Kapitel 09 - Paterner.

Franziska hatte sich aufgerichtet und schaute Borsati, der zuletzt sehr schnell, sehr leidenschaftlich erzählt hatte, beinahe voll Angst ins Gesicht. „Ich habe in meinem ganzen Leben etwas dergleichen nie gehört“, murmelte sie, nachdem Borsati geendet. Cajetan sprang empor und sagte mit großer Lebhaftigkeit: „Außerordentlich! Es ist außerordentlich, wie hier ein entlegener Winkel des menschlichen Daseins in den Mittelpunkt der Dinge gerückt und gleichsam kosmisch beleuchtet ist. Selten war mir so tief bewußt, daß alles, was wir tun und treiben eine weitreichende Verantwortung nach vorwärts und nach rückwärts hat.“ Lamberg, der mit raschen und wuchtigen Schritten umherging, wie stets, wenn er bewegt oder erregt war, sagte: „Laßt uns jetzt nicht darüber sprechen. Laßt uns dies aufbewahren, damit wir uns von dem Eindruck Rechenschaft geben können.“

„Findet ihr nicht, daß er eigentlich den Spiegel verdient?“ fragte Franziska.


„Das werden wir morgen entscheiden“, gab Cajetan zur Antwort.

„Ich glaube, was den Spiegel betrifft, können wir jedenfalls noch warten“, fügte Lamberg hinzu. „Nicht, als ob ich eifersüchtig wäre“, wandte er sich lächelnd und mit ausgestreckter Hand an Borsati, die dieser freundschaftlich ergriff und drückte, „aber ich möchte uns andern doch nicht den Weg verrammelt sehen. Wer weiß, wohin uns dies Beispiel noch treiben kann. Anfeuern ist ein schönes Wort in unserer schönen Sprache. Es bedeutet Licht und es bedeutet Kraft. Und wenn ich nun mein Gefühl überprüfe, so muß ich eines jetzt schon gestehen –“

„Aha, nun kommt der kritische Pferdefuß zum Vorschein“, neckte Borsati.

„Nicht Kritik“, fuhr Lamberg fort, dessen Züge und Geberden äußerst edel waren, wenn er in ernstem Ton redete, „beileibe nicht Kritik, das würde unsere famose Symphonie abscheulich stören, ich meine nur, so hinreißend und aufwühlend die Geschehnisse auf der Plassenburg auch sind, warm wird einem dabei nicht. Es kann einem heiß werden, aber nicht warm. Es geht mehr an die Nerven als ans Gemüt.“

„Und der Mann sagt, er übe nicht Kritik“, antwortete Borsati ironisch. „Es ist also eine lobenswerte Handlung, wenn ich jemand unter Versicherung meiner Menschenfreundlichkeit erschlage?“

„Dennoch hat Georg so unrecht nicht“, mischte sich Franziska in den Streit.

„Solche Äußerungen haben etwas Gefährliches“, entschied Cajetan; „ja, ja, – es gibt Tränen und es gibt ein Schaudern, es gibt eine geistige und eine herzliche Ergriffenheit; machen wir uns nicht zu Splitterrichtern, indem wir wägen wollen, was gewichtlos und sondern, was unteilbar ist. Nerven! Was heißt das nicht alles heutzutage. Was wird nicht damit entschuldigt und was nicht herabgezerrt? Ich habe Nerven, nun ja! Und ich klinge, wenn man auf mir zu spielen versteht. Und ich versage, wenn man mich in pöbelhafter Weise berühren und rühren will. Ich halte nichts von der Sorte Gemüt, die sich ausbietet und billige Tränen einsammelt. Eine wahrhafte Erschütterung braucht kein Taschentuch zum Trocknen der Augen, und so fass’ ich es auch auf, wenn Beethoven einmal wundervoll bemerkt: „Künstler weinen nicht, Künstler sind feurig.“

„Was mich an Rudolfs Erzählung gepackt hat“, ließ sich nun auch Hadwiger hören, „und was ich nicht sobald vergessen werde, ist das eine Wort: Wirklich leben heißt zermalmt werden von denen, die stumm sind. Mensch, wie wahr ist das! wie unbeschreiblich wahr!“ Alle sahen nach ihm hin. Er war merklich blaß geworden, während er dies sagte, und Franziska, auf beide Ellbogen gestützt, beugte sich weit vornüber, wie um ihn näher zu betrachten, oder wie um ihn zu suchen, und in ihren Lippen, die geschlossen blieben, war eine seltsam zärtliche Regung, in ihren Augen eine schmerzliche Trauer. Borsati, der sie am besten kannte, glaubte zu ahnen, was in ihr vorging. Sie fühlte sich hinschwinden, und ihr ermüdeter Arm verlangte nach einem Halt. Dieses Herz, das so gern und so jubelnd geliebt, konnte sich auch in der Freundschaft zu einer Glut entzünden, die in der körperlichen Ohnmacht nur umso reiner strahlte. Oder befand er sich in einem Irrtum? War dies ein letztes Werben, ein letztes Vergessenwollen, ein letztes Anschmiegen, letzter Sturm und letzte Rast, bitter gemacht durch ein drohendes Zuspät und süß durch die Illusion einer Dauer?

