrech, die Welt hat früher ein Ende, als ihr alle glaubt, wennschon es weit ist bis zu den Mongolen. Gefangen sind wir, und können nicht aus noch ein.“

Herr von Wrech war entzückt über die Aussicht, so bald nach dem galanten Paris reisen zu dürfen. „Ihr seid ein genialischer Kopf, Junker“, antwortete er; „entweder werdet ihr ein großer General wie Prinz Eugen, oder ihr sterbt philosophisch wie Diogenes in einem Faß.“

Drei Wochen später befand sich der Graf mit seinem Erzieher und Reisemarschall in dem Seinebabel, wie man sich damals ausdrückte, und wo es allerwegen hoch herging mit Maskenbällen, Assembleen, Glücksspielen, königlichen Levers, Spazierfahrten, Jagden und amorosen Abenteuern. Erdmann beschaute sich das glänzende Getriebe; er gab mit Anstand sein Geld aus und wußte Rede zu stehen. Doch benahm er sich oft recht sonderbar, und sein Wesen erregte die Spottlust der französischen Herren und Damen. Eines Tages wurde ein italienisches Ehepaar namens Concini, das der Spionage überführt und vom Gericht zum Tod verurteilt worden war, auf dem Greveplatz hingerichtet. Sie hatten einen dreizehnjährigen Sohn, der gut gestaltet war, einen liebenswürdigen Charakter besaß und trotz seiner Jugend als ausgezeichneter Tänzer auf dem Theater Furore gemacht hatte. Ich bin auf der Welt, um für den Übermut meines Vaters zu büßen, sagte der arme Knabe zu denen, die ihn ermahnten, seine schreckliche Lage in Geduld zu tragen. Dieses Wort kam dem Grafen Erdmann zu Ohren, und da er hörte, daß der Knabe den Tag der Hinrichtung seiner Eltern bei Frau von Hautfort verbringen würde, ließ er sich bei der Dame einführen und erschien gerade, als man dem Knaben Hut und Mantel abnahm und ihm zu essen und zu trinken bot. Nach kurzer Weile trat eine Prinzessin vom Hof ein, und als man ihr sagte, der junge Concini sei anwesend, forderte sie ihn auf zu tanzen. Der Knabe war in Verzweiflung, aber dem Wunsch der mächtigen Persönlichkeit mußte willfahrt werden, und so tanzte Jean Concini, ein jammervolles Schauspiel, während das Blut seines Vaters und seiner Mutter noch floß. Dies empörte den Grafen Erdmann; er nahm den Jüngling beiseite, unterhielt sich mit ihm, fand ihn aufgeweckt, ja wissensdurstig, und es berührte ihn eigentümlich, als ihm der Knabe im Verlauf des Gesprächs bebend gestand, seine höchste Begierde sei, die Astronomie zu studieren. Graf Erdmann überlegte sich die Sache, wandte sich an einen Hallenser Kaufherrn, der von Paris nach Hause reiste, und bat, er solle den Knaben zu einem dortigen Professor geben und ihn auf seine Kosten für die Universität vorbereiten lassen. In seinen Briefen an den Knaben nannte er ihn von da ab, halb in eigenwilliger Verballhornung seines ursprünglichen Namens, halb in kaustischer Anspielung auf den erstrebten Beruf, nur noch Hans Kosmisch, und dieser Name verblieb dem jungen Menschen, dem es beschieden war, dereinst in ungeahnter Weise in das Leben seines Beschützers einzugreifen.

Die Frau von Hautfort hatte an der edlen Handlung des deutschen Grafen Gefallen, und sie zeigte ihm recht offensichtlich, daß es ihr nicht unwillkommen sei, wenn er dieses Gefallen zu benutzen verstünde. Eines Abends behielt sie ihn verräterisch lange in ihrem Boudoir. Zuerst lachte sie sich toll beim Anhören seiner moralischen Predigten, denn er glaubte sie zur Tugend bekehren zu sollen, endlich wurde sie des salbungsvollen Geschwätzes satt. Da schlüpfte eine Zofe ins Gemach und überreichte der Herrin einen Brief. Diese erblaßte, als sie das Billett gelesen hatte, und steckte es rasch in ihren Busen, der sehr schön war und zu ihren vorzüglichsten Reizen gehörte. „Was gibt es denn?“ fragte Graf Erdmann, dessen Sinne sich langsam zu umnebeln begannen, und da er sich nicht getraute, das Billett mit der bloßen Hand aus seinem hübschen Asyl zu ziehen, nahm er vom Kamin die silberne Zange, mit der man das Holz ins Feuer tat, und wollte sich auf solche Art des Papiers versichern. Die Dame schrie auf und schickte ihn halb lachend, halb zornig von dannen. Indes er durch den matterhellten Flur zum Haustor schritt, trat wie aus der Erde gestiegen ein reichgekleideter Fant auf ihn zu, das Gesicht maskiert, die Faust am Degengriff, und verstellte ihm mit Woher, Wohin, wes Namens und Zwecks den Weg. Graf Erdmann blieb die Antworten nicht schuldig; zwei Worte, zwei Beschimpfungen, man zog vom Leder, kreuzte die Degen, ein Ausfall, ein Sprung, ein Schrei, ein Seufzer, und der Unbekannte krampfte sich am Boden. Im Nu war das Haus lebendig, Mägde, Diener, Kammerfrauen polterten die Stiegen herab, und das ganze Unglück wurde erst offenbar, als die Maske vom Antlitz des Getöteten fiel; es war einer der zahlreichen natürlichen Prinzen Frankreichs aus königlichem Geblüt. Frau von Hautfort erschien selbst, und in ihrer Angst beschwor sie den Grafen, auf der Stelle zu fliehen, denn diese Tat werde schrecklich bestraft.

