Kapitel 10 - Nimführ und Willenius.

Als Willenius seine erste Ausstellung im Propyläensaal veranstaltete, war er dem engen Kreis von Fachgenossen, die in der Stille das Urteil über einen Künstler prägen, längst kein Unbekannter mehr. Das Publikum blieb der neuen Größe gegenüber frostig, aber die vom Handwerk gerieten aus dem Häuschen und in den Künstlerkneipen wurde von nichts anderem geredet. So hatte noch niemand einen Baum, eine Wiese, die Luft einer sommerlichen Mittagsstunde, den Schritt eines Säers, die Bewegung eines Holzhackers gesehen und gemalt. Man wußte nicht, was mehr zu bestaunen sei, die Leidenschaftlichkeit der Anschauung oder die asketische Strenge der Technik, die gestaltende Kraft, die alle Erscheinung auf einfachste Linien zurückführte, oder die Kühnheit, mit der ein hundertfältiges Spiel des Lichtes und der Reflexe von einem festen, ja starren Kontur bezwungen wurde.

Jahrelang gehörte Willenius zu den täglichen Stammgästen eines kleinen Kaffeehauses hinter der Akademie; er hockte meist allein in einem Winkel, entweder mit dem Skizzenbuch beschäftigt oder stumm vor sich hinbrütend, wobei er aus einer englischen Pfeife rauchte. Er war ein langer, magerer Mensch mit bartlosem Gesicht, in welchem ein dünner, greisenhafter Mund und schwarze, fast glanzlose Augen saßen. In seinen Manieren war etwas Geschraubtes, und er grüßte die flüchtigsten Bekannten mit einer feierlichen Grandezza, die halb komisch, halb rührend war und auf viel erlittenes Elend schließen ließ. Eines Tages war er verschwunden, und erst geraume Zeit nachher erfuhr man, daß er sich irgendwo auf dem flachen Land niedergelassen habe. Dort lebte er mit den Bauern wie ein Bauer. Die Bedürfnisse dieses Mannes waren primitiv; er rechnete nicht darauf, mit seiner Arbeit mehr Geld zu verdienen als man unbedingt braucht, um zu vegetieren, schon deswegen nicht, weil ihm seine Bilder kein Vollendetes waren; sie galten ihm nur als Merkzeichen auf den Beginn eines ungeheuren Wegs, als Ahnungen, Versprechungen, Versuche, Fragmente, Visionen.


Er achtete sich nicht; er liebte sich nicht; er war sich selber nichts. Er war ein Sklave, der Sklave eines Idols, eines Begriffs; eines Dämons, der den Namen Kunst führt und der seine freien Triebe und Neigungen verschlang. Harmloser Genuß der Stunde, Atem und Herzschlag ohne die Tyrannei dieses Molochs war nicht zu denken, nicht einmal ein Traum, der sich seinem Bann entzog. Ein Impuls von geheimnisvollster Beschaffenheit, ohne Ruhmsucht, ohne Eitelkeit, ohne Hang nach äußeren Begünstigungen; eine ununterbrochene Kette von Leiden und Opfern, ein ununterbrochenes Bereitsein, eine beständige krampfhafte Spannung aller Nerven, das war die Existenz dieses Menschen.

Willenius malte seine Bilder nicht, er schleuderte sie aus sich heraus. Leichenblaß stand er vor der Staffelei; die Augen, gierig und angstvoll aufgerissen, erinnerten an die eines Sterbenden unterm Operationsmesser. Oft nahm er sich die Zeit nicht, die Farben auf die Palette zu bringen, sondern ließ sie aus der Tube gleich auf die Leinwand laufen, aus Furcht, daß die Lebendigkeit der innerlichen Vorstellung sich trüben könnte, bevor er den Ton getroffen, den er sah und fühlte. Dabei war er von geradezu fanatischer Ehrlichkeit gegen das Modell. Er hätte es vielleicht über sich gebracht, in eine Wohnung einzudringen und aus einem Schrank bares Geld zu stehlen; aber, abgeschreckt durch die Schwierigkeit der Zeichnung und Komposition, einem Weidenstrunk statt der vier Krümmungen, die er hatte, nur drei zu geben, das war unmöglich; und darin lag auch die Wurzel des blutigen Ringens, denn sein Instinkt sagte ihm, daß in der Kunst das Unscheinbare das Zeugende sei und daß es ebensowohl das Zerstörende werden müsse, wenn es sich nicht an die Wahrheit der einmaligen Halluzination gebunden hielt. Entweder stimmte die Sache, oder sie stimmte nicht; dazwischen gabs nur eines, das Verworfenste von allem: den Dilettantismus.

