Kapitel 08 - Die Gefangenen auf der Plassenburg.

Noch heute bietet die Plassenburg mit ihren zyklopischen Mauern, schönen Toren, mächtigen Türmen, zierlichen Erkern und Rundbögen einen stolzen Anblick. Es hausten in ihr die Grafen von Andechs, die Herzoge von Meran und das berühmte Geschlecht derer von Orlamünde; hier spann Markgraf Johann, der Alchimist, seine goldsucherischen Träume, verübte Friedrich der Unsinnige seine Greuel, versammelte der wilde Albrecht Alkibiades seine Söldnerscharen, hielt sich die Sachsenkönigin Eberhardine auf der Flucht vor dem schwedischen Karl versteckt, und von den Hussiten- und Bauernkriegen bis zur Leipziger Völkerschlacht hatten kaiserliche, nordische, preußische und französische Generale ihr Quartier in den fürstlichen Gemächern. Und plötzlich, nach all den Grafen und Baronen und Feldherren mit Dienertroß, Kutschen, Pferden und Jagdhunden, nach den prächtigen Gewändern, Puderperücken und goldenen Degen, zogen ganz andere Leute ein, verzweifelte Leute, entehrte Leute, enterbte Leute, arme Teufel, die zwischen den Kiefern des Schicksals zermalmt worden waren, Verführte, Beleidigte, Besessene, Abenteurer, Schwachköpfe, Bösewichter, und das Haus wurde zu einem Behälter des Elends, der Schande, der Wut, der Reue und der Hoffnungslosigkeit. Die Prunkräume sind zu zahllosen kleinen Zellen verbaut, und wo man vordem gescherzt, geschmaust, getanzt und pokuliert hatte, da ist jetzt eine Heimat der Seufzer und eine Stätte des Schweigens.

Vor allem eine Stätte des Schweigens. Denn für die Häftlinge der Plassenburg bestand eine eigentümliche und furchtbare Strafverschärfung: es war ihnen aufs strengste verboten, miteinander zu sprechen. Sowohl im Arbeitssaal, als auch während des Aufenthalts im Hof hatten die Wärter hauptsächlich darauf zu achten, daß kein Gefangener an den andern das Wort richtete, und daß selbst durch Zeichen keinerlei Verständigung vor sich gehe. Auch in den Einzelzellen war es verboten, zu sprechen, und ein beständiger Wachdienst auf den Gängen hatte sich von der Einhaltung des Verbotes zu vergewissern. Wenn ein Sträfling eine wichtige Meldung zu erstatten hatte, etwa inbezug auf sein Verbrechen oder falls er sich krank fühlte, so genügte dem Wärter gegenüber das Aufheben der Hand; er wurde dann in die Kanzlei geführt, und zeigte es sich, daß er von dem Vorrecht in mutwilliger Weise Gebrauch gemacht, so unterlag er derselben Ahndung, wie wenn er unter seinen Genossen geredet hätte: der Kettenstrafe beim ersten Mal, der Auspeitschung bis zu hundert Streichen bei wiederholtem Vergehen. Daß in einem gebildeten Jahrhundert eine so unmenschliche Maßregel zu Recht bestand, ist kaum zu fassen; unter ihrem höllischen Druck sammelte sich die Verzweiflung wie ein Explosivstoff an, in den nur ein Funke zu fallen brauchte, um verderblich zu zünden. Dies geschah in der Zeit, von der ich erzählen will, in der freilich ein allgemein empörerischer Geist dem besondern Irrwesen zu Hilfe kam.


An einem Märznachmittag des Jahres 1848 marschierten zwei wohlgekleidete junge Leute auf der Straße von Bayreuth nach Kulmbach. Sie hatten in ersterer Stadt ihr Gepäck mit dem Postwagen vorausgeschickt und benutzten das schöne Vorfrühlingswetter zu einer willkommenen Wanderung. Sie waren beide Schlesier, und beide waren sie oder gaben sie sich für Poeten, doch sonst hatten sie wenig Ähnlichkeit miteinander. Der eine, Alexander von Lobsien, war ein kleiner, blonder, blasser, schüchterner Jüngling, der andere, Peter Maritz mit Namen, war dick, breit, brünett, sehr rotbackig und äußerst lebhaft. Sie kamen von Breslau, hatten Wien und Prag besucht, wollten nach Weimar und von dort an den Rhein. Peter Maritz, ein ruheloser Kopf, hegte den Plan, nach England zu fahren, die damalige Zuflucht vieler Unzufriedener und Umstürzler, sein Gefährte besaß in Düsseldorf Verwandte, bei denen er zu Gast geladen war.

Land und Leute kennen zu lernen, war bei ihrer Reise nur die vorgespiegelte Absicht; im Grunde waren sie, wie alle Jugend jener Tage, von dem Drang nach Tat und Betätigung erfüllt. In ihrer Heimat hatten sie sich der Geheimbündelei schuldig gemacht, das Pflaster war ihnen zu heiß geworden, und sie hatten das Weite gesucht, als gerade die Obrigkeit damit umging, sich ihrer zu versichern. Man war ihrer Zuvorkommenheit froh und ließ sie ungeschoren. An der Grenze von Böhmen hatten sie durch Zeitungsdepeschen von den Berliner Barrikadenkämpfen erfahren, und ihre gehobene Stimmung wurde nur durch das Bedauern getrübt, daß sie nicht hatten dabei sein dürfen, als das Volk nach langem Schmachten in Tyrannenfesseln – ich bediene mich der zeitgemäßen Ausdrucksweise, – sich endlich anschickte, für seine Rechte in die Schranken zu treten. Auch in West und Süd erhob sich alles, was nach Freiheit seufzte, und so war es denn schmerzlich, besonders für den hitzköpfigen Peter Maritz, so weit vom Spiel zu sein. Er redete fortwährend, lief seinem Genossen stets um fünf Schritte voraus, blieb dann stehen, perorierte und fuchtelte mit den Händen wie ein Tribünenredner. Ich sehe, ihr kennt ihn schon; er erscheint euch als ein harmloser Schwarmgeist, dessen Idealismus von etwas schulmeisterlichem Zuschnitt und dessen Berserkerwut gegen Fürsten und Pfaffen je unschädlicher ist, je geräuschvoller sie sich gebärdet; aber damals waren auch die Fantasten, die aus wohlbewußter Ferne ihre Pfeile gegen Thron und Altar abschossen, gefürchtet und verfemt. Peter Maritz zeichnete sich vorzüglich durch seine Eloquenz aus, die etwas Blutdürstiges und Henkermäßiges hatte; ob er jedoch nicht ein wenig feig war, ein wenig Prahler wie viele korpulente und rotbackige Menschen, das will ich unentschieden lassen. Auch den Nimbus eines Dichters hatte er sich ziemlich wohlfeil verschafft, indem er bei jeder Gelegenheit von seinen himmelstürmenden Entwürfen sprach, diejenigen, die mitunter etwas Fertiges sehen wollten, als elende Philister brandmarkte, und alles, was die Gleichstrebenden hervorbrachten, entweder mit kritischem Hohn verfolgte oder durch den Hinweis auf unerreichbare Vorbilder verkleinerte.

Und wie es oft geht, daß ein Stiller und Berufener, der an sich zweifelt, einem Hansdampf, der von sich überzeugt ist, unbegrenzte Freundschaft entgegenbringt, war es auch mit Alexander von Lobsien der Fall. Er erblickte in Peter Maritz die Vollendung dessen, was er, sich selbst beargwöhnend, nicht erreichen zu können fürchtete. In seiner Rockbrust stak ein Manuskript; es waren Lieder und Gedichte, in denen mit jugendlichem Feuer die Revolution besungen wurde. Er hatte mit seinem Gefährten noch nie davon gesprochen und hielt die Poesien ängstlich verborgen, obwohl er innig wünschte, daß Peter Maritz sie kennen möchte. Aber ihm bangte vor der Mißbilligung des Freundes, dessen Urteil und unerbittliche Strenge seinen Ehrgeiz entflammten und ihm mehr bedeuteten als der Beifall der ganzen übrigen Welt.