Aber Erdmann Promnitz war wie versteinert. Welche zierliche Gestalt, dachte er, den Toten anstarrend, welch anmutige Züge! Das Blut, langsam fließend wie Oel, benetzte seine weißen Schuhe. Die Wache kam, er wurde abgeführt, und am andern Morgen saß er in der Bastille.

Als ein reicher Herr, obwohl vom Ausland, fanden sich Verbündete und Freunde genug, um eine nicht gar zu wachsame Behörde zu hintergehen. Mit Hülfe eines bestochenen Aufsehers wurde der Gefangene von einem waghalsigen Fluchtplan unterrichtet. Ein Kaminfeger drang durch den Schlot zu Erdmann, befestigte einen Strick um seinen Leib und zerrte ihn durch den Schornstein aufs Dach. Von hier war der Weg vorbereitet; an einer Straßenecke warteten die Postpferde. Nun wollte es das Verhängnis, daß zur selben Zeit, wo der Junker, vom Emporklettern erschöpft, neben dem Rauchfang ausruhend kauerte, unten ein feierlicher Leichenzug vorüberging. Erdmann fragte den Schlotfeger, wer da begraben würde, und die Antwort war, es sei der junge Prinz, der vor drei Tagen im Duell erstochen worden. Sei es, daß das Widerspiel der schwarzen Kavalkade und seiner und seines Führers rußgeschwärzter Erscheinung auf dem Dach ihm ein Gefühl grausiger Komik erweckte, sei es, daß die beengte und schuldbewußte Brust sich ihres Druckes nicht anders zu entledigen wußte, genug, Junker Erdmann brach in ein schallendes Gelächter aus, das auf keine Weise zu hemmen war. Drunten wurden die Leute aufmerksam. Um die Gefahr abzuwenden, packte der athletisch starke Schornsteinfeger den Grafen, den der Lachkrampf überdies wehr- und willenlos machte, hob ihn wie ein Kleiderbündel auf, stopfte ihn wieder in den Kamin hinein und ließ ihn am Seil hinunterrutschen. Da mußte der Junker, ob er mochte oder nicht, Arme und Beine spreizen, und er gelangte neuerdings in sein Gefängnis. Er streckte sich aufs Lager und blieb still und entgeistert. Er weigerte sich, Besuche zu empfangen oder Briefe zu lesen. Erst am achten Tag ließ er den Herrnhuter vor, der ihm mitteilte, man habe sich an den König August gewandt, damit er bei der Majestät von Frankreich Fürbitte tue, auch erwarte man einen Abgesandten seines Vaters zu Paris, der mit Gold die Befreiung aus der Bastille erwirken werde.

„Es kann mich keiner mehr befreien,“ murmelte Graf Erdmann trübsinnig.

„Wie das, Euer Gnaden?“ fragte Herr von Wrech erstaunt. Der Graf antwortete nicht.

Was vorausgesagt war, geschah; ein Diplomat sprach bei Hofe vor, das Blut des Prinzen war vertrocknet, die Sache schon in Vergessenheit, Promnitzsches Geld tat ein übriges, und zu Ende Mai reiste Erdmann heim nach Peterswalde. Er führte dortselbst das allerwunderlichste Leben. Tagelang ritt er auf seinem Roß in den tiefen Wäldern herum und tötete alles Getier, das ihm vor die Flinte kam. Als eine Art von Raubschütze zog er weit über die Grenzen seines Gebiets, und er durfte von Glück sagen, daß die Förster und Hüter, die den unheimlichen Jäger nicht kannten, ihn mit dem Tod verschonten. Später liefen dann in Sorau große Rechnungen ein, und der alte Graf mußte die Wildschäden ersetzen.

Niemand begriff solchen Treibens Kern und Ziel, bis Herr von Wrech, der sich die betrübtesten Gedanken machte, den Junker zur Rede stellte. Da setzte Graf Erdmann dem Herrnhuter auseinander, daß nach seiner Überzeugung alle Tiere einmal Menschen gewesen und zur Strafe für begangene Sünden also verwandelt worden seien. „Und ich,“ fügte er düster hinzu, „ich erlöse sie durch den Tod.“

Herr von Wrech schluckte seinen Unmut über die verrückte Antwort hinunter und erwiderte mit Augenbrauen, so hoch wie gotische Spitzbögen: „Verzeiht, Euer Gnaden, aber es dünkt mich ein lästerliches Vermessen, daß Ihr, wenn auch bloß dem lieben Vieh gegenüber, den Erlöser spielen wollt.“

„Verachtet Ihr die Tierheit am Ende?“ fragte Erdmann; „so seid Ihr wie ein Windhund, der keine Spur halten kann. Was er aus dem Auge verliert, ist dahin.“ Und wie aus einem geheimnisvollen Traum heraus fuhr der Graf fort, mehr für sich redend als für den Andern: „Und ist eine Seele sündenlos geworden, so brech’ ich den Zauber. Denn es könnte sein, daß eine dahinirret und irret, unschuldig und herzensrein, eine Verlassene, eine Himmelsstumme, eine Gefährtin. Die will ich finden, die will ich erjagen.“ Bei diesen sonderbaren Worten stahl sich der erschrockene Herr von Wrech schaudernd aus dem Zimmer und bekreuzigte sich, als er vor der Türe war.

Eines Morgens, da der Graf wieder auf seinem Roß durch die Wälder stürmte, wurde er eines Hirsches ansichtig, den er meilenweit verfolgte. Plötzlich tat sich eine Lichtung auf, in deren Mitte ein dunkelgrüner Weiher lag. Er erblickte ein wunderbar liebliches Mädchen, das gerade aus dem Bad gestiegen war und im leichten Badekleid, den schwarzseidenen Mantel darüber, von einer Dienerin begleitet, nach dem Waldhaus am Rande der Lichtung schritt. Da brach der Hirsch aus dem Gehölz; sehr ermattet, trabte er auf die beiden Frauen zu, stutzte und, den Verfolger im Rücken wissend, machte er Miene, die Wehrlosen anzugreifen. Das schöne Mädchen schrie angstvoll auf, bei der Flucht verwickelte sich ihr Fuß in Wurzelwerk und knieend streckte sie die Arme gegen das nahende Tier, das in seiner Verzweiflung gefährlich war. Da krachte ein Schuß, Erdmann hatte gut gezielt, der Hirsch brach zusammen. Der Graf stieg vom Pferd, und als er bei dem Mädchen angelangt war, sank sie dem schwermütigen blassen Retter, vor Erregung schluchzend, an die Brust.