Welche unsägliche Qual gewisse aufeinanderplatzende Valeurs von brennendrot und schmutzigbraun verursacht hatten, die nun so verwegen als selbstverständlich den tückisch verschleierten Halbtönen der Natur Einheit und Glaubhaftigkeit verliehen, davon begriffen diejenigen nichts, die von der Natur im Vorübergehen Kleinbild um Kleinbild empfingen und denen die sinnlose Zerstückelung als Reichtum erschien. Die nicht spürten, daß die sogenannte Natur ein Chaos ist, ein Sammelsurium, ein Wörterbuch, und daß jenes Schauen, welches dem Ungeformten eine Form abzwingt, der ungeistigen und toten Fülle durch Abbreviatur und Beseelung Leben schenkt, den Organismus tiefer und heißer in Anspruch nimmt als eine Liebesumarmung oder die Überwindung eines Feindes. Ja, Feind und Geliebte war die Natur; Feind und Geliebte war, was Wirklichkeit hieß, voller Finten und Schliche und Beirrungen, lügnerisch, schmeichlerisch, verführerisch und letzten Endes unbesiegbar. Das Auge mußte sich bis ins Innerste der Dinge bohren, und es durfte nicht die Epidermis beschädigen, während es das Geschäft des Anatomen betrieb.

Als Willenius dreieinhalb Jahre in jener dörflichen Abgeschiedenheit gehaust hatte, beschloß er, wieder in die Stadt zu ziehen. Es hatte sich ein reicher Kunstfreund für seine Produkte interessiert, der Verkauf einiger Bilder sicherte ein mäßiges Auskommen, und er mietete ein geräumiges Atelier, wo er eine Anzahl seiner Studien auszuführen gedachte.

Es war im November. Schon in den ersten Tagen hörte Willenius von einer Ausstellung im Künstlerverein. Ein neuer Mann, Johannes Nimführ, hatte dort seine Arbeiten an die Öffentlichkeit gebracht. Man erzählte sich wunderliche Dinge von ihm; er habe acht Jahre lang auf einer Insel im Südmeer gelebt und mit den Eingeborenen wie mit seinesgleichen verkehrt; er sei unzugänglich wie der Dalailama und nähre sich bloß von Brot und Äpfeln. Einige Leute wollten sich halbtot gelacht haben über die bengalische Kleckserei, wie sie es nannten, die Kritiker taten persönlich beleidigt, selbst die von der Zunft schnitten bedenkliche Gesichter und nur ein paar waghalsige Sonderlinge verkündeten ihre Begeisterung.

Eines Nachmittags begab sich Willenius hin, um die Bilder anzuschauen. Erst schritt er langsam von Leinwand zu Leinwand, dann blieb er mit hängenden Armen stehen, die Fäuste geballt, den Rücken gebeugt, den Kopf gierig vorgestreckt, die Lippe zitternd.

Es waren Landschaften. Das Meer und ein Fischerboot; südliches Meer, und am Strand nackte wilde Frauen; Frauen hingelagert auf ein Fell, am Stamm einer Palme lehnend, zu einem silbernen Fisch sich bückend; Wiese, Fels und Himmel simpler als ein Kind sie zeichnen würde; alles Leben in der Farbe; Licht, Bewegung, Umriß, Leib, Seele und Symbol, alles in der Farbe; keine Wirklichkeit mehr, nur Traum, und alle Wirklichkeit hineingeschlüpft in den Traum, so daß es ein Spiel schien, die Wiedergeburt einer Welt ohne Kleinlichkeit, eine Anschauung des Inner-Innersten, Zusammenfassung des Subtilsten, Stil ohne Manier, Erhabenheit ohne Finesse, die verwandelte und zur Ruhe gefrorene Natur, eine majestätische Synthese.

Und wie waren diese Dinge gemacht! Es war, um den Verstand zu verlieren. Nichts von Absicht auf Komposition und Wirkung, nirgends ein unreiner Strich, ein Überbleibsel der Hand; keine Aufdringlichkeit der Gegensätze, kein Schwindel und Notbehelf mit Punktation und Perspektive. Ja, es war hier ein einzigartiger, und fast erschreckender Verzicht auf Hintergrund und Raumverhältnis geschehen, so daß der ungewohnte Blick es lächerlich finden konnte und nur der unschuldige das Bild, schlechthin das Bild zu erfassen vermochte.

Willenius war wie von Krankheit befallen. Mehrere Nächte hindurch schlief er nicht. Er hatte nie den Wunsch gehabt, die Bekanntschaft irgend eines Menschen zu machen; Nimführ zu sehen und zu sprechen war jetzt sein ungestümstes Verlangen. Die Gelegenheit fand sich bald, da er täglich die Ausstellung besuchte. Nimführ, von einem jungen Maler auf Willenius aufmerksam gemacht, stellte sich ihm selbst vor. Er war ein hünenhaft gebauter Mann, sehnig wie ein Lastträger, mit langem gelblichem Gesicht, starken hohen Backenknochen und schütterem Haarwuchs.