Die wohlgehaltene Straße, auf der sie wanderten, bot ihnen bei jeder Wendung einen neuen Ausblick auf das in schönen Spätnachmittagsfarben glänzende Land, und von einer hügeligen Erhebung über dem Main gewahrten sie in der nördlichen Ferne die Plassenburg und die Türme von Kulmbach. Versonnen schaute Alexander hinüber und sagte: „Überall da wohnen Menschen, und wir wissen nichts von ihnen.“ – „Das ist richtig“, antwortete Peter Maritz; „alles das ist Botukudenland für uns. Und warum wissen wir nichts von ihnen? Weil wir vom Leben überhaupt zu wenig wissen. Ha, ich möchte mich einmal hineinstürzen, so ganz zum Ertrinken tief hineinstürzen, und wenn ich dann wieder auftauchte, wollt’ ich Dinge machen, Dinge, sag ich dir, daß der alte Goethe mit seinem Faust alle viere von sich strecken müßte. Gerade dir, mein lieber Alexander, würd’ ich so eine Schwimmtour kräftigst anraten. Du verspinnst und verwebst dich in dir selber, das ist gefährlich, du läßt dich von deinen Träumen betrügen, das Leben fehlt dir, das echte, rasende, rüttelnde Leben.“

Alexander, von diesem Vorwurf schmerzlich getroffen, senkte den Kopf. „Was weißt du vom Volk?“ fuhr Peter Maritz begeistert fort. „Was weißt du von den Millionen, die da unten in der Finsternis sich krümmen, während du an deinem Schreibtisch sitzest und den Federkiel kaust? Du wohnst bei den Schatten, sieh dich nur vor, daß du die Sonne nicht verschläfst. Wie es rund um mich nach Mark und Blut riecht, wie ich das Menschheitsfieber spüre, wie mich verlangt, die Fäuste in den gärenden Teig zu stemmen! Ei, Freund, das wird eine Lust werden, wenn ich von England aus die Peitsche über die dummen deutschen Köpfe sausen lasse! Erleben will ich’s, das Ungetüm von Welt, erleben!“

„Erleben? Ist nicht jede Stunde ein Erleben von besonderer Art?“ erwiderte Alexander zaghaft; „alles was das Auge hält, der Gedanke berührt, Sehnsucht und Liebe, Wolke und Wind, Bild und Gesicht, ist das _nicht_ Erleben? Aber du magst recht haben, ich bin wie der Zuschauer im Zirkus, und auch mich drängt es, den wilden Renner selbst zu reiten. Schlimm, wenn ein Poet in der Luft hängt, ein Schmuckstück bloß für die tätige Nation und sein Geschaffenes zur schönen Figur erstarrt. Ja, du hast Recht und Aberrecht, Peter, es ist ein trübseliges Schleichen um den Brei, seit langem spür ich’s, und mich zieht’s hinunter zu den Dunklen und Unbekannten, nicht um zu schauen, genug ist geschaut, genug gedacht. _Mit_ ihnen möcht ich sein, umstrickt von ihnen, verloren in ihnen.“

„Es läßt sich nicht zwingen, mein Lieber“, entgegnete Maritz mit der Fertigkeit dessen, dem Widerspruch Gesetz ist. „Wenn es dein Fatum ist, geschieht’s. Doch es ist dein Fatum nicht. Deine Natur ruht auf der Kontemplation. Unverwandelt mußt du bleiben, und wenn die Tyrannen Hackfleisch aus ihren Völkern machen, du hast ewig nur deine Feder gegen sie, und nicht das Schwert.“ – „Und du?“ fragte Alexander. – „Ich? Ja, bei mir, siehst du, ist es doch ein wenig anders. Ich, wie soll ich dir das sagen, ich hab die Epoche in meinen Adern, ich platze vor Gegenwart. Da wälz’ ich seit Monaten einen Stoff in mir herum, Mensch! wenn ich dir den erzähle, da kniest du einfach.“

Und Peter Maritz entwickelte in derselben hochtrabenden Suada seinen Stoff. Es handelte sich um einen hamletisch gestimmten Fürstensohn, der, mit seinem Herzen ganz beim Volk, zähneknirschend, doch tatenlos, Zeuge der Bedrückung eines despotischen Regiments ist. Während eines noch zu erfindenden Vorgangs voll Ungerechtigkeit und Felonie kommt es wie ein Rausch über ihn, er tötet den Vater, reißt die Gewalt an sich und verkündet seinen Untertanen die Menschenrechte. Bald zeigt es sich, daß er zu schwach ist, um die Folgen seiner Handlungen zu ertragen, ein jedes Gute, das er schafft, schlägt ihm zum Verderben aus, er vermag die Kräfte nicht zu bändigen, die er entfesselt hat und am Ende töten ihn die, denen er die Luft zum Atmen erst gegeben.

„Was denkst du darüber?“ triumphierte Peter Maritz; „das ist ein Stöffchen, wie es nicht bei jedem Literaturkrämer zu haben ist.“ Alexander fand das Motiv sehr bedeutend; aber er wagte den Einwand, daß der Vatermord keineswegs notwendig sei, im Gegenteil, der alte König müsse zum Mitspieler bei der Niederlage des Sohnes werden. Peter Maritz war außer sich; er raufte sich die Haare; er erklärte dies für die größte Tölpelei, die ihm überhaupt je ins Gesicht hinein gesagt worden sei. Nichtsdestoweniger blieb der sanfte Alexander bei seiner Meinung, und streitend rückten sie in Kulmbach ein. Ihr Reisegepäck befand sich schon in der Torhalle des Kronengasthofs, der starkbeleibte Wirt begrüßte sie mit einem Mißtrauen, das den bei Dunkelheit eintreffenden Fußgängern nicht erspart bleiben konnte. Sein Mondgesicht erhellte sich rasch, als sie sich Eigentümer der beiden Koffer nannten, besonders da auf dem Deckel des einen der Adelscharakter seines Besitzers angedeutet war. Er wies ihnen die besten Zimmer an und führte die Hungrigen hierauf in ein Honoratiorenstübchen, das neben dem allgemeinen Gastraum lag. Peter Maritz hatte sich nach frischen Zeitungen erkundigt, der Wirt hatte mit respektvollem Witz erwidert, er könne nur mit frischem Bier dienen, echtem und berühmtem Kulmbacher. Ohne eine Kraftprobe ließ es aber Peter Maritz keinen Frieden, und mit Fanfarenstimme schmetterte er durch die offene Tür ins Gastzimmer: „bei der Kronen will ich nicht wohnen, nur im Freiheitsschein kredenzt mir den deutschen Wein!“ worüber ein paar ehrsame Beamte, die dort zum Abendschoppen versammelt saßen, ein heftiger Schreck erfaßte, denn bis jetzt war ihre Stadt von allem Aufrührertum verschont geblieben. Flüsternd steckten sie die Köpfe gegeneinander.

Eine Weile unterhielten sich die beiden Freunde ruhig, jedoch beim Käse schlug Peter Maritz ungestüm auf den Tisch und rief: „Ich kann mir nicht helfen, Alexander, aber es wurmt mich, daß dir mein Plan nicht besser einleuchtet. Wenn der Alte, der ein Tyrann vom reinsten Wasser ist, nicht umgebracht wird, ist der Zusammenbruch des Prinzen nicht erhaben genug. Wozu das ganze Brimborium, wenn alles ausgehn soll wie das Hornberger Schießen? Eine Revolution muß mit Fürstenblut begossen werden, sonst ist kein wahrer Ernst dahinter.“

„Tu mit dem König, was du willst,“ entgegnete Alexander maßvoll, „aber daß ihn der eigene Sohn töten soll, das wird den Prinzen in den Augen des Volks nicht ins beste Licht setzen, fürchte ich.“

„Das ist eine Tat, damit rechtfertigt er sich und dadurch wird er schuldig“, schrie Peter Maritz. „Gerade er muß ihn ermorden; wie könnte ich besser die Sklaverei veranschaulichen, unter der das Land keucht? Kann deine empfindsame Seele nicht begreifen, was für eine grandiose Katastrophe das gibt?“

Draußen in der Gaststube war es totenstill geworden. Der Lehrer, der Apotheker, der Schrannen-Inspektor, der Kreisphysikus, sie schauten verstört vor sich hin, der Busen zitterte ihnen unter der Hemdbrust, sie wagten nicht mehr, von ihrem Glas zu nippen. Der entsetzt lauschende Wirt machte mit den Armen flinke beschwichtigende Gesten gegen die heimische Kundschaft und verließ auf den Zehenspitzen das Zimmer. Ein paar Häuser entfernt war die Polizeiwache, und es dauerte nicht lange, so erschienen drei raupenhelmgeschmückte, bis an die Zähne bewaffnete Stadtsergeanten und begaben sich im Gänsemarsch in das Stübchen, wo die beiden Poeten noch immer um das Schicksal einer erdichteten Person rauften. Auch die Bürger und der Wirt drängten sich neugierig und schlotternd gegen die Schwelle. Das Donnerwort: verhaftet im Namen des Königs! brachte eine verschiedene Wirkung auf die Ahnungslosen hervor. Alexander lächelte. Peter Maritz zeigte gebieterischen Unwillen, fragte nach Sinn und Grund, pochte auf die ordnungsgemäß visierten Pässe. Der Hinweis auf den mit seinem Kumpan geführten, von Mord und Aufruhr qualmenden Disput fand ihn von humoristischer Überlegenheit weit entfernt. Er tobte und unterließ nichts, um die guten Leute in ihrem Argwohn zu befestigen. Endlich fielen die drei Gesetzesgewaltigen über ihn her und legten ihm Handschellen an.

Jetzt hörte Alexander zu lächeln auf. Was er für Scherz und Mißverständnis gehalten, sah er ins Schlimme sich wenden. Sein bescheidenes Zureden, erst dem Freund, dann der Obrigkeit, fruchtete nicht. „Wir haben über eine Dichtung beraten“, sagte er höflich zu dem Apotheker, der sich am eifrigsten als Hüter des Vaterlands geberdete. „Nichts da, solche Vögel verstehen wir schon festzuhalten“, war die grobe Antwort. Er ergab sich, überzeugt, daß die Folge alles aufklären würde. Eine Unzahl Menschen füllte nun das Wirtshaus; Rede und Widerrede floß leidenschaftlich. Auf der Straße verbreitete sich das Gerücht, man habe zwei Königsmörder gefangen. Das Echo aufwühlender Ereignisse war auch zu dieser stillen Insel gelangt, Nachrichten von Fürstenabdankung, Bürgerschlachten und Soldatenmeutereien; so wurde man also, abends vor dem Schlafengehen, in den Wirbelsturm gerissen und was Beine hatte, lief herzu.