Es erwies sich, daß Graf Erdmann auf die Standesherrschaft Beuthen geraten war, die dem Grafen Carolath gehörte; das Mädchen war die junge Gräfin Caroline, Erbin und einzige Tochter. Nach Peterswalde heimgekehrt, erschoß Junker Erdmann das Pferd, das ihn gen Beuthen geführt, nachdem er es zuvor mit Lilien bekränzt hatte. Es fröstelte ihn in seiner Einsamkeit; er kam zu öfteren Malen nach Beuthen, er wurde mit der jungen Gräfin vertraut, ehe sie es mit Worten waren. Worte sagten nichts, Erdmanns Augen sagten nichts, sein Herz schien mit der Leidenschaft zu ringen, er schloß sich zu, wo er konnte, scheinbar widerwillig gab er sich, scheinbar widerwillig ließ er sich lieben, scheinbar mit Angst sah er den Bund besiegelt, für jede Liebkosung glaubte er sühnen zu müssen. Als man zu Sorau vernahm, was im Werke war, beeilte sich der alte Graf, den Freiwerber zu machen, und schon im Herbst wurde eine prachtvolle Hochzeit gefeiert.

Kurz darauf ereignete es sich, daß der alte Graf Promnitz eines Abends allein auf abgehetztem Gaul auf sein Gut Triebel geritten kam, in die Vorhalle stürzte, die Türen verrammeln ließ und sich zitternd in den oberen Gemächern verbarg. Es dauerte nicht lange, so erscholl drunten das Geklirr zerbrochener Fenster, und fünf österreichische Husaren drangen ins Haus, geführt von einem racheschnaubenden Lakaien des Grafen, dessen junges Weib der lüsterne Alte tags zuvor entehrt hatte. Die wilde Horde eilte die Treppe hinauf, zertrümmerte die Tür des gräflichen Schlafzimmers, und mit flachen Säbeln bläuten sie so unbarmherzig auf seiner Gnaden herum, daß Höchstderselbe an den Folgen der erlittenen Verletzungen starb.

Erst zwei Monate später fanden die Exequien statt, wegen denen Graf Erdmann die Chroniken zur Hand genommen hatte; er las sonst nur Kochbücher und hatte davon eine große Sammlung, in Maroquin gebunden und mit Goldschnitt, zu seiner Magenerbauung, wie er sagte, doch vielleicht mehr, um die Menschen, alle, die mit ihm lebten, über seinen Gemütszustand zu täuschen.

Er übernahm nun die Regentschaft, aber in Wahrheit hatte das Promnitzsche Land von dem Tag ab keinen Herrn mehr. War Erdmann nicht mit der Kraft versehen, über so viele tausend Untertanen und ihre Verhältnisse, ja, nur über die Schafe und Rinder sich jene Gewalt anzumaßen, die bloß die herzliche Neigung für Gottes Welt einem Manne verleiht? Oder begriffen die Menschen ihn nicht als Herrn, weil sie seiner nicht zu bedürfen fest überzeugt waren? Und er, begriff er bei der Huldigung, daß so viele ihn bedürfen sollten, als deren Vertreter die Beamten in respektvoller Haltung und mit glühenden Gesichtern um ihn standen: der Hofrat, der Kanzler, der Oberhofprediger und Plebanus, die Diakonen, die Steuereinnehmer, die Aktuarien beim Konsistorio, die geheimen und offenbaren Schreiber, die Amtspfänder, Stallmeister, Rendanten, Küchenverweser, Förster, Jagdpagen, Bürgermeister, Stadtrichter, Senatoren, Schatzmeister und alles, was dem Herrn dient –?

Er begriff sie nicht, es waren lauter Fordernde, und er war doch der große Bettelmann aller, Bettler vor Himmel und Erde, Sühnebettler, Liebesbettler. Und wieder täuschte er, indem er sein wahres Wesen durch Habsucht verhüllte und auf nichts anderes erpicht schien als auf den reinen Ertrag. Darum mochten sich so viele schinden, darum mochten die Hammerschmiede am Kupferhammer stehen, die Heideläufer sich die Füße wund laufen, die wilden Schweine den Fronbauern die Ernte verwüsten, – er war der Herr des reinen Ertrags, und der reine Ertrag war der Schild für seinen Kummer um ein Weib, um die, die er „entzaubert und erjagt“ hatte, und die ihm zu irdisch war, zu ergründbar, zu menschenhaft.