Sie gerieten in ein Gespräch, das um halb fünf Uhr nachmittags begann und um drei Uhr nachts in einer öden Vorstadtgasse endigte. Es war ein zehnstündiges Einanderbelauern und -aushorchen. Die Sicherheit des jüngeren Mannes beunruhigte Willenius; sein Urteil über andere Künstler kam aus den höchsten Regionen, wo nur die Eingeweihten sich durch Geheimzeichen verstehen. Er kannte Willenius’ Arbeiten; daß er sie schätzte, eröffnete er nur mittelbar, indem er eine berühmte Größe, die von der Menge bewundert, selbst von Kennern gepriesen wurde, verachtend daneben aufstellte wie einen Harlekin neben ein Monument. Nichts kam der überlegenen Ruhe gleich, mit der er seinen eigenen Mißerfolg behandelte. „Die Menschen sind dem Künstler zu nichts nutze“, sagte er, „Kunst ist das Einsamste, was es auf Erden gibt, und wo sie verstanden wird, muß man ihr schon mißtrauen.“

Bald war es so weit, daß die beiden Männer Tag für Tag einander trafen. Den Silvesterabend verbrachte Nimführ in Willenius’ Atelier, und als es zwölf Uhr schlug, trank er Bruderschaft mit ihm. Ein zweites Atelier war im selben Hause frei, Nimführ bezog es. Er habe noch zwei Jahre ausführender Arbeit vor sich, äußerte er, dann wolle er nach Mexiko reisen. Willenius, vielfach angeregt durch die abendlichen Unterhaltungen mit dem Freund, malte täglich acht bis neun Stunden. Nimführ warnte ihn vor einem Mißbrauch seiner Kräfte. „Neue Einflüsse wollen gären, ehe sie sich in Gestalt umsetzen“, meinte er, „wer zu schnell verdaut, zehrt ab.“

Willenius horchte auf. Neue Einflüsse? Was sollte das heißen? Stützbalken an einem baufälligen Haus? Er war empfindlich wie alle in sich selbst Verstrickten. Seine Liebe zu Nimführ, von Bewunderung und Ehrfurcht gezeugt und von jener nahrhaften Sachlichkeit getragen, die bloß unter Bauern und Künstlern existiert, vermischte sich mit Angst und Abwehr. Freilich war es anspornend, ihn zu beobachten, der so herrisch frei in seinem Bezirk waltete. Ihm waren Hand und Auge eins; was er schuf, löste sich souverän vom Material; was er schaute, war sein Eigentum. Willenius hingegen mußte die Erde erst in Stücke reißen, bevor sich ihm ein Ganzes gab; sein Schaffen war ein heimlicher Raub; er mußte die Natur überlisten, beschleichen und verraten, denn sie gewährte ihm von selber nichts, und vom Auge zur Hand war der Weg so weit wie vom Paradies zur Hölle.

Nimführ erblickte darin einen Krampf. Voll höchsten Respektes vor dem Können des Freundes glaubte er helfen zu müssen. „Du richtest dich zu grund, Menschenskind“, sagte er eines Tages, „du verbeißt dich in die Leinwand und läßt dich von ihr fortschleppen wie von einem Raubtier. Schließlich erliegt dir ja die Bestie immer wieder, das ist wahr, aber so kann man nicht leben, dabei muß man verbluten. Und das macht einen Kerl von Genie klein, wenn er an den Dingen verblutet, die er schafft. Füttern sollen uns die Sachen, fett machen sollen sie uns, reicher machen, unterkriegen müssen wir sie.“ Willenius sah den Freund mit seinen dumpfen Augen von unten herauf an und erwiderte: „Wenn der Hund zwei Flügel hätte, wär er ein Vogel, immerhin ein wunderlicher Vogel, aber er könnte fliegen. Über fundamentale Gattungsverschiedenheiten zu rechten, ist müßig. Laß mich nur laufen, laß mir meinen mühseligen Weg, und sei du froh, daß du fliegst.“

Es ließ aber Nimführ nicht; er wollte diesen unterirdischen Schmied aus seiner drangvollen Enge befreien. Sie kamen in Streit über die pastose Manier, in der eine sonnengrell beschienene Ziegelwand gemalt war; über den Eigensinn, der sich in der Durchführung eines Wolkenkonturs gefiel; über das lärmende Nebeneinander von Farbenflecken auf einer Herbstlandschaft. Nimführ wollte dergleichen bescheidener haben, er wollte es maßvoller haben, kurzum, er wollte es anders haben. „Siehst du, Paul“, rief er einmal spät in der Nacht, „das Persönliche ists, das uns Leuten, wie wir da sind, das Konzept verdirbt. Wir pressen uns jeden Gegenstand inbrünstig an die Brust, und vor lauter Verliebtheit vergessen wir die Haltung, die Götterhaltung, ohne die unser bestes Geschöpf keine bessere Rolle spielt als ein verzogenes Kind.“