Das eingetretene Schweigen wurde durch Emil unterbrochen. Er war bei der Brücke gewesen und „erlaubte sich zu melden“, daß es drunten schlimm aussehe; im Markt habe der Bürgermeister telegraphisch um Entsendung eines Pionierbataillons gebeten, auch stehe die Seevilla, das kleine Hotel, in welchem die Freunde logierten, schon unter Wasser. Bei dieser Nachricht rüsteten sich Cajetan, Borsati und Hadwiger erschrocken zum Aufbruch. Lamberg schickte sich an, sie zu begleiten. „Wenn ihr die Zimmer verlassen müßt“, sagte er, „könnt ihr euer Gepäck heraufschaffen; die Nacht über bleibt ihr dann jedenfalls hier im Haus und morgen werden wir sehen, was zu tun ist. Sie gehen mit, Emil“, rief er dem Diener zu. Die Laternen wurden angezündet, und alsbald marschierten sie durch den Regen hinunter zum See. Wo eine Mulde im Wege war, stand das Wasser fußtief; flachgelegene Wiesenstücke waren überschwemmt; der Traunbach, sonst nur mit schwachem Brausen vernehmbar, erfüllte mit seinem Donner die ganze Landschaft.

An der Brücke hatten sich ziemlich viele Menschen angesammelt und blickten besorgt drein. Die Finsternis lastete wie ein Klotz auf der Erde, und der Schein schwacher Lichter machte sie vollends undurchdringlich. Bauern in hohen Wasserstiefeln und mit Fackeln in den Händen liefen am Ufer des furchtbaren Stroms hin und her und zogen allerlei schwimmendes Hausgerät, das sie erfassen konnten, ans Land. Die Freunde eilten auf einem Pfad, den hundert Rinnsale fast ungangbar gemacht hatten, zur Seevilla. Der Wirt mußte bestätigen, daß Gefahr im Verzug sei, in den Kellern sei das Wasser vier Fuß hoch gestiegen, doch befürchte er nichts Schlimmeres, als daß das Haus von dem Verkehr mit der Außenwelt abgeschnitten werde; die Wirkung eines Wehrbruchs werde sich erst an den Ufern der Traun äußern und am verderblichsten im Markt, wo sich die Abflüsse dreier Seen vereinigen.

Trotzdem es Lamberg widerriet, beschlossen die Freunde, bis zum andern Tag im Hotel zu bleiben. Sie gingen ruhig zu Bett, und die Nacht verlief ohne Störung. Am Morgen teilte ihnen der Wirt mit, daß er gezwungen sei, das Haus zu schließen; er deutete in den Garten, dessen Beete schon unter Wasser standen. Cajetan sprach in der ersten Bestürzung von Abreise. Der Wirt schüttelte den Kopf und erwiderte, die Chaussee zum Markt und zur Station sei nicht mehr passierbar, außerdem hätten die Eisenbahnzüge seit gestern zu verkehren aufgehört. „Demnach sind wir also richtig eingesperrt“, rief Borsati. – „Und wie steht es weiter oben? ist man in der Villa Lamberg sicher?“ fragte Cajetan unruhig. – „Droben ist man sicher, wenn es nicht solange regnet, daß der Wald entwurzelt wird“, war die Antwort.