Die Gräfin Caroline sah wohl, wie schlimm es mit ihrem Gemahl beschaffen war. Als ein lebenslustiges Geschöpf war sie in die Ehe getreten und hing an dem Mann mit großer Liebe. Er aber schien es darauf abgesehen zu haben, sie zu demütigen. Er untergrub den Respekt, den sie bei den Dienstleuten gewärtigen mußte, sowohl durch Spott wie durch widerrufende Verordnungen. Freilich hatte sie wenig Talent zur Hauswirtin, besser verstand sie sich auf Geselligkeit und heitre Gespräche, auf Unterhaltung mit gebildeten Männern, aber redliche Bemühung ersetzte die Gabe, und unter ihren fleißigen Händen war stets alles wohlbestellt. Dieses mochte der Graf nicht anerkennen; er beleidigte Caroline, wenn sie nur den kleinsten Fehler beging, und ihre Schwächen bauschte er zu Lastern auf. Er würdigte ihr Gefühl nicht, er stieß die Seele, die sich ihm opferte, zurück. Einstmals schrieb Caroline an eine vertraute Freundin dies: „Seit dem Fackelgeleit in die Hochzeitskammer, was hab ich vom Leben und Lieben, vom Mann und vom Weib gelernt und gelitten! Wie oft bin ich mir inwendig zum Traum verschwunden! Aber wenn ich die Augen aufschlug, war ich wieder ein Weib, sein Weib! und liebte ihn! und wurde verachtet! und sah seine Gier nach Erlösung und sah, daß er sich hätte erlösen können, wenn sein Herz zurückschenkte, was man ihm gab. Gott, wie viel mögen die tausend und abertausend Frauen verschweigen, verweinen, verschmerzen! Was ist nur in ihm? weshalb ruht sein Blick oft so fremd und fragend auf mir? als wartete er, etwas zu empfangen, was ich nicht besitze. Er ist immer in Eile und niemand weiß, warum. Er ist immer in Gedanken und niemand weiß, was er denkt. Er ist immer umwölkt, immer in Groll, immer in Melancholie, immer mißtrauisch, immer verzagt und hat kein Auge, um die zu sehen, die für ihn zittert. Hab ich noch einmal im Leben eine bessere Zeit, dann sollst du von mir hören, jetzt stille.“

Es kam keine bessere Zeit. Die Ehe war kinderlos, und Graf Erdmann erblickte darin einen Fingerzeig des Schicksals. Bittere Worte flogen hin und her, sie gruben einander die Brust auf, denn was so die rechte Zwietracht und mißverstehender Haß zwischen Eheleuten ist, die beständig einander nahe sind, einander atmen, das ist ärger als die Hölle. Der Graf wollte einige von seinem Vorfahr der Stadt und den Dörfern verliehenen Rechte wieder einziehen und setzte zum Verdruß der Bürger einen ungerechten Bierprozeß fort, den sein Vater begonnen. Darein mischte sich die Gräfin, und es entstand Streit. Caroline haßte den duckmäuserischen Herrnhuter, der noch immer im Hause weilte und durch Flur und Gemächer schlich wie der lautlose Unfried; auch darüber wuchs der Streit. Erdmann lud Kavaliere zu sich auf Jagden und Feste ein, und wenn sie kamen, war er fortgeritten oder gar betrunken, so daß die Gräfin vor Scham nicht wußte, was sie sagen oder tun sollte. Sie machte ihm Vorwürfe, erst sanft, dann leidenschaftlich; seine Ungerechtigkeit gegen sie rührte sie bis zu Tränen auf, es zerriß ihr das Gemüt, daß all ihre Liebe verschwendet sein sollte, denn geben, geben und immer geben, wer hat so viel, wer, der kein Engel ist? Welche Frau ertrüge es, daß ein Mann sich zum Herrn und Verächter der Menschheit aufwirft und den Willen Gottes erkannt zu haben meint und daß er dabei mit rohem Fuß ein anschmiegendes Herz zertritt?

Er aber hatte einen Engel in ihr zu erringen geglaubt, das war es. Einen Engel glauben, und nur die Eva finden, die Listige, die Überlisterin, das hübschgestaltete Fleisch, von schlauer Grazie bewegt, das wurmte ihn, verfinsterte ihn, und er ward in seinen Handlungen gegen die Frau seiner wahren Empfindung nicht mehr inne. Was er ihr zufügte, fügte er sich selber zu, aber er ward dessen nicht inne. Einst bei der Mittagstafel beschimpfte er die Frau gröblich, weil eine Speise, die gereicht wurde, verdorben war. Zwei Fremde waren zugegen, die peinlich erstaunt vor sich hinblickten, und Herr von Wrech, der eine demütige Fassung zur Schau trug. Caroline erhob sich und verließ das Gemach; an der Schwelle konnte sie sich nicht mehr halten und weinte laut. Die Gäste verabschiedeten sich bald, Graf Erdmann trieb sich in finstrer Laune in den Wäldern herum; als es Nacht war, kehrte er heim, nahm eine Bibel und versuchte zu lesen. Jedoch die im Schloß herrschende Stille wühlte ihn noch tiefer auf, das Wort der Schrift brannte wie Feuer in seinem Geist und ungefähr gegen Mitternacht begab er sich, ein Lämpchen in der Hand tragend, in das Zimmer der Gräfin. Sie lag auf ihrem Bett und schlief, und lange schaute er sie an. Sie schlief ruhig wie ein Kind, ihre Wangen waren gerötet, und in den dunklen Augenspalten glänzte Feuchtigkeit. Da beugte sich Erdmann und berührte mit seinen Lippen ihren Mund; und kaum daß dies geschehen war, erwachte Caroline und blickte das Antlitz dicht vor sich voll geisterhaftem Schrecken an. Dieser Ausdruck, die unerwartete Wiederkehr ihres Bewußtseins, sein seltsam heimliches Beginnen, der Argwohn, als hätte ihn die Frau nur fangen und ertappen wollen, all das erhitzte ihn, er erschien sich gehöhnt, genarrt und verraten, er packte sie an den Haaren und riß sie aus dem Bett, er schleifte die Wimmernde durch die Säle, und im Flur des Hauses ließ er sie, preßte sich keuchend an die Wand und schlug im Dunkeln ein Kreuz. Caroline aber, schaudernd vor Entsetzen, erhob sich und flüchtete gegen die Tür des Hauses, rannte in den Hof, wo die Hunde anschlugen, und weiter lief sie, so weit ihre Füße sie trugen. Da machte sich Graf Erdmann auf und verfolgte sie in der Finsternis, koppelte die Hunde los und fand ihre Spur, und als er sie im Hemde, wie sie war, ohnmächtig neben einer Kotlache liegen sah, kauerte er sich nieder und blieb bei der Regungslosen, bis der Morgen graute, dann trug er sie ins Haus zurück. Ihr Blut erwärmte ihn, zärtlich schmiegte sich ihr Haar um seinen Hals, ihre Arme hingen schlaff, ihr Herz klopfte wie ein Mahner gegen seines, das von Finsternis, von Irrung und von unbegreiflichem Schmerz erfüllt war.