Peter Maritz knirschte in seinen wilden Bart, auf dem mädchenhaften Glattgesicht Alexanders zeigte sich Betrübnis und Verwunderung. Der Gang zum Polizeihaus war der schaudernd-gaffenden Menge ein willkommenes Spektakel. Ein leidlich humaner Aktuar, den man aus dem Hirschengasthof geholt hatte, und der ein wenig angenebelt war, führte das erste Verhör. Er schien nicht übel Lust zu haben, die beiden Leute für harmlos zu erklären; da traten zwei gewichtige Magistratspersonen auf, die der Meinung waren, daß eine Haft im Polizeigefängnis, das in voriger Woche zur Hälfte abgebrannt war, ungenügende Sicherheit gebe, sowohl gegen die Mordbuben, wie sie sich ausdrückten, als auch gegen den Ansturm des entrüsteten Volks. Peter Maritz rief ihnen mit einem gellenden Demagogen-Gelächter zu: „Nur frisch drauf los! schließlich wird man auch in Krähwinkel Genugtuung finden für die Niedertracht und die Dummheit einer verrotteten Beamtenwirtschaft.“ Das war zu viel. Der Aktuar wiegte sein Köpflein; mit Hmhm und Soso und Eiei bekehrte er sich zu der Ansicht, daß man derart gesinnte Individuen doch auf der Plassenburg internieren müsse, bis man der Regierung den Sachverhalt dargelegt und Befehle eingefordert habe.

Eine Leibesdurchsuchung endete mit der Konfiskation eines Revolvers aus der Tasche von Peter Maritz. Alexander war froh, daß man sein dünnes Manuskriptheftchen, das er im Innenfutter des Gilets trug, nicht entdeckt hatte und daß man mit der willigen Ablieferung seines Kofferschlüssels zufrieden war. Allerdings beunruhigte ihn der Gedanke, daß unter seinen und des Freundes Habseligkeiten sich mancherlei Druckschriften befanden, die nicht dazu dienen konnten, ihre verdrießliche Lage rasch zu bessern.

Der Transport auf die zum funkelnden Himmel getürmte, umwaldete Burg glich einem Volksfest. Peter Maritz schimpfte und fluchte unablässig, aber als sie beim Schein eines Öllämpchens vor dem aktenbeladenen Tisch des Wachoffiziers standen, entschloß er sich, durch Beredsamkeit ein Letztes zu versuchen. Es fing an wie eine Rapsodie und endete wie ein Pater peccavi. Alles war umsonst; der kümmerliche und verschlafene Herr hatte keine Ohren für einen Burschen mit Handschellen. „Zimmer Numero sechzig.“ Das war die einzige Antwort.

Also wenigstens ein Zimmer und keine Zelle; wenigstens zu zweien und nicht allein. Peter Maritz wurde seiner Fessel entledigt. Der Wärter sagte ihnen, daß das Gebot des Schweigens, das hier waltete, für sie nicht giltig sei, da sie noch nicht Verurteilte waren, doch müßten sie sich hüten, einen der Gefangenen anzusprechen. So erfuhren sie zum erstenmal von diesem sonderbaren Umstand, und beiden lief ein gelindes Zagen über die Haut. Durch hallende Korridore, an eisernen Türen vorbei kamen sie in den Raum, der für ihre Haft bestimmt war: vier nackte Wände, zwei Pritschen und ein vergittertes Fenster. Der Schlüsselträger, selbst zur Gewohnheit des Schweigens verpflichtet, deutete auf den Wasserkrug, dann schnappte das Schloß und sie waren im Finstern. „Ach was“, seufzte Alexander, „eine Nacht ist kurz.“ – „Jawohl, wenn sie vorüber ist“, brummte Peter Maritz, der etwas kleinlaut zu werden begann. – „Na, findest du noch immer, daß dein alter König umgebracht werden muß?“ stichelte Alexander mit einem scherzhaften Ton, der echt klang. – „Laß mich in Frieden“, wetterte der Dramatiker, „verdammter Einfall, verdammtes Land.“ – „Nur ruhig Blut“, mahnte Alexander aus der Dunkelheit; „sollte das, was uns passiert ist, nicht auch zu dem großen Leben gehören, das du mir so gepriesen hast?“ – „Mensch, ich glaube, du spottest meiner“, rief Peter Maritz wütend. – „Mit nichten, Freund. Ich denke eben darüber nach, wer wohl die übrigen Schloßbewohner hier sein mögen, und von wem uns diese Mauern rechts und links scheiden. Ich komme mir vor wie in die tiefste Tiefe des Menschengeschlechts entrückt, und wenn ich mir gegenwärtig halte, wie viel Herzen rings um uns mit aller Blut- und Pulseskraft nach Freiheit schmachten, dann will mich unser Unglück nicht mehr so groß dünken.“ – „Der Geschmack ist verschieden, sagte der Hund, als er die Katze ins Teerfaß springen sah. Das Zeugs, worauf ich liege, ist steinhart, trotzdem will ich schlafen, weil ich sonst verrückt werden müßte vor Wut.“

Kurze Zeit nach dieser übellaunigen Replik schnarchte Peter Maritz schon. Alexander jedoch, mit dem Gefühl des Neides und mit dem andern Gefühl leiser, fast noch wohlwollender Geringschätzung gegen den Freund, überließ sich seinen Gedanken. Er war eine jener geborenen Poetennaturen, denen Welt und Menschen im Guten wie im Bösen eigentlich nie ganz nahe kommen können, als ob ein Abgrund des Erstaunens dazwischen bliebe. Nur das Schauen gibt ihnen Leidenschaft, nur die Teilnahme über den Abgrund hinüber gibt ihnen Schicksal; zu leben wie die andern, von Welle zu Welle gewirbelt, würde sie zerreißen und entseelen. Deshalb vermochte er mit neugieriger Ruhe auf das Kommende zu blicken, das sich seiner Ahnung mehr als seiner Vernunft vorverkündigte.

Welche Phantasie wäre auch imstande gewesen, eine Wirklichkeit wie die hinter diesen Mauern zu malen, ohne daß leibliche Augen gesehen hatten, ohne zu wissen und empfunden zu haben, was das Schweigen hier bedeutete? Die fünfzig oder sechzig Sträflinge, die zur Stunde in der Veste waren, hatten beinahe vergessen, den Verlust der Freiheit zu beklagen, hatten die Übeltaten vergessen, durch die sie die Gemeinschaft mit freien Menschen eingebüßt, und jeden erfüllte nur ein einziger Wunsch: reden zu dürfen. Nichts weiter als dies: reden zu dürfen. Darin unterschied sich der Jüngling nicht vom Greis, der Phlegmatische nicht vom Hitzigen, der Einfältige nicht vom Klugen, der wortkarg Veranlagte nicht vom Schwätzer, der Trotzige nicht vom Bereuenden. Der Neuling ertrug es noch; im Anfang schien es manchem leicht; um ihn war die Luft noch von gesprochenen Worten voll, Gehörtes und Gesagtes tönte noch in ihm. Drei Tage, zehn Tage, zwanzig Tage vergingen; was er zuerst kaum bedacht, dann nur als lästig empfunden, war noch immer nicht Qual; die Stille entwirrte seinen Geist, Erinnerungen stellten sich ein, ein Laut der Liebe, das mächtige Wort eines Richters, die Mahnung eines Priesters, die Bitte eines Opfers, all das gab dem Nachdenken Stoff, der Dunkelheit einiges Licht.

Aber da wurde er gewahr, im Arbeitssaal etwa, oder beim Gottesdienst in der Kapelle, was in den Zügen der Jährlinge wühlte. Das Zusammensein mit den Genossen regte eine Frage auf; er durfte nicht fragen. Ein Geräusch im Haus, Stimmen aus dem Wald, Tierschreie drangen an sein Ohr; er durfte nicht fragen. Der Unvorsichtige sühnte schwer, wenn er sich vergaß. Die nicht gesprochenen Worte belasteten das Gedächtnis; wenn einer den andern anschaute, bewegten sie die Finger, hauchten in die Luft, scharrten mit den Füßen, strafften oder runzelten die Stirn, blinzelten oder schlossen die Augen, und diese Merkmale der Ungeduld bildeten eine Sprache für sich. Lief eine Maus über den Boden des Arbeitsraumes, so zitterten sie; die Lippen des einen rundeten sich zum Ruf, die des andern zum Lachen, Arme streckten sich aus, eine ungeheure Spannung war in ihnen, bis die Aufseher mit ihren Stäben auf die Tische schlugen und mit Blicken die Zungen bändigten, die sich regen wollten.

In der Zelle für sich ganz leise hinzusprechen, ins leere Nichts zu murmeln, machte das Verbotene nur fühlbarer und befriedigte so wenig wie den Durstigen die Feuchtigkeit des eigenen Gaumens labt. Mit dem Fingernagel oder mit einem Holzspan Worte, Hieroglyphen, Köpfe in den Kalk der Mauern zu ritzen, steigerte das Verlangen nach dem Schall. Es überwand oft jedes Bedenken, jede Furcht, und mancher meldete sich zu einer Mitteilung. Gefragt, was es sei, erwiderten sie, vom bloßen Klang der Sprache entzückt, sie hätten ein neues Geständnis zu machen und bezichtigten sich einer Untat, die sie nie begangen hatten, nannten erfundene Namen, schilderten Umstände und Verwicklungen, die jeder Wahrscheinlichkeit entbehrten. Man war darauf gefaßt; das Abenteuerliche wurde schnell durchschaut, dem Ungereimten weiter nicht nachgeforscht und der Lügner ertrug die Strafe, froh, daß er hatte sprechen dürfen, daß er Worte gehört, daß man ihn verstanden, ihm geantwortet hatte.