Mit vieler Mühe wurde ein Wagen aufgetrieben; die Freunde hatten unterdeß gepackt, und eine Stunde später plätscherten die Pferde mit der kofferbeladenen Kutsche durchs Wasser bis zum Weganstieg. Cajetan und Borsati fuhren zu Lamberg, Hadwiger begab sich zur Seeklause, um bei den Arbeiten am Wehr womöglich Hilfe zu leisten. Wie er vermutet hatte, fehlte es dort an einer sachgemäßen Führung, denn der vom Bezirkskommando abgeschickte Ingenieur war noch nicht eingetroffen, und die Pioniere konnten erst am folgenden Tag zur Stelle sein. Was die Bauern unternahmen, war zweckdienlich, aber die Leitung eines Fachmannes mußte ihr Beginnen wesentlich fördern. Unter den Zuschauern befand sich auch der Fürst Armansperg; seine Würde, sein Ansehen, seine dominierende Persönlichkeit verliehen ihm das Recht der Beaufsichtigung und des tätigen Anteils. Hadwiger stellte sich ihm vor; der Fürst kannte seinen Namen und war glücklich, die Unterstützung eines Berufenen zu gewinnen. Die Leute folgten Hadwigers Befehlen willig, ja, im Bewußtsein dessen, was auf dem Spiele stand, lasen sie ihm die Worte von den Augen ab. Gegen Mittag kam endlich der Regierungs-Ingenieur, der allenthalben die größten Schwierigkeiten gefunden hatte, um durch die überschwemmten Gebiete ans Ziel zu gelangen; er war sichtlich gekränkt, als er einen Kollegen am Werke traf, dank dessen Bemühungen die größte Gefahr einstweilen abgewendet worden war. Hadwiger kannte die Sorte und ihre enge Gesinnung, er lächelte nur heimlich vor sich hin. Der Fürst hatte ihn scharf beobachtet und zuckte kaum merklich die Achseln. Als Hadwiger ging, gesellte er sich an seine Seite. „Sie haben den gleichen Weg?“ fragte er. Hadwiger erwiderte, daß er zur Villa Lamberg gehe und daß er von Freunden dort erwartet werde. Ein Schatten des Nachdenkens flog über das gelbliche Gesicht des Fürsten, und seine angespannte Miene verdüsterte sich für einen Augenblick. Er sprach dann von der Ungunst des Wetters und wies auf einige Gipfel, auf denen frischgefallener Schnee eine Wendung zum Bessern verkündete. Hadwiger brachte die Rede auf den See-Abfluß, erklärte die ganze Anlage für mangelhaft und hielt eine gründliche Erneuerung für unerläßlich. Der Fürst stimmte ihm bei. Als er sich an der Pfadkreuzung verabschiedete, drückte er ihm die Hand, dankte noch einmal, und etwas in seinen stahlgrauen Augen schien fragen zu wollen, die gleichgiltigen Worte, die gewechselt waren, verleugnen zu wollen. Doch war dies nur der Eindruck einer Sekunde, und vielleicht stützte er sich auf eine empfindsame Täuschung.

Lamberg hatte die Freunde in einem von der Villa nicht weit entfernten Bauernhause untergebracht, in welchem drei winzige Stübchen mit winzigen Betten zum Schlafen Raum genug boten. Beim gemeinschaftlichen Mittagessen erstattete Hadwiger Bericht über seine Begegnung mit dem Fürsten. Lamberg winkte ihm vergebens zu, Cajetan räusperte sich vergebens; da er nur auf Franziska acht hatte, übersah er die abmahnenden Zeichen; erst als der neben ihm sitzende Borsati ihm etwas unsanft auf den Fuß trat, hielt er inne, schaute sich verwundert um und errötete. Er bemerkte auch jetzt Franziskas veränderte Miene; sie legte Messer und Gabel hin, klemmte die Unterlippe zwischen die Zähne und sank förmlich in sich zusammen. Während Lamberg eilig das Thema zu wechseln versuchte, faßte sie sich rasch, und zu Hadwiger gewandt, sagte sie mit schwacher Stimme: „Du hast dich also da unten nützlich gemacht, Heinrich? Man vergißt eigentlich ganz, daß du dazu auf der Welt bist, um die Elemente zu bändigen.“ Alle atmeten schon erleichtert auf; plötzlich jedoch erhob sie sich und ging aus dem Zimmer. Hadwiger wollte ihr folgen, die Freunde hielten ihn zurück. Sie hatten Mitleid mit seiner Ratlosigkeit und zwangen sich über den Zwischenfall einige Scherze ab. Hadwiger aber sagte: „So kann dies nicht weiter gehen. Was verheimlicht sie uns? Warum verheimlicht sie es uns? Warum verpflichtet sie uns zu schweigen und so zu tun als wollten wir von nichts wissen? Weshalb soll der Fürst nicht erwähnt werden, den sie doch während des letzten Jahres nicht einmal gesehen hat? Liebt sie ihn? Keineswegs! Und wenn es bloß der Name ist, den sie nicht hören will, der Name eines Menschen, der ihr nahe gestanden ist, bevor das mir unbekannte Schreckliche geschah, weshalb erträgt sie dann uns, unsere Gesichter und die Erinnerungen, die ihr unser Anblick immerfort wachrufen muß? Ich verstehe nichts von alledem.“