Wenige Wochen darauf setzte der Bruder der Gräfin die Scheidung durch, Erdmann tat, als ob er damit zufrieden sei, und das Gericht zu Oppeln bestätigte sie wegen unversöhnlicher Feindschaft, „samt dem was anhängig“. Bis zu ihrem Tod lebte die Gräfin Caroline wie eine Klosterfrau, und so ist sie, reizend und wehmütig, noch heutigen Tags auf dem Schlosse zu Carolath im Bilde zu sehen. Erdmann Promnitz aber wurde von der Stunde ab, wo sich die Gräfin von ihm trennte, immer unruhiger und wilder. Es umgaben ihn Schmeichler, Schmauser, Schmarotzer und lauernde Erben. Das viele Geld vom reinen Ertrag war kaum hinreichend, den Verschwendungen stand zu halten, und fragte ihn einer seiner Vettern, was er treibe, so antwortete er, scharf skandierend: „Essen, trinken, schlafen, sehen und hören.“ Schreckliche Träume zerrütteten sein Gemüt; war es Reue, was so tief sich einfraß, daß er den Wurm gleichsam im Innersten der Brust spürte? Als man eines Morgens Herrn von Wrech tot in seinem Bett fand, – er hatte von der Tafel einen halben Fisch in seine Kammer mitgenommen, war des Nachts hungrig aufgewacht, hatte ihn ohne Licht verzehrt und war an einer Gräte erstickt, – da beschloß der Graf, in die Fremde zu ziehen, wo er fremd sein und Jedermann mit Ehren fremd bleiben konnte. Gegen eine Leibrente von zwölftausend Talern vergab er all seinen Besitz an verwandte Geschlechter, und nachdem er einen im Schloßkeller von Sorau vergrabenen Schatz von hunderttausend Gulden an sich gebracht, zog er in die weite Welt, in des Herrgotts Gefängnis, wie er sagte.

Zu Halle sah er nun seinen Schützling wieder, jenen Hans Kosmisch, den er aus dem Pariser Lasterpfuhl gerettet hatte und der inzwischen ein höchst gelehrter junger Mann geworden war, bei welchem das Promnitzsche Geld einmal fruchtbaren Boden gefunden. Hans Kosmisch lag seinem Gönner an, ihn nach England zu dem großen Astronomen Herschel zu schicken. Dies gewährte der Graf, stattete ihn reichlich aus und versprach zudem, daß er ihm nach seiner Rückkehr auf dem Schloßturm von Peterswalde eine Sternwarte einrichten wollte, denn das Gut Peterswalde hatte er sich als Reservat ausbedungen, mit freiem Tisch, sechs Schüsseln zu Mittag, freier Equipage und freier Jagd.

Zweimal unternahm er den Versuch, die Gräfin Caroline wiederzusehen, die in der Nähe der Stadt Merseburg lebte. Die Gräfin weigerte sich, ihn zu empfangen. Er fuhr in den Norden und begab sich auf ein Schiff, und das Schiff scheiterte an der irischen Küste, und er kehrte zurück und eines Abends im Herbst stand er wieder vor dem Haus, in dem die Gräfin Caroline wohnte, und schaute lange zu den Fenstern empor, und ging endlich hinein und erfuhr von einem alten Weibe, daß Caroline gestorben war und daß man sie am Allerseelentag begraben hatte. Da lag Erdmann Promnitz über sieben Wochen im Bette, fast ohne sich zu rühren. Sodann ging er in den Merseburger Ratskeller und trank dreiundeinhalb Tage lang ununterbrochen Burgunderwein. In seiner Trunkenheit sah er einen bleichen Schatten neben sich, und ingrimmig begann er das Verslied Numero eintausendachtzehn zu singen:

„Wenn es sollt der Welt nachgehn, bebe!
blieb kein Christ auf Erden stehn, bibi!
alles würd’ von ihr verderbt, bebe!
was das Lamm am Kreuz ererbt, bibi!“

Da ängstete den Wirt das blasphemische Gebaren, und er ließ den hochgebornen Herrn in aller Devotion auf die Straße setzen.

Bald darauf wanderte er außer Landes und schlug seine Residenz zuerst in Kehl, dann in Straßburg auf. Er war allen Menschen unheimlich; in einer Nacht wurde er in Begleitung mehrerer Herren von fünf wegelagernden Strolchen überfallen; mit wahrer Berserkerwut und -kraft schlug er die ganze Bande in die Flucht. Einer der Herren fragte ihn, warum er, der doch so stark sei, immer furchtsam und gedrückt scheine. Er erwiderte: „So ist es nun einmal. Ich kann mich und euch gegen jedermann in Schutz nehmen, nur nicht gegen mich selbst.“