Aber in der Folge, im Verlauf der stummen Tage, Wochen und Monate erschien ihm seine Zunge wie ein verdorrtes Blatt, und alles rings um ihn wurde grauenhaft lebendig. Dies aufgezwungene Schweigen machte die Dinge laut; die Einsamkeit wäre den Zellenhäftlingen erträglich gewesen, wenn das mitteilende Wort sie an Raum und Zeit und Zeitverlauf gebunden hätte; nun war sie ein Schrecken. Wer kann es aushalten, immer bei sich selbst zu weilen? Der Sinnvollste, der Gesegnetste nicht. Was im Menschen innen ist, strebt nach außen, und äußere Welt soll doch nur Gleichnis sein. Diesen Gefangenen aber, alt und jung, schuldig oder minder schuldig, böse oder mißleitet, wurde alles Leben zu einem Draußen, einem Losgetrennten, Gespensterhaften und Geheimnisvollen, auch ihre Laster und ihre Wünsche, ihre Verbrechen und die Wege dazu.

So dachte sich der eine den Wald, durch den er täglich vom Dorf zur Ziegelbrennerei gegangen war, wie eine finstere Höhle, erinnerte sich, obwohl Jahre seitdem verflossen waren, an gewisse Bäume, glattrindige, mit ausgebreiteten Wipfeln, und Gräben und Löcher im Pfad waren wie Furchen in einem Antlitz. Andern war ein Pferd, auf dem sie geritten, ein Hund, den sie abgerichtet, ein Vogelbauer vorm Fenster, eine Tabakspfeife, die sie besessen, ein Becher aus dem sie getrunken, der Winkel an einer Stadtmauer, ein Binsendickicht am Fluß, ein Kirchturm, ein schmutziges Kartenspiel zu beständig redendem Bild geworden, worin sie sich verspannen, das ihnen Brücken schlug zum ungehörten Wort. Sie versetzten sich in Räume, sahen mit verwunderlicher Genauigkeit alle Gegenstände in den Zimmern der Bürger, in Häusern, an denen sie nur vorübergewandert: Ofen und Spind, Sofa und Pendeluhr, Tisch und Bücherbrett, und alles hatte Stimme, all das erzählte, all dem antworteten sie, jedes Dinges Form da draußen, in fern und naher Vergangenheit, war Wort und Sprache.

Unter diesem Mantel des Schweigens hatte die Reue keine Kraft mehr. Deshalb dachten sie in verbissenem Haß der Umstände, die sie einst überführt. Den einen hatte eine Fußspur verraten, den andern ein Knopf, den dritten ein Schlüssel, den vierten ein Blatt Papier, den fünften ein Geldstück, den sechsten ein Kind, den siebenten der Schnaps. Nun beschäftigte er sich tage- und nächtelang mit diesem Einzelnen, zog es zur Rechenschaft, fluchte ihm, sah alle Gedanken davon regiert, erblickte es in jedem Traum. Und die Träume waren angefüllt mit Gesagtem, ein Chor von Stimmen tobte darin, und sie tönten von nievernommenen Worten. Die Träume waren für sie was einem Kaufmann seine Unternehmungen, einem Seefahrer seine Reisen, einem Gärtner seine Blumen sind. Brach dann für einen, der seine Strafe abgesessen, die Stunde an, die ihn der menschlichen Gesellschaft wiedergeben sollte, so taumelte er schweigend hinaus zum geöffneten Tor, die Gewalt des Eigenlebens, das er plötzlich zu verantworten hatte, erdrückte Hirn und Brust; die Luftsäule, die Sonne, die Wolken brausten in seinen Ohren, es wirbelte ihn nur so hin, er mußte in die nächste Kneipe flüchten und trinken, und es soll sich ereignet haben, daß einige ihrem Leben freiwillig ein Ende bereiteten, nur darum, weil sie nicht gleich einen Gefährten fanden, um zu reden.

In eine solche Welt also waren, durch Mißgeschick halbkomischer Art, die beiden jungen Männer verschlagen worden. Als Peter Maritz am Morgen erwachte, schlief Alexander noch, denn er hatte erst spät den Schlummer finden können. Peter rüttelte ihn, äußerte sich spöttisch über die Langschläferei und behauptete, er habe kein Auge schließen können. Hiezu schwieg Alexander. Nach einigem Herumschauen machte er den Freund lächelnd auf einen Spruch aufmerksam, der neben dem Fenster an die Mauer geschrieben war. Er lautete: „Bis hierher tat der Herr mich hilfreich leiten, er wird mich auch einmal vom Galgen schneiden.“ Darunter hatte eine ungeübte Hand gekritzelt: „Wenn ich einen Galgen seh, tut mir gleich die Gurgel weh.“ An einer anderen Stelle war ein Beil gezeichnet, mit den Worten: „Der Teufel hol die Hacke.“ Neben der eisernen Tür war folgender Reim zu lesen: „Herr Gott, in deinem Scheine, laß mich nicht so alleine, und gib mir Gnade zu fressen, doch nicht so schmal bemessen wie du dem Sünder gibst, den du so innig liebst.“

„Das nenn ich ein erbauliches Gemüt“, sagte Peter Maritz, „und es ist immerhin tröstlich zu wissen, daß wir uns unter Kollegen befinden.“ Erst nach einer Stunde erschien der Wärter, fragte, ob sie ihre Kost bezahlen wollten, und nachdem sie sich dazu verstanden, besorgte er Brot, Fleisch und Wein. Peter Maritz forderte ungestüm, vor den Richter geführt zu werden; er erhielt keine Antwort. Ein neuer Wutanfall packte ihn, als die Tür wieder versperrt wurde; es dauerte lange, bis Alexander ihn beschwichtigt hatte, und dann zeigte er sich sehr niedergeschlagen. Alexander begab sich an das vergitterte Fenster, das einen Ausblick auf den Burghof verstattete, und er sah eine lautlose Kolonne von Sträflingen, die von einem halben Dutzend bewaffneter Aufseher geführt, paarweise mit langsamen Schritten über das Steinpflaster wandelten.

Nie zuvor hatte er eine solche Schar wüster und trauriger Gestalten erblickt; bleiche, grauhäutige Männer, mit tiefen Kerben um die Mundwinkel, mit rauhen Haarstoppeln am Kinn, oder auch langbärtig, oder auch ganz glatt, wie es die geborenen Verbrecher oft sind. Die Köpfe waren geschoren, die Hälse meist auffallend hoch und dünn, Arme und Beine schlenkerten kurios. Ein Bursche ragte um Haupteshöhe über die andern; er schien kaum zu atmen, seine Augen waren zugekniffen, der Mund stand offen und hatte einen Zug von diabolischer Gemeinheit. Neben ihm ging ein Mensch mit einem Gesicht, das einer Schinkenkeule glich, roh, gedunsen, tierisch. Ein Schmalbrüstiger, Hinkender fletschte die Zähne, ein Rothaariger lachte stumm, ein bäurisch Ungeschlachter hatte einen Ausdruck idiotischer Schwermut, ein schlanker Kerl lächelte süß und infam. Einer sah aus wie ein Matrose, stämmig, weitblickig, breitgängerisch, ein anderer wie ein Soldat, ein dritter wie ein Geistlicher, ein vierter wie ein verkommener Roué, ein fünfter wie ein Schneider, doch alle nur wie Schattenbilder davon, trübsinnig und geisterhaft, ins Innere versunken wie in einen Schacht und nach außen hin nur lauschend gleich Hunden, die sich schlafend stellen und schon bei einem Windstoß die Ohren spitzen. Das Geräusch ihrer Schritte schien ihnen wohltuend; als eine Krähe schnarrend über ihren Häuptern hinzog, schreckten die einen zusammen, die andern hefteten starr und finster die Blicke empor.

Alexander rief den Freund und deutete hinaus. Peter Maritz runzelte die Brauen und meinte, das sei eine schöne Sammlung von Charakterköpfen. Das Fenster war offen, die zuletzt Vorbeiziehenden hörten sprechen, ihre Gesichter wandten sich den zweien zu, unermeßlich erstaunt, dann drohend, grinsend, begierig und wild. Die Aufseher ballten drohend die Faust hinauf und winkten, Alexander und Peter traten bestürzt zurück. Lebhaft bewegt, schlug Alexander die Hände zusammen. „Was für Menschen“, murmelte er, „und doch Menschen!“ – „Dich dauern sie wohl?“ fragte Peter zynisch. „Spar dein Mitleid, es macht dich dort zum Schuldner, wo du nicht handeln kannst. Handle, reiß ihnen die Herzen auf! Treib’ sie gegen das Philisterpack! Freilich, da ziehst du den Schwanz ein, du Dichterjüngling, weil du träg bist und keine Rage in dir hast.“

Alexander bebte, er griff nach seinem Manuskript, seine Augen brannten und mit einer Geberde schönen Zorns warf er Peter Maritz die Blätter vor die Füße. Ruhig bückte sich der andre darnach, ruhig fing er an zu lesen, schüttelte hie und da den Kopf, machte ein zweifelndes, ein gnädiges, ein überlegenes, ein prüfendes, ein unbestechliches Gesicht, und schließlich, dem Harrenden glühten schon die Sohlen, er schämte sich, bereute schon, schließlich sagte Peter Maritz: „Ganz hübsch. Recht artig. Eine gewandte Metrik und nicht ohne Originalität in der Metapher. Aber was sollen Verse, mein Lieber? Das ist für die Frauenzimmer. Wenn du ehrlich bist, mußt du zugeben, daß du ein schlechtes Gewissen dabei hast.“ Alexander hätte weinen mögen; er verbiß seinen Schmerz, entgegnete aber nichts. Das Heftchen steckte er wieder in die Tasche, reicher an Erfahrung und um ein Gefühl ärmer, als er vor einer Stunde gewesen. Mit hoffnungsloser Miene grübelte er vor sich hin, während Peters Ungeduld beständig wuchs.