Die Freunde antworteten nicht. Stumm blickten sie auf ihre Teller. Nur Borsati murmelte nach einer Weile: „Zeit, Zeit, Zeit.“ Doch Hadwiger fuhr fort: „Wir müssen und müssen sie zum Sprechen bringen. Ich bin sicher, sie verachtet unsere Willfährigkeit, und was wir für Takt und Diskretion halten, erscheint ihr als Feigheit trotz der Forderung, die sie gestellt hat. Es bedrückt sie, sie will den Alp von der Brust gewälzt haben, und was sie uns sagt, ist nicht das, was sie wünscht. Wozu seid ihr denn so wortgewandt? so verschlagen, so zart, erfahren und mächtig in Worten? Da ist nichts unerreichbar, und wenn ihr wollt, so unternehm ich’s selber; diese Spannung, diese Vorsicht, dieses Zaudern, das ist ihrer und unserer nicht würdig.“

„Nun, Heinrich, an Beredsamkeit fehlt es Ihnen wahrhaftig nicht“, entgegnete Borsati. „Dessenungeachtet warne ich Sie vor einem übereilten Schritt. Wir müssen Franziska schonen.“ Er dämpfte seine Stimme zu einem Flüstern und schloß: „Ja, wir müssen sie schonen, denn ich habe Grund zu schlimmen, zu sehr schlimmen Befürchtungen. Genug jetzt davon. Das Leben dieser Frau gleicht einem Kunstwerk; freuen wir uns seiner, solang es möglich ist, und profanieren wir es nicht durch Mißlaune und Sorge. So faßt es Franziska selbst auf, glaubt es mir, und je heiterer, je unbefangener wir sind, je glücklicher wird sie sein, je dankbarer auch. Es schmeichelt ihr, in einem höhern Sinn, in einem Sinn von Reinheit, Schönheit und Schmerzlosigkeit.“

Die Andern schauten Borsati mit Blicken voll Achtung und Zustimmung an. Was so selten ist unter Männern, unter Menschen überhaupt, sie ließen sich von der besseren Einsicht überzeugen und vermochten demgemäß zu handeln. Hadwiger war jedoch kaum fähig, seine Trauer zu verbergen. Bald nachher nahm er Mantel und Hut und wanderte in die Wälder. Erst als es dunkelte, kehrte er zurück. Inzwischen hatte es endlich auch zu regnen aufgehört. Franziska weilte noch in ihrem Zimmer, und der Schimpanse leistete ihr Gesellschaft. Einigemal klang ihr sonores Lachen durch das ganze Haus. Schon gegen sieben Uhr kam sie herunter, im weißen Kimono, und nahm ihren gewohnten Platz auf der Ottomane ein. Sie zeigte eine freundlich-neugierige Miene und ließ eine Bernsteinkette, die sie um den Hals trug, wohlig durch die Finger gleiten. Hadwiger küßte ihr vor Freude die Hand, als er sie so frisch, so gegenwärtig sah.

Cajetan sagte, er könne die Plassenburger Leute nicht los werden. „Die Geschichte hat etwas Hinterhältiges“, meinte er, „das einen wie in Schuld verstrickt. Vor Jahren hörte ich einmal von einem Mörder, in dessen Zelle eine Schwalbe geflogen war. Er schloß eilig das Fenster, um das Tierchen am Fortfliegen zu hindern, fütterte es tagelang mit Brotkrumen und faßte eine heftige Zuneigung zu dem verirrten Geschöpf, das sich seinerseits an den Menschen still zu gewöhnen schien und kein Verlangen äußerte, dem traurigen Aufenthaltsort zu entkommen. Tagelang behütete der Sträfling seinen kleinen Freund, wußte ihn vor den Augen des Wärters zu verbergen und wenn er die Schwalbe in der Hand hielt und unter den Federn ihr klopfendes Herz spürte, hatte er eine Empfindung, die der Frömmigkeit sehr ähnlich war. Eines Tages entdeckte der Aufseher den kleinen Zellengenossen; er packte die Schwalbe und tötete sie mit einem einzigen rohen Griff. Der Häftling schrie auf wie ein Rasender, stürzte sich blitzschnell auf den Mann und erdrosselte ihn. Diese Begebenheit verfolgte mich mit denselben Gefühlen von Schuld und Verantwortung.“

„Ein Zeichen, daß der Mensch kein vereinzeltes Wesen ist, auch wenn er sich so gibt, sondern daß er seiner Zugehörigkeit zum Welt- und Menschheitsganzen tief innerlich bewußt bleibt“, antwortete Borsati.