Er reiste nach Paris. Dort erinnerten sich noch einige Leute seines Namens, und sie verbreiteten das Gerücht, der finstere und ausschweifende deutsche Graf werde von der Erinnerung an eine Übeltat gequält. Als er davon erfuhr, lachte er und sagte: „Man unterschätzt mich; ein Körnchen Kaviar gibt noch keine Mahlzeit.“ Er suchte die Gesellschaft berühmter Philosophen, und stets brachte er das Gespräch auf Schuld und Sünde und moralische Verantwortung, aber wenn sie sich dann nach ihrer Weise geäußert hatten, ging er unzufrieden von ihnen hinweg, setzte sich eine Nacht lang in eine Spelunke, sang anstößige Lieder und machte sich mit allerlei wüstem Volk vertraut. Zwei Jahre hielt es ihn in Paris, dann pilgerte er über die Pyrenäen nach Spanien. Zu Valladolid sprach er mit den Gelehrten der Universität lateinisch, und in Escurial unterhielt er sich mit den Granden von hoher Politik, und in Cadix hockte er in Matrosenkneipen am Hafen, und dann fuhr er übers Meer nach Afrika, fand nicht Ruhe in der Wüste, nicht in den bunten Städten der Mauren, reiste nach Malta, lebte in Syrakus, dann in Rom, durchwanderte die Schweiz, war heute geizig mit Gold, warf morgen einem Bettler zwei Dukaten in den Hut, las einmal in den Schriften des Professors Kant und des Herrn von Voltaire, ein andermal im heiligen Augustinus oder in einem seiner Kochbücher. Grübelnd saß er an Bord der Schiffe, den Blick ins Wasser geheftet, schweigend und träumend schritt er durch die vielen Städte, und mit wunderbarer Eile ließ er seine Kutsche über die Landstraße donnern, als ob der Teufel hinter ihm her wäre. Bei Tag wünschte er, daß es Nacht sein möge, im Frühling wünschte er den Herbst. Dabei ward sein Kopf grau, sein Gesicht verfaltet, seine Gestalt gebückt, nur sein Auge nahm an Glut der Rastlosigkeit noch zu. Zehn Jahre, fünfzehn Jahre, zwanzig Jahre, fünfundzwanzig Jahre, wenn das Alter kommt, rollen die Tage, Monate und Jahre wie große und kleine Kugeln in beschleunigtem Fall den Berg hinunter und dem Abgrund des Todes zu, aber sie greifen auf, was am Wege liegt, und nehmen alles mit: Gram und Reue und Sehnsucht und schlechtes Gewissen.

Es wird erzählt, daß der Ostgote Theoderich durch einen großen Fischkopf, der vor ihm auf der Tafel stand, an das verzogene Antlitz des hingerichteten Symmachus erinnert wurde. Die Augen starrten greulich, die Lippe war dem Schreckbild in die Zähne gekniffen. Den König überkam das Fieber, er eilte in sein Schlafgemach, ließ sich mit Decken verhüllen, beweinte den Frevel und starb kurz darauf in tiefem Schmerz. Für den Grafen Erdmann war jegliches Ding zu jeglicher Zeit ein solcher Fischkopf. In gewissen stillen Nächten des Südens stieg ihm ein schlankes Frauenfigürchen vor Augen, ein sanftes Gesicht, so daß er hätte fragen mögen: „Du bist so bleich um die Nase, bist du bei Leichen gelegen?“

In Basel erhielt der Graf einen Brief von Hans Kosmisch, der nun über sechzehn Jahre zu Peterswalde hauste. Nachdem er von England zurückgekehrt war, hatte ihm sein Beschützer fünftausend Dukaten für den Ankauf eines Teleskops geschenkt, trotz seines Geizes, nur um diesem sonderbar geliebten, durch eine Laune des Schicksals ihm zugeworfenen Menschenkind zu willen zu sein und damit einer Wissenschaft zu dienen, die ihm unverständlich war wie das Hebräische und gespensterhaft wie das Grauen auf dem Kirchhof. Hans Kosmisch hatte einen neuen Kometen entdeckt und teilte dies seiner gräflichen Gnaden voll stolzer Genugtuung mit. Ha, dachte der Graf, da vergnügt sich einer am Feuerwerk der Sphären wie ein Kind am Fackelzug; mit dem Manne muß ich reden.

Es war wohl auch Heimweh, was den Grafen nach Peterswalde zog. Eines Nachmittags im Juni polterte sein Reisewagen durch die halbverfallene Schloßpforte. Die Hühner stoben von dannen, Fasanen flogen auf, ein müder Hofhund umschlich Rosse und Räder. Nach geraumer Weile erschien Hans Kosmisch, im braunen spitzenbesetzten Jabot, doch ohne Perücke. Er war ein kleiner Mann, der ungeachtet der herannahenden Fünfzig noch immer knabenhaft aussah, noch immer den leichten Gang eines Tänzers hatte; sein Gesicht war seltsam weiß und glatt, mit durchsichtigen Augen, die Haare weiß wie Mehl. Als er seinen Herrn und Gönner gewahrte, so abgerissen, wüst und fahl, zwei Orden auf der Brust, den Anzug ausgefranst, mit suchenden Blicken die Wehmut und Rührung der Heimkehr verhehlend, da lief ein Schüttern über seine Züge, jedoch verbeugte er sich tief.

Bei kärglichem Plaudern wurde eine frugale Abendmahlzeit genommen, und als es dämmerte, verließen sie die Stube und setzten sich auf eine uralte Steinbank im Garten. „Es wird eine schöne Nacht heute“, sagte Hans Kosmisch. Wie dann der Graf immer stiller und stiller wurde, machte er ihm den Vorschlag, das Observatorium zu besuchen. Der Alte willigte schweigend ein, Hans Kosmisch nahm eine Handlaterne, und sie stiegen die Wendeltreppe des Turmes empor. Von der Studier- und Wohnstube des Astronomen führte eine geländerlose Leiter auf die Plattform; in einem rundlichen Bretterhaus daselbst befand sich das Teleskop.