Wenn man in der Stadt nicht der eintreffenden Revolutionsnachrichten aus dem Reich halber in Angst und Aufregung geraten wäre, hätte sich wohl unter den Beamten und Gerichtspersonen ein besonnener Mann gefunden, den die Verhaftung der beiden Reisenden bedenklich gemacht hätte. Trotz der verbotenen Bücher, die man in ihren Koffern entdeckt hatte, ließ der Aktuar den Wunsch verlauten, sie in eine minder entwürdigende Umgebung zu bringen. Der Beschluß darüber wurde aber vertagt, und so kam es, daß die unrechtmäßig Eingekerkerten in die Ereignisse der folgenden Nacht verwickelt wurden.

Es war am Morgen ein neuer Sträfling angelangt, ein Friseur namens Wengiersky, der wegen Kuppelei zu zwei Jahren verurteilt war. Er hatte sich schon bei der Kopfschur ungeberdig benommen, und als die Hausordnung verlesen wurde, insonderheit der Paragraph vom Schweiggebot, lachte er verächtlich. Im Arbeitssaal musterte er die Kameraden mit flackernden Blicken, stand eine Weile mürrisch und untätig, rührte sich erst nach dem dreimaligen Befehl des Aufsehers, plötzlich aber schrie er in die Todenstille des Raums mit einer gellenden Stimme: „Brüder! wißt ihr auch, daß man im ganzen Land die Fürsten und Herren massakriert? Eine große Zeit bricht an. Es lebe die Freiheit!“ Weiter kam er nicht, drei Aufseher stürzten sich auf ihn, und obgleich er nur ein schmächtiges Männchen war, hatten sie Mühe, ihn zu überwältigen. Er wurde sofort in Eisen gelegt.

Die Sträflinge zitterten an allen Gliedern und sahen aus wie Verhungernde, an denen eine duftende Schüssel vorübergetragen wird. Erst allmählich wirkte das gehörte Wort; es gab also diese Möglichkeit, die bisher nur wie Fantasmagorie und Wahnsinn in den verborgensten Winkeln ihres Geistes gewohnt hatte? Und wenn es die Möglichkeit gab, dann konnte sie erfüllt werden. Sie konnte nicht nur, sie mußte. Es ging eine furchtbare Verständigung von Blick zu Blick vor sich. Es war fünf Uhr nachmittags; um halb sechs sollten sie in die Zellen zurückkehren. Die Wärter, den nahenden Aufruhr mehr spürend, als seiner gewiß, beschlossen, die Arbeitsstunde zu kürzen; auf das erste Kommando wurden die Werkstücke niedergelegt: Putzlappen, Nadel, Zwirn, Korbrohr, Hobel, Sackleinwand, auf das zweite zum Antreten, stieß auf einmal der Riese, Hennecke war sein Name, einen heiseren Ruf aus, warf sich über den ersten Aufseher, umschlang ihn und schleuderte ihn zu Boden. Im Nu folgten die Gefährten seinem Beispiel; keuchend und dumpf jauchzend schlugen sie ihre Peiniger nieder, banden sie mit Baststricken, stopften ihnen Knebel zwischen die Zähne, dann setzte sich Hennecke an die Spitze des Haufens und drang in den Korridor. Sie waren dreiunddreißig; vierundzwanzig befanden sich in den Zellen, fünf in Dunkelhaft. Die Schar teilte sich; die größere Anzahl unter dem Befehl Woltrichs, eines blatternarbigen Diebes, zog zur Kanzlei und zum Wachthaus, um die Schreiber, die Nachtaufseher, den Posten am Tor, die Wache selbst zu überrumpeln und unschädlich zu machen. Ein Unteroffizier, der verzweifelt Widerstand leistete, wurde getötet. Der Gewehre hatten sich die Meuterer mit umsichtiger Schnelligkeit versichert; das Haupttor wurde zugeschlagen und von innen abgesperrt, und die Gefesselten wurden in einen Keller hinuntergeschleift. Inzwischen hatte Hennecke sämtliche Zellen geöffnet und auch die Kettensträflinge befreit. Die ganze Horde wälzte sich aus dem dunklen Eingang in den Schloßhof. Hennecke fragte, ob einer von den Muffmaffs, wie sie die Obrigkeits- und Aufsichtsorgane nannten, entkommen sei, worauf der mit dem Schinkenkeulengesicht erwiderte, er habe einen Soldaten den Berg hinabrennen sehen. Es wurde beschlossen, eine Wache auszustellen, und Hennecke kommandierte einen Alten auf die Mauerbrüstung. Widerwillig gehorchte der, weil er sich ungern von den Brotlaiben, Würsten und Bierfässern trennte, welche die Genossen aus der Kantine herzuschleppten.

Auch Peter Maritz und Alexander Lobsien waren befreit worden. Sie traten unter den Letzten in den Hof und duckten sich scheu in einen Winkel. Am liebsten hätten sie sich unsichtbar gemacht; in ihrer Zelle hätten sie sich wohler befunden. Das Heldenherz von Peter Maritz schrumpfte zusammen; er erwog die Annehmlichkeit von Gesetz und Polizei; es ist eine mißliche Sache mit Ideen, die in Tat umgesetzt werden, wenn man gerade dabei ist und mitspielen soll. Alexander hingegen war so kalt, wie es die Leute von Fantasie nicht selten werden, wenn sie ernstlich in Gefahr geraten. War doch so viel vom Leben schwadroniert worden; er sagte sich, daß wirkliches Erleben nur zu finden ist, wo das Leben abgewehrt, nicht wo es aufgesucht wird. Hier drang Geschehen und Leiden, Schicksal auf Schicksal gegen ihn ein wie Lichtstrahlen durch eine zersprengte Tür.

Die anbrechende Nacht wurde den Meuterern unbequem. Ein gewisser Hahn, Buchbinder seines Zeichens und wegen seines Pergamentgesichts der gelbe Hahn geheißen, schlug vor, den Holzstoß neben dem Wachthaus anzuzünden. Die Scheite wurden in die Mitte des Lagers geschafft, bald flammte das Feuer auf und beleuchtete die ruhelosen Gestalten, die verwitterten Züge, kahlen Köpfe, grauen Kittel und ununterbrochen sprechenden Mäuler mit schwarzen, schiefen, einschichtigen oder gelbblitzenden Zähnen. Denn jetzt brach ein fieberhafter Redesturm los. Manche fanden nur allmählich den Mut; erst nippten sie wie glückselige Trinker, dann kam über alle der Rausch. Sie schrieen und gellten durcheinander, lachten und tobten grundlos, räkelten sich auf der Erde, patschten in die Hände, johlten unflätige Lieder oder auch ein kindisches Eiapopeia, umarmten einander, zerschlugen Gläser und Töpfe, rauften, fluchten, meckerten, weinten, pfiffen, tranken und stopften faustgroße Bissen in den Rachen.

Der Alte auf der Mauerbrüstung, ein vielfach abgestrafter Wildfrevler, sang fortwährend ein und dieselbe Strophe: „Wie wir leben, so halten wir Haus, morgen ziehn wir zum Land hinaus,“ immer in derselben schläfrigen und langgezogenen Tonart, nur um am allgemeinen Lärm teilzunehmen. Woltrich zählte an den Fingern auf, was er bei seinem letzten großen Fang gestohlen hatte: neunzig Silbergulden, zwei Armbänder, eine Elfenbeinkassette, ein Dutzend goldene Schaumünzen und vierzehn Uhren. Und strahlend rief er: vierzehn Uhren! vierzehn Uhren! als ob sie noch in seinem Besitz wären. Ein Mensch mit einer winzigen Nase, der heitere Konrad genannt, redete mit Entzücken von der Brandstiftung, die er begangen und wie er sich dadurch an einem wucherischen Bauern gerächt. Der mit dem infamen Lächeln hieß Gutschmied und war ein zu sechs Jahren verurteilter Hochstapler. Er war viel in der Welt herumgekommen, war immer vierspännig gefahren, wie er versicherte, und trug noch einen Rest von noblen Manieren und gravitätischem Benehmen zur Schau. Er kannte alle Hehler der großen Städte, verachtete die Juden und liebte den Kaviar. Er hatte dem Herzog von Nassau eine Mätresse abspenstig gemacht und einen Reichshofrat um zehntausend Taler betrogen. Er verstand sich auf Edelsteine und beklagte es, daß er einmal, um nicht erwischt zu werden, einen kostbaren Sternsaphir verschluckt habe, der nie mehr zum Vorschein gekommen sei.