„Der lustige Irrtum, der für die zwei Literaten so übel ausfiel, erinnert mich an ein Abenteuer, das ein Vetter von mir in Brüssel hatte, eine Art Philosoph, ein ziemlich verträumter und weltfremder Mensch“, erzählte Lamberg. „Er hatte eine kleine Seereise vor und kaufte bei einem Hutmacher eine Sportmütze. Danach ging er in den Straßen spazieren, und es ist nicht nebensächlich zu erwähnen, daß er beim Gehen stets die Hände auf dem Rücken zu halten pflegte. Ins Hotel zurückgekehrt, legte er den Mantel ab und langte zuvor in die Tasche, um ein Schnupftuch herauszunehmen. Er riß Mund und Augen vor Erstaunen auf, als er erst die eine, dann die andre Manteltasche vollgepfropft fand mit Schmuck und Geldbörsen, mit Armbändern, goldnen Uhren, Broschen, Brillantnadeln, Halsketten, kurz, mit einer Reihe von Gegenständen, deren Wert er trotz seiner verwirrten Sinne auf fünfzig- bis sechzigtausend Franken anschlug. Er war nicht weit davon entfernt, an Zauberei zu glauben, und nachdem er sich der Sachen entledigt hatte, zog er den Mantel wieder an und eilte neuerdings auf die Straße, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Es war Abend, er mußte sich durch ein dichtes Menschengewühl drängen und gab dabei, so gut es seine Erregung zuließ, auf seine Taschen acht. Und siehe da, nach wenigen Minuten spürte er abermals Kleinodien, Portefeuilles und Spitzentücher drinnen. Ihm graute vor der Unheimlichkeit des Vorgangs, er rannte in sein Quartier, bemerkte aber nicht, daß ihm ein Detektiv folgte, dessen Aufmerksamkeit er durch sein Benehmen erweckt hatte, ihn vor der Türe seines Zimmers anrief, sich legitimierte und sogleich ein Verhör begann. Die Ratlosigkeit meines Vetters war jedoch so groß, daß an seiner Unschuld von vornherein nicht zu zweifeln war, und der kluge Polizist fand auch bald die Lösung des Rätsels. Jenem Hutmacher hatte ein unbekannter Besteller einen auffallend gemusterten Stoff gebracht, aus dem er ein Dutzend Mützen anfertigen sollte. Der Stoff hatte für dreizehn Mützen gereicht, zwölf waren abgeliefert worden und die dreizehnte wurde als Extraprofit dem ersten Besten verkauft, der eine Reisekappe zu erstehen wünschte. Der promenierte dann als Signalmann und unfreiwilliger Hehler einer Bande von Taschendieben auf den Boulevards. Hätte er sich weniger exaltiert benommen, so hätte er durch bloßes Spazierengehen in einer Woche Besitzer von unermeßlichen Schätzen werden können.“

„So macht Gewissen Memmen aus uns allen“, zitierte Borsati lachend. „Eine lehrreiche Anekdote, worin schlagend bewiesen wird, daß Kleider Leute machen.“

„Ich muß wieder von den beiden Plassenburger Dichtern reden“, sagte Cajetan; „sie beschäftigen mich. Es ist etwas sehr Bedeutsames in der Rivalität zwischen Alexander und dem Bramarbas Peter Maritz, wennschon die Farben ein wenig gar zu dick aufgetragen sind. Die Szene, wie dieser Unfähige und wahrscheinlich auch Unfruchtbare die Verse deklamiert, die er vorher verworfen hat, und wie er, durch den Beifall berauscht, plötzlich sich selbst als den Schöpfer fühlt, enthält eine Wahrheit, die zugleich rührend und grausam ist. Wie wenig muß ein solcher Mensch der eigenen Kraft gewiß sein.“

„Die Macht der Selbsttäuschung ist eben unendlich“, entgegnete Lamberg. „Ich weiß nicht, ob ihr euch an den Fall jenes berühmten Schriftstellers erinnert, der das Buch eines Unbekannten und Namenlosen, welches ihm unter vielen Manuskripten zugesandt worden war, veröffentlichte und nicht nur die Welt betrog, sondern auch sich selbst, denn es war ihm zumute, als ob er das Werk geschaffen hätte, da es ganz aus der Stimmung seines Geistes war und auch unter seinen Freunden und Anhängern niemand eine Fremdartigkeit oder Verschiedenheit bemerkte. Jahre waren vergangen, da trat ihm der Verfasser des Buches gegenüber und forderte Rechenschaft. Dieser Mann war eine Hyäne und sein Talent eine der teuflischen Erfindungen der Natur, die unsern Glauben an die Zweckmäßigkeit des irdischen Getriebes erschüttern können. Der alternde Schriftsteller wurde sein Opfer. Er brandschatzte sein Vermögen, untergrub seine Arbeitsfreude, warf sich zum tyrannischen Kritiker und Bearbeiter seiner Bücher auf und trieb ihn schließlich zum Selbstmord. Über dem Grab des Unglücklichen brach das niedrigste Gezänk aus, bei welchem die Ehre und der Ruf des Toten für immer vernichtet wurden und die Früchte eines inhaltvollen Lebens gleichsam verfaulten.“