„Seht, Euer Gnaden, wie feierlich das Firmament sich bestirnt hat“, sagte Hans Kosmisch emporweisend, „Euch zu Ehren, wie mir scheint.“

Erdmann Promnitz blickte um sich, dann hinauf. Er ließ sich auf ein Sesselchen nieder und beugte Rumpf und Haupt zurück. Es war ein Ausruhen in dieser Bewegung, und sie schien unwillkürlich, gleichwohl gehorchte er damit dem Hinweis des Astronomen. Aber wie sein Auge das überflammte Himmelsgewölbe traf, seufzte er plötzlich, und ein Schauder der Überraschung durchrieselte seinen Körper. Es fügt sich oft, daß ein Mensch erst vor einem zufälligen Schauspiel, das seine zerstückte Aufmerksamkeit zur Sammlung zwingt, eines Weges, eines Willens, eines Traumes, ja endlich des bedeutsamen Sinnes schwebender Rätsel inne wird. Es gibt Menschen, die niemals in einer reinen Nacht den Blick nach oben gelenkt haben, und die erst einen hinaufzeigenden Arm brauchen, um sich von der verworrenen Fülle irdischer Visionen abzukehren. Dieses sind die Zeitgefangenen, die Fliehenden, die Gerichteten, die Knechte des Herrn, die Ewiggeplagten, die Erdmänner.

Ein gleichsam von fernher gleitender Strahl umleuchtete das Herz des Grafen. „Gott grüß dich, Hans Kosmisch“, sagte er endlich. „Was für einem kuriosem Metier hast du dich da verschrieben! Sitzest Nacht für Nacht und beguckst den lebendigen Teppich. Muß auf die Dauer ein wenig ennuyant sein, dünkt mich.“ Der alte Spott, durch Trauer glitzernd wie das Lächeln eines Kranken, wenn der Arzt auf die Schwelle tritt.

„Ist niemals ennuyant, Euer Gnaden,“ versicherte Hans Kosmisch; „ist auch nicht gar so bequem. Das Begucken allein tuts nicht. Da heißt es rechnen und aberrechnen, die Mathematik quält Euch um den Schlaf, die Zahlen tyrannisieren den Kopf.“

„Und du hast Aare gesättiget, während ich in der Mühle die Mägde küßte, wie die Altvordern sagten,“ murmelte der Graf gedankenvoll vor sich hin. „Und was ist das für ein Ding, der Komet, den du entdeckt? Wie hast du ihn zur Strecke gebracht? Findet man Gestirne wie neue Inseln im Südmeer, oder fängt man sie ein wie Füchse in der Falle? Zeig ihn mir, deinen Kometen.“

„Ihr könnt ihn mit bloßem Auge nicht gewahren,“ entgegnete der Astronom mit seiner italienisch runden Stimme, „auch erscheint er erst zwischen zwei und drei Uhr nachts im Bild der Kassiopeia.“

„Und so mußt du auf ihn warten wie eine Ehefrau auf ihren schläfrigen Mann? Wenn das nicht Ennui heißt, will ich Trübsal benannt werden.“

„Er kommt nur alle siebenundzwanzig Jahre der Menschheit zu Gesicht“, fuhr Hans Kosmisch mit unerschütterlichem Lehrernst fort.

„Larifari, Hans Kosmisch, wie willst du das so genau wissen?“

„Es läßt sich alles berechnen, Euer Gnaden. Was Euch Willkür scheint, läßt sich berechnen, und durch das Teleskop läßt sich vieles sehen, was in der Himmelsschwärze versunken ist.“ Der Astronom wies auf das Fernrohr, und als der Graf sich erhoben hatte, richtete er die Schrauben für das Auge des Laien und zielte mit dem Rohr auf das Mondhorn, das gerade zwischen zwei Baumwipfeln eines fernen Waldes tief gegen den Horizont sank. Der Graf schaute hinein, fuhr aber gleich wieder zurück.

„Es blendet Euer Gnaden,“ meinte Hans Kosmisch versöhnlich, „doch Ihr werdet Euch bald gewöhnen.“

Der Graf schaute wieder ins Rohr. „Verteufelte Zauberei“, sagte er; „oder sind es wahrhaftige Berge, die ich da sehe?“

„Wahrhaftige Berge, Euer Gnaden, erloschene Vulkane, eine gestorbene Welt, eine Zwillingserde. Das Licht, das Ihr wahrnehmt, ist Sonnenlicht, die Schatten sind Sonnenschatten –“

„So hat mich das Diebsgesicht des Monds bisher getäuscht? Und was ist das für ein dunkler Fleck, seitlich vom hellen, grau wie Katzenfell –?“

„Es ist die Nacht des unbeleuchteten Planeten. Unser Erdball wirft die umgrenzte Finsternis dorthin.“

„Unser Erdball, sagst du ... Ball! Wie das klingt. Es ist also keine leere Fabel? Die Welt, auf der ich stehe, mit ihren Ländern und Meeren und Flüssen und Städten und Kirchen und Menschen ist wirklich nur so eine schwimmende Kugel wie die dort?“

„Wie die dort und wie viele, eine kleine nur unter den kleinen, Euer Gnaden. Seht, alles was so wie Leuchtwurmgetier am Himmelsbogen funkelt, das ist jedes für sich ein Einzelnes und Gestaltetes, und könntet Ihr auf einem von den Sternen weilen, so würden die andern und unser irdischer dazu auch wieder nur als feuriges Gesprüh euer Auge ergötzen. Das geschliffene Glas da löst euch den weißen Strom der Milchstraße zu Punkten auf, und jeder Punkt ist eine Sonne, und um jede Sonne kreisen Erden, und jeder hält den andern im Raum, und alle fliehen durch den Raum, nach geheimnisvollen Gesetzen. Ihr schaut empor, und zur selben Frist entstehen Welten und vergehen Welten, schwingen sich Monde um ihre Muttergestirne, stürzen Meteore aus der Bahn, rasen Kometen durch eine Unendlichkeit, für die der Menschengeist keine Begriffe hat. Richtet Euer Augenmerk gnädigst auf den grünlich funkelnden Stern zwei Hand breit von der Deichsel des Wagens. Dieses Sternes Licht braucht dreitausend Jahre, um zu Euch zu gelangen.“

„Dreitausend Jahre“, wiederholte der Graf, flüsternd wie ein Kind, dem es gruselt.