Ihn überschrie mit Kastratenstimme einer, der seiner Geliebten Gift in den Salat gemengt hatte. Er behauptete, nicht er habe das Weibsbild geschwängert, sondern der Ortsschulze; auch sei kein Gift im Salat gewesen, sondern Glasscherben, und gestorben sei sie, weil sie dreißig Jahre lang an Kolik gelitten. Ein anderer, der Sohn eines Schäfers, hatte ein ganzes Dorf betrogen durch die Vorspiegelung eines unter Ruinen vergrabenen Schatzes; den Ärmsten hatte er ihre Ersparnisse mit der geheimnisvollen Phrase entlockt, er müsse die bösen Geister des Schatzes besänftigen, und durch nächtliche Beschwörungen und feierlichen Hokuspokus hatte er die einfältigen Leute in eine wahre Hysterie der Habsucht versetzt. Und da war Hennecke, der einer umgehauenen Buche wegen gemordet, im Jähzorn den Nachbar erschlagen hatte; seine Gedanken hafteten noch immer an dem Baum, dessen Wipfel das Gemüsebeet hinter seinem Haus zerstört hatte. Wie ein aus Eisen gegossener Riese stand er, kalt und wild. Da war ein Müller, der den Knecht erstochen hatte, weil er die Frau verführt und der nicht müde wurde, zu schildern, wie er vom Wirtshaus zu früherer Stunde als sonst heimgekehrt und die Treppe hinaufgeschlichen und wie das ehebrecherische Weib ihm entgegengestürzt und wie das Kind geweint und wie der Schuft entfliehen gewollt und wie er den Leichnam in den Bach geworfen und wie er in den Wäldern herumgeirrt, sein winselndes Knäblein an der Hand. „Da griffen sie mich,“ sagte er, „da griffen sie mich, und der Bub hatte solchen Hunger, daß er den Mehlstaub von meinen Ärmeln leckte.“ Der gelbe Hahn erzählte von einer Erbschaft, die ihm hätte zukommen sollen und die sein Schwager an sich gerissen. Da hatte er Briefe gefälscht und Zeugen der Sterbestunde zum Meineid beredet. Wehmütig klang seine Trauer um das verlorene Erbe, Gold und Scheine zählte er auf und schwärmte, wie er damit hätte genießen können, wie er ein schuldenfreier Mann geworden wäre, den Sohn hätte er Theologie studieren lassen. Die zwei Bauern, die für ihn den falschen Eid geschworen, waren auch zugegen, frömmelnde und scheinheilige Gestalten; sie leierten Gesangbuchverse und tranken Schnaps. Peckatel, ein Totengräber aus dem Spessart, hatte einem durchreisenden Fremden den Hals abgeschnitten, und das war so zugegangen: er hatte zugleich den Beruf eines Barbiers versehen; da er aber meist Leichname rasierte, so konnte er dies Geschäft an den Lebendigen nur verrichten, wenn sie auf dem Rücken lagen wie Tote; als er nun den Fremden vor sich liegen sah, dachte er: was für einen schönen, glatten Hals der Mann hat, und so schnitt er den verführerischen Hals durch und bemächtigte sich der gefüllten Geldkatze seines Opfers, nur um des schönen, glatten Halses willen.

Betrüger, Diebe, Straßenräuber, Erbschwindler, Kuppler, Meineidige, Bankrottierer und Fälscher, sie alle redeten vom Geld, priesen oder verfluchten das Geld, das sie bezaubert, berauscht und verraten hatte.

Fern vom Feuerkreis, einsam auf einem Holzblock gekauert, saß Christian Eßwein, ein Mann von fünfzig Jahren, mit langem grauem Bart, durch Blick und Geberde eine stille Gewalt ausübend. Welch ein Dasein! Im Strom der bürgerlichen Existenz tauchen manchmal Figuren von heroischer Prägung auf, deren Weg nur darum zum Abgrund führt, weil ihnen die tragische Lebenshöhe fehlt; Gemeinsamkeit bindet ans Gemeine.

Er hatte alles probiert, was ein Mann probieren kann, um sich und den Seinen Brot zu verschaffen. Er war Schmelzer, Seifensieder, Oblatenbäcker, Handschuhmacher, Wirt, Gärtner, Knecht, Kleinkrämer und Händler gewesen, aber was er auch beginnen mochte, das Unglück war stets hinterher. War die Wirtschaft gerade im Aufblühen, so brach die Cholera in der Stadt aus; hatte er zweitausend Oblaten gebacken, so kamen die neuen Blättchen mit der Namenschiffre in Mode, und sein Vorrat wurde wertlos; kaufte er Schweine für den Winter ein, weil sie billig waren, da der Bauer kein Futter hatte und verkaufen mußte, so hatten die Händler ebenfalls viele Schweine erworben und verdarben ihm die Preise; bewahrte er Schinken und Würste für den Sommer, so trat eine entsetzliche Hitze ein und verdarb alles; waren einmal Ersparnisse im Haus, so erkrankte die Frau und Arzt und Apotheker verschlangen das bißchen Geld. Er arbeitete Tag und Nacht, aber die Arbeit trug keinen Segen; es war als ob er von schattenhaften Feinden umstellt sei, und endlich lähmte ihn die Furcht vor dem Verhängnis dermaßen, daß er bei jedem Beginnen schon des üblen Ausgangs gewärtig war. Er war nicht beliebt; er verscherzte es mit der Kundschaft durch ein kurzes und allzu sachliches Wesen. Sein stolz verschlossener Sinn konnte von den Mitbürgern nicht gewürdigt werden. In seiner Familie war niemals Zwist. Am Abend saß er entweder beim Schachbrett, in die Lösung von Problemen vertieft, oder er las schöne Bücher vor, am liebsten die Lebensbeschreibungen seiner Helden Abd el Kader, Ibrahim Pascha und Napoleon. Eines Tages kaufte er ein Klassenlos, und in einer Anwandlung froher Laune versprach er seiner Schwägerin, die dabei war, die Hälfte des Gewinns, wenn das Los gezogen würde. Das Los kam mit zweihundert Talern heraus. Er schickte die jüngere Tochter, um das Geld abzuholen; sie verlor es unterwegs; es waren Staatsscheine, das Geld war hin. Kein Wort des Vorwurfs kam aus seinem Mund; nicht nur, daß er das Mädchen tröstete, sondern er bezahlte auch unter den schwersten Opfern, weil das Gewinnerglück bekannt geworden war und man den Verlust als schnöde Ausrede betrachtet hätte, seinem Versprechen gemäß hundert Taler an die Schwägerin.

Seine beiden Töchter liebte er über alle Maßen. Er hatte sie nie zur Schule geschickt, sondern beide selbst unterrichtet. In ihnen verkörperte sich seine Lebens- und Schicksalsangst, für sie zitterte er vor der Zukunft. Es war Weihnachten vorüber, und nur noch ein einziger preußischer Taler war im Haus. Die Uhr der Jahre schien abgelaufen, die Zeit selber still zu stehn, Hoffnungslosigkeit verrammelte alle Wege. Eßwein war müd und mürb; der ewige nutzlose Kampf hatte ihn verworren und verzweifelt gemacht, seine Gedanken gehorchten ihm nicht mehr, böse Ahnungen verfinsterten seinen Geist. Am ersten Januar mußte die Miete für das Häuschen bezahlt werden, am ersten Januar war ein Wechsel fällig, der Viehhändler verlangte sein Geld für gelieferte Schweine. Frau und Töchter wollten leben; wovon? Das Geschäft war so gut wie vernichtet, alle Vorräte weg, und Eßweins Erwägungen kreisten bang um den einzigen Taler, den letzten Schutz vor dem Bettlertum. Er zergrübelte sich das Hirn nach einem Aushilfsmittel; umsonst. Eine schlaflose Nacht folgte der andern, und nun lagen noch drei Tage da, der Sonntag, der Montag und der Dienstag. Allein aus der Welt gehen durfte er nicht. Die Frauen preisgegeben! der Armut, der Schande, der Bosheit, dem Laster verfallen, hingestreckt vor dem ungerührten Schicksal, beleidigt, besudelt, zertreten! Vielleicht, daß die Mutter ehrenhaft ihr Brot finden konnte, aber die Töchter nicht; Jungfrauen, unschuldige, vertrauende Geschöpfe. Die eine, schön und stolz, schwermütig und weich, mit ihren zwanzig Jahren noch des Lebens Fülle erwartend; die fünfzehnjährige, vor der Zeit erblüht, heiter und anmutig, ohne Falsch, ohne Wissen von der Welt, was sollte aus ihnen werden? Sie werden ihre Käufer finden, sagte sich Eßwein, sie werden sich der Reinheit entwöhnen, sie werden die Hand beschmutzen, niedergeschleudert von der Gewalt des Elends. Wenn es Knaben gewesen wären; aber Töchter! Töchter! Es gibt einen Punkt, wo das Gefühl eines Vaters tyrannischer wird als das eines Verliebten, noch angstvoller erregt von den Drohungen des Geschicks. Ein Kind ist Eigentum, trotzte Eßwein, eigen Fleisch, eigen Blut; seine Ehre ist meine Ehre, seine Schmach die meine. So gab ihm die Liebe Kraft zu der furchtbaren Tat. Er schickte sein Weib mit einem Auftrag in das nächste Dorf, wo sie auch übernachten sollte. In wunderlichen Gesprächen verbrachte er mit den Töchtern den Abend; er war eine Art Philosoph und hatte sich vieles von den Lehren der alten Mystiker zu eigen gemacht. Die beiden Mädchen gingen zur Ruhe, für die Ewigkeit zur Ruhe. Kein lüsterner Geck soll euch nahen, rief ihnen Eßwein im Geiste zu, kein Unwürdiger eure keusche Brust öffnen; der Verrat nicht zu euch dringen, Notdurft euch nicht peinigen, die Kälte der Herzen euch nicht frieren machen. Wenn auch nur der entfernteste Hoffnungsstrahl geleuchtet hätte, und wenn es nicht ein Werk der Liebe gewesen wäre, so hätte ihm sicherlich der Mut gefehlt, als er mit der Schußwaffe an das Lager der Jüngsten trat, um sie noch einmal zu küssen, bevor er sie der Menschheit entwand. Und nun hinüber, schmerzlos hinüber, auch die andere, nicht minder geliebte hinüber, dann zum Ende mit dem eigenen Dasein. Aber die Kugel traf das Herz nicht. Er sank nieder, er atmete noch, er lebte weiter; du stirbst nicht, du kannst nicht sterben, das Schicksal läßt dich nicht aus seiner Faust, schrie es in ihm. Das Auftauchen von Menschen, die Wochen der Heilung; Haft, Gericht, Verhör, das alles war ein einziger schwarzer Traum, bis endlich das ersehnte Todesurteil verkündet wurde. Schuldig konnte er sich nicht finden, aber den Tod wünschte er mit allen Kräften seiner Seele herbei. Und „das Schicksal läßt mich nicht!“ schluchzte er erschüttert, als ihm der Richter die Begnadigung des Königs vorlas. „Am Leben bleiben!“ rief er; „gezüchtigt durch Zuchthaus für eine solche Tat, die dem Himmel selber abgerungen war! Eingekerkert mit dem Abschaum der Kreaturen!“ Er wollte sich durch Verhungern töten, aber die körperlichen Erniedrigungen, denen er sich dadurch aussetzte, zwangen ihn, dieser Absicht zu entsagen.