„Wie ihr wißt,“ sagte Cajetan, „hat sich der unglückliche Chatterton das Leben genommen, weil er beschuldigt worden war, die von ihm veröffentlichten Balladen seien fremde Erzeugnisse, er habe die Handschriften in einem Kloster gefunden und die Originale vernichtet. Später hat sich freilich herausgestellt, daß diese von Feinden und Neidern verbreitete Anklage unbegründet war und daß der junge, erst neunzehnjährige Poet mit erstaunlicher und genialer Sicherheit den Ton und Rhythmus der vergangenen Zeiten getroffen hatte. Aber er hatte keine Waffe gegen die falsche Beschuldigung. Er hatte keinen Beweis gegen sie. Denkt euch, eine schöne Frau reist allein in einem fremden fernen Land, und sie tritt mit einer Diamantkette um den Hals in eine Gesellschaft und man bezichtigt sie plötzlich, daß sie die Juwelen gestohlen hätte, und sie hat kein Mittel, sich dagegen zu wehren als ihr Wort, ihre Beteuerung, – so werdet ihr noch lange nicht in die Qual von Chattertons Lage versetzt sein, denn im Lauf der Zeit wird die Frau ja doch nachweisen können, daß der Schmuck ihr Eigentum ist. Chatterton konnte dieses nicht; seine Wahrheit galt für Lüge; wie hätte er die Welt überzeugen können? Der Jüngling brach zusammen unter den schmutzigen Wogen der Verleumdung. Sein inneres Feuer verlosch. Er war an der Menschheit und an sich selbst irre geworden. Vielleicht gab es eine Stunde vor seinem Tode, wo er so tief an sich zweifelte, daß ihm die eigene Schöpfung wirklich wie ein Trugbild vorkam und er sich genarrt dünkte wie einer, der nicht weiß, was er getan hat und was mit ihm geschehen ist. Vielleicht war ihm wie einem zu spät Geborenen oder wie einem jener sagenhaften Schläfer, die erst nach Jahrhunderten erwachen und keine Heimat mehr haben, nichts was sie an die Nation und an die Zeit kettet und die ihre Seele verlieren müssen, weil kein Bruderauge sie erkennt.“

„Es schadet nicht, wenn die Menschen hie und da Einblick in das Dämonische dieses Berufs gewinnen“, meinte Borsati. „Die großen Werke werden hingenommen, als ob der Himmel sie in einer freigebigen Laune gespendet hätte, und was an Schöpferschmerz dahinter steckt, ahnen nur wenige. Vielleicht soll es so sein, vielleicht ist es gut so, aber im allgemeinen nimmt man es doch zu seelenruhig hin, und wo ein außerordentlicher Mann persönlich auftritt, zeigt sich sofort das Element der frechen Gemütlichkeit, selbst in der Verehrung, die man ihm zollt. Bei Balzac heißt es einmal köstlich: der Kaufmann steht einem Schriftsteller immer mit gemischten Gefühlen gegenüber. Dieses instinktive Mißtrauen ist besonders dem Deutschen eigen.“