„Indem Ihr sein Feuer seht, seht Ihr in Wahrheit etwas, das vor dreitausend Jahren war, und wäret Ihr imstande, hinaufzufliegen, so könntet Ihr, auf die Erde rückschauend, mit sonderlich begabtem Auge von Folge zu Folge alles wahrnehmen, was sich seit dreitausend Jahren dahier begeben hat.“

Graf Erdmann stierte den Astronomen entsetzt an. „Wenn dem so ist,“ antwortete er stotternd, „wenn dem so ist, so kann ja nichts verborgen bleiben. Dann ist jedes meiner Worte und jede Tat, die ich getan, aufbewahrt. Ist es dann nicht ein Irrtum zu glauben, das Jetzt sei ein Jetzt? Dann wird ja alles so ungeheuer, dann muß doch die Schöpfung älter sein als die sechsthalbtausend Jahre der Juden...“

„Euer Gnaden darf sich nicht verwirren,“ fiel Hans Kosmisch mit listig-mildem Lächeln ein; „was Euch Religion und Bibel an Maßen geben, sind Verkürzungen symbolischer Art. Der Geist will die Seele nicht betrügen, er macht sie nur den göttlichen Geheimnissen doppelt verschuldet.“

Der Graf hatte sich wieder auf sein Sesselchen begeben und blickte empor. „Das alles über mir ist Raum,“ begann er wieder, und seine Greisenstimme klang erschüttert; „so groß, so endlos frei und herrlich weit, daß die Zeit, die ich gelernt, mir wie ein Bild erscheint und mein Name wie ein Gleichnis; und meine Qual und Sünde schrumpft mir zusammen, denn was sind meine sechzig Winter und Sommer unter den Millionen, und wie könnte der Herr über eine solche Großwelt es fertig bringen, Gut und Böse krämerhaft zu wägen?“

Hans Kosmisch antwortete nichts, auch der Graf schwieg lange Zeit. Plötzlich rollten ihm zwei große Zähren über die verwitterten Backen, und er sagte dumpf und langsam vor sich hin: „Sie hatte kornblondes Haar und Augen wie das Reh; ihr Mund war sanft und ihre Hand war zärtlich. Sie hat mich geliebt, und sie ist tot. Wo sie auch weilen mag da oben im Raum, ich bin bei ihr, und was ich als Schuld gegen sie trage, bleibt Schuld. Sündenschuld – Liebesschuld. Aber wie denkst du dirs, Hans Kosmisch,“ rief er auf einmal laut und schlug beide Hände vor die Brust, „wird mirs noch gelingen, einen Tod zu sterben, der dem Herrn der Sterne wohlgefällig ist?“

Hans Kosmisch senkte still den Kopf. Für Gespräche so intimer Art fehlten ihm Mut und Lust. Er sah die Menschen nur von fern, nur von einer nächtlichen Warte aus, und Gefühle kundzugeben war ihm versagt seit den Pariser Zeiten. „Geleit mich hinunter aus deinem Sphärenpalast,“ fuhr Graf Erdmann fort, „und leuchte mir in die Kammer. Heut will ich einmal geruhig schlafen und ohne böse Träume.“

Der Graf verließ wenige Tage später Peterswalde und begab sich nach Osnabrück, wo er seines Zipperleins halber einen dort sässigen bekannten Arzt zu Rate zog. Er war ein anderer Mann geworden, ein gefügiger, milder, heiterer, obwohl auch fernerhin einsamer Mann. Ein mysteriöses Werk beschäftigte ihn die meiste Zeit des Tages, und in sternenhellen Nächten stieg er auf den Turm des Münsters, den er seinen wunderbaren stummen Professor nannte. Nach einem halben Jahr, im tiefen Winter, kehrte er nach Peterswalde zurück und lebte da friedsam weiter, ganz und gar mit seinem mysteriösen Werk beschäftigt. Sehr mit Grund ist bei alten Menschen der März als Todbringer verrufen. Eines Morgens im Mittmärz betrat Hans Kosmisch die Stube seines Herrn und fand ihn entseelt im Bette liegen. Auf dem Tische aber, gleichwie der ganzen Welt zur Schau, war das endlich vollendete Werk ausgebreitet.

Es war ein gemaltes Bild, nicht wie von einem, der die Kunst versteht, sondern von einem, der mit unbeholfener und doch sicherer Hand eine Traumvision festzuhalten bemüht ist, – ein über alle Worte erhaben schönes Antlitz, ein Kopf, ja nichts als ein Gesicht mit großen, reinen, unaussprechlich gütigen Augen, aus denen die ergebenste Liebe quoll. Es fehlten nicht die Grübchen in den Wangen, die von weichem Haupthaar umflossen waren, und das Kinn umstand ein voller, breiter, lockiger Bart, der in einer Spitze endete, nicht in zweien wie ein Jesusbild. Dieses überirdisch göttliche Gesicht, das trotz des Bartes die genaueste Ähnlichkeit hatte mit dem der verstorbenen Gräfin Caroline, umrahmte über den Scheitel hinweg, an den Haaren herab und unter dem Bart sich schließend, ein Kranz von bekannten und unbekannten Blumen. Alles dies war ganz in Blau und Gold gemalt, und nun waren in der Weise punktierter Kupferstiche die Augenbrauen, die Augäpfel, die Stirne, die Lippen, der Bart und die Locken der Haare lauter Sternbilder, Nebelflecken, Kometen und Monde; in der Verschlingung einer Winde fand sich die Sonne und als winziger Goldpunkt die Erde. Es war als ob ein träumender Mensch, irgendwo im Raume ruhend, das Weltall als Gesicht begriffen hätte und als ob Sonne, Mond und Sterne im Innern seiner Seele zu einer geschauten und geheimnisvollen Einheit gelangt wären. Über dem Bildnis aber prangten die triumphierenden Worte:

"Ad astra."

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der goldene Spiegel