Jetzt, hervorgezerrt aus dem Frieden seiner Zelle, trug er die ganze Beschwer und Finsternis der Vergangenheit um sich, und während die andern gegeneinander sprachen, redete es in ihm. Es war etwas Aufgerissenes in seinem Gesicht; es wehte Todesluft um ihn. Vielleicht fühlte er in dieser Stunde, daß er ein Verbrechen begangen, erkannte das Einzige, Einmalige, Unwiederbringliche und Heilige des Lebens und daß er kein Recht besessen, den Fügungen Gottes vorzugreifen. Die Sträflinge beachteten ihn kaum; sie wichen ihm in Wort und Blick aus. In Alexanders Nähe erzählte Wengiersky einem gewissen Deininger, der wegen Kurpfuscherei verurteilt war, Eßweins Geschichte so verzerrt und böse, wie eben der seelenlose Klatsch berichtet, denn er war aus derselben Stadt wie Eßwein und hatte alles sozusagen miterlebt.

Alexander bedurfte der Auslegung nicht und spürte die Wahrheit hinter dem Gehechel. Schicksale haben ihren Geruch wie Leiber. War er denn nicht dazu da, sie zu empfinden? Nannte sich Dichter als einer, der schaut, mit tiefen Augen? Die Elenden schauen, ihren Krampf, ihre Not, ihre zum Häßlichen entstellte Sehnsucht, ihre Schreie von unten auf hören, ihr unterirdisches Dasein wissen? Und was sie scheidet von den Oberen, nennt es Verbrechen, diesen Zufall einer Stunde, diese unlösbare Verworrenheit eines dunklen Geistes und armen Herzens, nennt so den Trotz der Verfolgten, den Zwang der Besessenen, den Irrtum der Gewaltsamen; was sie niedergeworfen hat, ist auch in mir, wächst, will und seufzt in mir, umflutet mir den Traum, lemurisch groß. O, wie sie leben, dachte Alexander versunken; und wie ich sie alle gewahre, diese und hinter ihnen andre, ihre Brüder und Schwestern, ihre Ahnen und ihre Kinder, diese und die draußen, den Landmann am Pflug, den Drechsler an seiner Bank, den Schuster vor der Wasserkugel, den Schmied am Windbalg, den Maurer an der Mörtelgrube, den Bergknappen im Schacht, den Uhrmacher, die Lupe am Aug’ und auf die Rädchen lugend, den Schlächter und sein Beil, den Holzfäller im Wald, den Boten, der Briefe bringt, den Drucker am Setzkasten, den Fischer auf dem Meer, den Hirten bei der Herde; die vielen Schweigsamen, die keine Worte haben, alle die unten sind, weil sie keine Worte haben, und die nach den Oberen verlangen, nach den Mächtigen, die mächtig sind, weil sie Worte haben, ihnen deswegen dienen, weil sie Worte haben, sie deshalb zu vernichten trachten, weil sie Worte haben. Denn Worte haben bedeutet: Wissen, Schätze, Ehre, Kraft und Sieg haben. Worte bedeuten Leben. Und diese haben keine Worte, fuhr der junge Dichter zu grübeln fort, ich aber besitze die Worte und bin ihnen das Begehrte und die Gefahr zugleich. Doch nur fern von ihnen besitze ich die Worte, mitten unter ihnen bin ich stumm; was sie reden, ist Stummheit für mich, was ich rede, Stummheit für sie. Verstünden wir einander, es wäre der Schrecken aller Schrecken; sie würden mir aus der Brust zu reißen suchen, was Gott ihnen versagt hat, sie würden mich zermalmen in ihrer Wut. Ich muß fern von ihnen bleiben, um nicht zermalmt zu werden. Wirklich leben, heißt zermalmt werden von denen, die stumm sind.

Indessen war die Aufregung der Meuterer beständig gewachsen. Der Lärm war ohrenzerreißend. Offenbar ahnten sie, daß die Herrlichkeit nicht lange dauern könne, und wiewohl ihnen Wengiersky immer von neuem versichert hatte, im deutschen Reich gehe jetzt alles drunter und drüber, auch das Militär sei rebellisch, war ihnen keineswegs geheuer zumut, und sie entfesselten sich mit doppelter Gier. In einen Ruf war ein Erlebnis gepreßt; einer berauschte sich am Außersichsein des Andern; Prahlerei klang wie Beichte, Hohn wie Reue; sie brüsteten sich mit Roheiten und schlechtes Gewissen schimmerte wie fahle Haut durch einen zerfetzten Rock. Daß sie gehungert, damit schmückten sie sich; daß sie hinterm Busch gelegen mit einem Mädchen, war heldenhaft; daß sie den Richter belogen, gezahlte Arbeit nicht vollendet, daß ein niedriger Schurkenstreich nie ans Licht gekommen, darüber lachten sie sich toll. Der eine schwärmte von einem Kalbsbraten, den er auf der Kirmes verzehrt, der andre von Wohlleben und Jungferieren, der dritte plätscherte förmlich in Unflätigkeiten; einer hüpfte mit beiden Füßen und gluckste nach Hennenart; zwei, die schon betrunken waren, hatten einander umhalst und wimmerten dabei; ein krüppelhafter Bursche stieß Gotteslästerungen aus; Hennecke erzählte, daß er einst einen Bocksbart, in die Haut eines schwarzen Katers gewickelt, am Hals getragen, um sich stich- und schußfest zu machen; der Schatzgräber sprach von der Zauberblume Efdamanila, mit der man alles Gold in der Erde finden könne; der Hochstapler, dessen Hirn ein Sammelsurium geschwollener Romanfloskeln war, schilderte ein Liebesabenteuer mit einer Fürstin, der er dann die Diamanten gestohlen hatte. Der heitere Konrad fragte vielleicht zwanzigmal, ob jemand die Geschichte des Majors Knatterich kenne, der sich in Sachsen für den russischen Kaiser ausgegeben. Dazwischen hörte man Worte, wie: „ich wills ihm schon geben, wie Johannes dem Herodes will ichs ihm eintränken“; oder: „dem Amtmann hab ich einen glupischen Streich angetan, der dreht sich im Sarg noch ’rum, wenn er meinen Namen hört.“ Unmöglich, dies Höllenwesen zu beschreiben; Alexander Lobsien gefror das Mark in den Knochen, und schaudernd dachte er: das alles enthältst du, Leben, du Nußschale, du ungeheures Meer! Peter Maritz zitterte wie Espenlaub; mit leiser Stimme sprach ihm Alexander Mut zu. Er erwiderte: „Ein Hundsfott hat Mut. Ein Kerl, der auf sich hält, kann hier keinen Mut haben. Es ist des Teufels mit der bürgerlichen Gesellschaft, daß ihr solche Geschwüre am Körper wachsen. Mut, wo mirs an die Nieren geht? Ein Hundsfott hat Mut.“

Auf einmal stürzte ein gewisser Jamnitzer, seines Zeichens Friseur wie Wengiersky, ein schwerer Verbrecher, ein Mörder, der die Manie gehabt, seine Opfer zu frisieren, wenn sie tot vor ihm lagen, und der nur deshalb, als kranker Geist, dem Strick entgangen war, dieser Jamnitzer also stürzte aus dem Tor des Gefängnishauses und wies mit Geberden voll Entsetzen zurück ins Finstere. „Der Eßwein,“ keuchte er, „der Eßwein.“

Urplötzlich ward es stille. Nur der Alte auf der Mauerbrüstung leierte seinen blöden Gesang weiter. Dann schwieg auch der. Die Sträflinge erhoben sich und drängten sich zusammen. Haupt um Haupt stieg aus dem Feuerkreis, und die vielen feuchtglitzernden Augen fragten angstvoll, was geschehen sei. Jamnitzer deutete mit beiden Armen in die Halle; der Adamsapfel an seinem hohlen Hals bebte schluckend auf und ab.