„Daran sind aber auch die Schriftsteller schuld“, antwortete Lamberg, „und nicht bloß die mittelmäßigen, deren Unzahl das Land allmählig in eine Ablagerungsstätte von Makulatur verwandelt, sondern auch die besseren Köpfe. Viele von ihnen, sobald sie ihren privaten Kreis verlassen, bieten dem Bürger das unerfreuliche Schauspiel einer schrullenhaften Lebensführung und überflüssiger Extravaganzen. In ihrem sozialen Dasein fehlt das Bindende und Verantwortliche, und da muß eben der Mann aus dem Publikum zutraulich werden, wenn er sich nicht feindselig stimmt. Ist euch der Name Hypolit Paterner im Gedächtnis? Ein Dichter. Man sagt damit heutzutage wenig, aber er war ein Dichter. Sein Name war dem Bildungspöbel geläufig, nicht wegen seiner Leistungen, sondern weil er in einer zynischen Opposition gegen alles Herkommen lebte und seine in Weinbutiken und auf Bierbänken verbrachte Existenz eine für lustig geltende Herausforderung an den Bürger war. Der Alkohol richtete ihn zu grunde. In einem italienischen Nest starb er eines elenden Todes. In seinem Testament war die Bestimmung enthalten, daß sein Kopf abgeschnitten und in Deutschland verbrannt werden sollte; der übrige Körper wurde an Ort und Stelle begraben. Seine Geliebte, eine tüchtige und entschlossene Frauensperson, die ihn bis zur letzten Stunde gepflegt hatte, verpackte den präparierten Kopf in einer Hutschachtel und fuhr damit zur nächsten Bahnstation. Dort mußte sie mehrere Stunden auf den Zug warten, und sie begab sich in eine Kneipe, um ihr Mittagessen einzunehmen. Die Schachtel und mehreres andre Reisegepäck hatte sie neben sich auf Stühle verstaut. Plötzlich kam ein Facchino und trieb sie zur Eile. In der Hast wurde die Schachtel vergessen. Nun saßen in der elenden Osteria einige Fuhrleute und Knechte, die konnten nicht recht schlüssig werden, was mit dem zurückgelassenen Ding anzufangen sei; indes sie eifrig dem Chianti zusprachen, gingen sie endlich daran, die Schachtel zu öffnen, und da zog ein junger Mensch das Haupt des Dichters bei den Haaren in die Höhe und ließ es dann schreckerstarrt auf die Tischplatte fallen. Alle sprangen empor und flohen in abergläubischem Entsetzen. Draußen drückten sie ihre Gesichter an die Fensterscheiben, Mädchen und Frauen und viel Volk aus der Umgebung strömte herzu und sie spürten ein verlockendes Grausen bei der Betrachtung des Schädels, auf dessen wachsbleichem und melancholischem Petroniusgesicht ein kaum bemerkbares Spottlächeln zu schweben schien.“

„Nein, nein, nein,“ rief Franziska, „das will ich nicht hören, und wenn es passiert ist, erspart mir, darum zu wissen. Ach, wie machst du mich schaudern, Georg! Das ist wie ein Fieberbild.“

„Ein teuflisches Epigramm auf ein ganzes Leben,“ sagte Cajetan, „und wenn sich auch unsere liebenswerte Dame entrüstet, hier ergreift mich etwas gleich einem Menetekel. Wie ja oft im Hintergrund dieser anscheinend schnurrigen und barocken Schicksale die tiefste Finsternis gähnt und eine Vergeltung sich erhebt, die keine menschliche Rachsucht hätte ersinnen können.“

„Derselbe Paterner ist es auch, dem die Geschichte mit dem Kometen Styriax zugeschrieben wird“, fuhr Lamberg fort, und seine heitere Miene versprach eine gutartige Wendung.

„Paterner wohnte einmal für ein paar Monate in einer kleinen deutschen Stadt, und zwar in einem sogenannten Familienhotel, eine Bezeichnung, die schon allein seinen Ärger und seinen Hohn wachrief. Er nahm sich vor, die Leutchen ein wenig durcheinanderzuschütteln, und eines Abends, während der gemeinschaftlichen Mahlzeit, erhob er sich von seinem Sessel und hielt mit dem Gesicht eines Totengräbers folgende ernste Rede: „Meine Herrschaften, ich habe soeben ein Telegramm meines Freundes, des Lord Lotterbeck in San Franzisko bekommen. Lord Lotterbeck ist, wie Sie wissen, der bedeutendste Astronom der Gegenwart und Teleskopist an der Licksternwarte. Hören Sie den Wortlaut des Telegramms: ›Komet Styriax seit dreiundzwanzig Stunden in Sicht. Unvermeidlicher Zusammenstoß mit unserem Erdball heute Nacht zwölf Uhr, sieben Minuten. Ordne deine Angelegenheiten, bereue deine Sünden, um zwölf Uhr acht Minuten bist du nur noch ein Liter Wasserdampf. Letzten Gruß vom festen Aggregatzustand, dein Cincinatti Lotterbeck.‹ Meine Herrschaften, es ist jetzt neun Uhr. Sie haben noch drei Stunden sieben Minuten zu leben. Füllen Sie die Galgenfrist mit dem kostbarsten Inhalt, denn mit Himmel und mit Hölle ist es jetzt vorbei, es erwartet Sie das Nichts.“ Zuerst glaubten die erschrockenen Zuhörer natürlich an einen üblen Spaß; als aber zwei Herren, es waren Freunde und Mitverschworene Paterners, Schmierenschauspieler aus der Nachbarschaft, ins Zimmer stürzten, und mit dem Wehgeschrei: Styriax kommt, wir sind verloren! die Fenster aufrissen, die Arme in die Luft streckten und sich so weltuntergangsmäßig verzweifelt geberdeten, daß sie dafür auf dem Theater mit Beifall überschüttet worden wären, hatte es mit der Fassung der Gesellschaft ein Ende. Die Frauen begannen zu schluchzen, die Männer liefen unruhig auf die Straße und kehrten angstschlotternd zurück; indessen hatte Paterner Punsch bereitet, zum Leichenschmaus, wie er sagte, und verteilte die Portionen aus der gefüllten Terrine. Er verkündete, zwischen hundertachtzig Minuten und hundertachtzig Monaten sei vom Standpunkt der Philosophie kein Unterschied, da doch das ganze Leben nur eine Illusion wäre, die beiden Schauspieler wußten auf eine raffinierte Weise die trockenen Gemüter in Brand zu setzen, und nach kurzer Weile ging es ähnlich zu wie unter den Losgelassenen auf der Plassenburg. Aus stillen, tugendhaften Damen brach die Lebensgier hervor, ehrsame Beamte zeigten eine Verwilderung, vor der selbst ein Paterner schamrot wurde, wenngleich er alle schlimme Meinung dadurch bestätigt fand, die sich über die Geknechteten der sozialen Mittelschicht in ihm angesammelt hatte. Über der Stadt draußen lastete ein dumpfes Schweigen; es war eine Märznacht, der Mond war von zwei violetten Höfen umgeben; die betörten Menschen zitterten vor der Drohung der Natur, haltlos schwankten sie zwischen ihrem Jammer und dem tierischen Entzücken über den Besitz einer wenn auch noch so kargen Gegenwart. Die Szene wurde gefährlich; Hysterie und Furcht führen stets zum Taumel der Sinne und steigern sich durch sich selbst. Solche Zustände kann man bei allen geistigen Epidemien beobachten, im Kleinen wie im Großen. Es ist als ob die eingesperrte Bestie im Käfig nur darauf warte, daß die Stäbe gesprengt würden, um die Ohnmacht seiner Lehrer, seiner Prediger, seiner Bändiger zu beweisen. Paterner hatte genug gesehen. Auf so reiche Belehrung innerhalb einer Komödie war er nicht gefaßt gewesen, und bis zum äu???ersten wollte er es nicht treiben. Er erhob sein Glas und sprach: ›teure Erdgenossen! ich erfahre soeben, daß sich mein Freund Lotterbeck um ein Jahrtausend verrechnet hat. Ich erlaube mir, Ihnen zu diesem unerwarteten Glücksfall zu gratulieren. Verwenden Sie diese tausend Jahre so, wie Sie die drei Stunden verwendet haben würden. Ich wünsche eine angenehme Bettruhe.‹ Damit verbeugte er sich und verschwand. Die Gäste des Familienhotels sollen am andern Morgen nach allen vier Himmelsgegenden auseinandergestoben sein.“

„Das Histörchen ist nicht ohne Salz,“ meinte Cajetan. „Aber ich muß doch gestehen, daß mir Figuren vom Schlag dieses Paterner unbehaglich sind. Ich unterschreibe alles, was Georg vorhin über das schrullenhafte solcher Leute geäußert hat. Das wirkt im einzelnen Fall amüsant, als Merkmal eines Lebensprinzips stimmt es mich herab. Man braucht deswegen nicht für sauertöpfisch zu gelten. Ich sage mir, so lang der Deutsche in seinen Künstlern immer noch Bohemiens sieht, ist auf eine edlere Geisteskultur nicht zu zählen. Der Bohemien ist nicht Mitkämpfer, er ist ein Ungesetzlicher, ein Freibeuter, ein Zufälliger. Wehe der Nation, die ihre Künstler nur als pflichtenlose Genießer einer gutmütig zugestandenen Ungebundenheit betrachtet. Die Deutschen haben keine Ahnung, daß der echte Künstler auch ein echter Arbeiter ist. Was für eine verlogene Vorstellung des Malers hat sich zum Beispiel in den meisten Köpfen erhalten? Freilich unter Beihilfe einer gewissen blümeranten Literatur, in der noch heute jeder Maler ein Sammetröckchen, eine fliegende Krawatte und einen Schlapphut trägt und auf seiner Palette das Blut zerrissener Frauenherzen in die Farben mischt. Nein, da ist nichts zu lachen; ich kenne Männer aus der Gesellschaft, die ganz insgeheim der Ansicht sind, die Kunst sei eigentlich doch nur eine Ausrede für Müßiggang und Donjuanerie. Welch ungeheure, ja tragische Konflikte gerade bei den bildenden Künstlern das Handwerk als solches ins Leben ruft, das kann ich am Schicksal zweier Maler darlegen. Ich habe den Bericht von einem genauen Freund des einen und glaube für seine Zuverlässigkeit bürgen zu können. Übrigens sprechen die Ereignisse für sich selbst.“

Alle setzten sich erwartungsvoll zurecht, und Cajetan erzählte die Geschichte der beiden Maler.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der goldene Spiegel