Sie ahnten; der Unheimliche, war er nun endlich zu seinen Töchtern entronnen? Er, dem auch die Freiheit Gefangenschaft war, der die Worte verschmähte, dem keine Mitteilung mehr hatte dienen können? Alexander, als er die wilden, tiergleichen Menschengesichter lauschend und feuerglühend dicht nebeneinander sah, verlor allen inneren Halt, er taumelte gegen das offene Tor, und ein Schrei entrang sich seiner Kehle. Peter Maritz packte ihn und preßte die Hand um seinen Arm, aber es war schon zu spät; sechzig Augenpaare veränderten die Richtung ihres Blicks und hefteten die Aufmerksamkeit gegen die beiden, die sie auf einmal als Fremde erkannten; Furcht, Mißtrauen und Haß sprühten aus ihren Mienen. „Es sind Spitzel;“ „es sind Spione;“ „wer sind sie?“ „wo kommen sie her?“ So wurde gekündet und gefragt. Die Vordersten schoben sich gegen sie hin. „Wer seid ihr?“ gellte eine drohende Stimme aus dem Haufen. – „Ja, wer seid ihr?“ wiederholte der Riese Hennecke; „Eier- und Käsebettler vielleicht? Muttersöhne und Milchmäuler?“ – „Die wollen Hasauf spielen,“ schrie Gutschmied. – „Die kommen aus einer guten Küche,“ ein dritter. – „Die sind weich wie Papier, wenns im Wasser liegt,“ ein vierter. „Heraus mit der Sprache, ihr Schweiger!“ rief Hennecke und ballte die Faust.

Alexander stotterte eine Erklärung, doch sie verstanden ihn nicht. Ein abscheuliches Durcheinanderschreien begann, voller Wut drängten alle näher, da trat ihnen Peter Maritz in seiner Herzensangst entgegen und brüllte mit Donnerstimme: „Ruhig, Brüder! Wir gehören zu euch! Wir sind Revolutionsleute! Wir sinds, die euch frei gemacht haben! Wir haben Lieder gedichtet, die den Tyrannen in die Fenster geflogen sind, verderblicher als Kanonenkugeln.“ – „Hurrah!“ heulten die Meuterer. „Her mit den Liedern! Zeigt uns die Lieder! Singt uns eure Lieder! Heraus damit!“

Peter Maritz blickte seinen Gefährten flehend an. Alexanders Miene war verstört. Der Atem der auf ihn Eindringenden verursachte ihm Übelkeit. Sie forderten stürmischer, ihr argwöhnischer Haß war nicht vermindert, Alexander schämte sich für den Freund und fürchtete doch auch für sich, mechanisch zog er sein Gedichtheft aus der Tasche, schlug das erste Blatt um und fing an zu lesen. Die Worte widerten ihn an. Trotz jäh eingetretener Stille vermochte ihn keiner zu hören; die hintersten drängten sich wütend vor, noch war der allgemeine Grimm im Wachsen, da entriß Peter Maritz das Manuskript aus Alexanders Hand, stellte sich in große Positur und las mit schmetternder Stimme:


Ich richt euch einen Scheiterhaufen,
auf dem das Herz der Zeit erglüht,
mein Volk will ich im Blute taufen,
das sich umsonst im Staube müht.

Ich will euch Freiheitsbrücken zeigen
und Kronen, die der Rost zerfraß,
euch müssen sich die Fürsten neigen
und wer im Gold sich frech vermaß.

So öffnet denn die dunklen Kammern
und strömt hervor wie Gottes Schar,
es soll mich heute nicht mehr jammern,
daß gestern Nacht und Grausen war.

Auf denn, ihr Armen und Geschmähten,
du seufzend hingestrecktes Land,
genug der ungehörten Reden,
setzt nur das alte Haus in Brand.

Zerschlagt, was mürb und morsch im Staate,
von eurer Not klagt Dorf und Flur,
den stolzen Henkern keine Gnade,
zerschmettert Höfling und Pandur.

Der Feige mag vergebens zittern,
der Held macht seine Brüder kühn,
und aus zerbrochnen Kerkergittern
wird neue Welt und Zeit erblühn.

Eine andächtige Stille folgte. Wie Schulkinder am Lehrer, der zum erstenmal vom Evangelium spricht, sahen sie empor, die Zuchtlosen, die Gemeinen, die Verräter am Eigentum, am Leben, an sich selbst und an der Menschheit. Nachdem sie eine Weile wie atemlos geblieben, brach jählings ein Begeisterungsjubel von einer Vehemenz los, daß die Mauern der Burg davon erschüttert schienen. „Wer hat das gemacht?“ „Eine tüchtige Chose.“ „Ein wackeres Stück.“ „Das geht wie Trompetenschmalz.“ „Geschrieben hat er’s?“ „Auf Papier steht’s geschrieben?“ „Der Dicke hat’s gemacht?“ „Nein, der Kleine.“ „Wer? der Kleene?“ „Der Kloane?“ „Der Schmächtige?“ „Tausendsassah.“ So johlte, schrie, gellte, fragte, antwortete es in allen Dialekten durcheinander.

Peter Maritz, auf einem leeren Faß stehend, schaute mit triumphierender Miene herab, denn schon hatte er sich mit Würde in seine Tyrtäos-Rolle gefunden, und es war ihm etwas unbequem, daß sich der Beifall des entflammten Publikums an Alexander richtete. Doch erschrak er, als zwei der aufgeregt tobenden Sträflinge den Freund emporhoben, und ihn über den vom Feuer lohenden Platz gegen das geschlossene Burgtor trugen. Die übrigen begriffen, was im Werke war;

„Zerschlagt, was mürb und morsch im Staate,
von eurer Not klagt Dorf und Flur;
den stolzen Henkern keine Gnade,
zerschmettert Höfling und Pandur!“

sangen sie in einer Melodie, die sie irgend einem Vaganten- oder Soldatenlied entnommen hatten. Fünf oder sechs Kerle rissen den hölzernen Querriegel vom Tor, die Flügel taten sich weit auseinander, und der berauschte, gefährliche Haufe wälzte sich ins Freie.

Mit totenbleichem Gesicht hockte Alexander auf den Schultern seiner Träger. Gedanken von einer absurden Zerstücktheit schwirrten ihm durch das Hirn. Schon beim Anhören seiner Verse war es ihm zumut gewesen als hätte ihn Gott auf einer Lüge ertappt. Es ist alles nicht wahr, schrie es in ihm, ich habe euch und mich selbst betrogen. Jetzt weiß ich erst was ihr seid, und weiß was ich bin, aber die falschen Worte werden mich und euch verderben. Trug und Mißverständnis schienen ihm so ungeheuerlich, daß ihm die Erde wie verkehrt war, wie wenn man Häuser auf die Dächer baut und Kirchen über ihre Türme stülpt. Zwischen Furcht und Begreifen, zwischen Menschenliebe und Menschenhaß, Dichtertraum und Erlebnisqual schwankte sein zerrissenes und nach Wahrheit schmachtendes Herz, und ihm wurde kalt wie im Fieber. Lüge, Lüge, Lüge, knirschte er, doch in einer letzten, herrlichen Vision erblickte er ein Bild des Lebens, das ihn in eine Wolke geisterhaften Schweigens hüllte und ihn vom Schmerz der Schuld und des Irrtums befreite.

Es war gelindes Wetter und Mondschein. Durch die Allee der blätterlosen Bäume funkelten die Lichter der Stadt herauf. Vom Hof der Plassenburg lohte das halbverbrannte Feuer den Davonziehenden nach, die plötzlich mitten in ihre aufrührerischen Gesänge hinein den Schall von Trommelwirbeln vernahmen. In der Raserei des Trotzes setzten sie ihren Weg fort. Peter Maritz, durch die Dunkelheit geschützt, war dem Sträflingshaufen vorausgeeilt, als er das militärische Signal gehört hatte. Ihm bangte um das Schicksal des Kameraden, und erleichtert seufzte er auf, als von fern die Helme und Bajonette aus der Nacht blitzten. Der Zusammenstoß erfolgte rascher als die Meuterer gedacht. Eine Kommandostimme befahl ihnen über einen Zwischenraum von zweihundert Schritten, sich zu ergeben. Sie antworteten mit einem Wolfsgeheul. Da prasselte die erste Gewehrsalve. Von einer Kugel durchbohrt, stürzte Alexander Lobsien lautlos von den Achseln seiner Träger auf das Schottergestein der Straße herab. Die Sträflinge wandten sich zur Flucht.

Zwei Stunden später saß Peter Maritz unten im Leichenhaus neben dem Körper seines toten Freundes. Seine Betrachtungen waren sehr ernsthaft und nicht ohne Reue und Selbstvorwurf. Kann man besser als durch den Tod bezeugen, daß man gelebt? Stand hier ein Wille über dem Zufall, damit das versucherische Wort vom Schicksal erfüllt würde? War dies groß oder niedrig beschlossen? häßlich oder schön geendet? Es kommt nur auf das Auge an und den Sinn, der es faßt. Über den vergehenden Menschen bleibt die unendliche, aufgeblätterte Schönheit einer stummen Welt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der goldene Spiegel