Willenius runzelte die Stirn und schwieg. Haß zuckte in seinem Gesicht. Wer bist du und was wagst du? schien sein niedergeflammter Blick zu fragen. Stellst du ein Prinzip gegen meine Welt, so stell’ ich mich selbst gegen dein anmaßendes Verdikt. „Hast du dein Bild heute fertig gemacht?“ erkundigte er sich nach einer Weile; „du wolltest es mir noch zeigen.“

Als Willenius am nächsten Vormittag das Bild sah, überlief ihn ein Schauder. Es war ein nackter Knabe, an einen Felsblock gekauert, weiter nichts. Der Knabe war häßlich, der Felsblock häßlich, doch das Ganze war wie Seele eines Märchens, das enthüllte Geheimnis der Atlantis, ohne eine Spur des Pinsels hingehaucht. Willenius reichte Nimführ stumm die Hand. Nimführ lächelte ein bißchen geschmeichelt, und wenn er lächelte, hatte er Ähnlichkeit mit einer alten Frau. Dieses Lächeln durchbohrte Willenius wie ein Messer. Ihm war, als wolle Nimführ damit sagen: überspring die Kluft von einem Stern zum andern, von dir zu mir geht doch kein Pfad.

So regte sich die brennendste Eifersucht, die je ein Bruderherz zerwühlt hat; Eifersucht – Wetteifersucht. Vielleicht ist schon im Mythos von Kain und Abel etwas von der Sehnsucht und dem Haß, dem Schmerz und der Liebe enthalten, aus denen sich die Eifersucht zwischen Künstlern nährt, von jener Qual hauptsächlich, die eher das eigene Ungenügen als das Verdienst des Andern zerstörend fühlbar macht. Willenius spürte sich gewachsen, als er begriff, daß er aus dem Kreis des Versuchens und der Vorbereitung treten müsse, daß er endlich ein Werk schuldig sei, obwohl er erkannte, daß man, um ein Werk zu geben, schamlos sein müsse, schamlos und kalt.

Als es Sommer wurde, fing er an. Der Vorwurf war folgender: ein reifes Kornfeld; ein glutblauer Himmel wie an einem Tag nach Gewittern; hinter dem in der Fülle schwankenden Getreide zieht sich das weiße Band einer niedrigen Mauer, und hinter der Mauer schreitet straff eine junge Magd mit einem Wasserkrug auf dem Haupt. Der Vordergrund wird durch ein Beet roten Mohns gebildet, das die ganze Breite des Feldes besäumt. Es waren Gegensätze von überraschender Verwegenheit, ein Fünfklang von Blau, Gold, Weiß, Braun und Purpur, der von allen unreinen Zwischentönen befreit war. Wochen und Wochen hindurch stand Willenius täglich von sechs Uhr morgens bis zwei Uhr nachmittags draußen und entwarf über dreißig Skizzen. Der Eindruck, den die zunehmende Reife des Korns hervorrief, übertraf alle Erwartung und ließ frühere Entwürfe immer wieder verblassen. Wichtig war, den rasch abblühenden Mohn festzuhalten, der sich nur in einem genau fixierten Frühlicht so sammetartig glänzend darbot, wie ihn das Bild verlangte. Von der ungeheuern Anstrengung des Körpers und Geistes erschöpft, wurde Willenius Ende September krank und mußte für dritthalb Monate jeder Arbeit entsagen. Kaum genesen und nicht gewarnt durch den Zusammenbruch, stürzte er sich neuerdings in fieberhafte Tätigkeit. Den Sommer mit Ungeduld erwartend, verbrachte er den Rest des Frühjahrs mit den Studien zu der weißen Mauer und zu der tragenden Frau, die sich immer bedeutungsvoller als ein ernstes Zeichen menschlichen Daseins über der farbenherrlichen Landschaft erhob.

Aber nicht mit Freude erfand, gestaltete Willenius auch hier. Obwohl er wußte, daß dieses Werk sein Gipfel war, und daß mit wirklichem Können in äußerster Sammlung und Vertiefung das Innerste geben Meisterschaft und Vollendung heißen durfte, so verfinsterte ihn doch das Ringen um etwas, das gleichsam von einem Menschen stammte und nicht von Gott. Ein mißlungener Strich, ein Quadratmillimeter unbeseelter Fläche beschwor Anfälle von Melancholie und verzweifelte Skrupel über Endgültigkeit und Notwendigkeit des Einzelnen und des Ganzen. Daran war er gewöhnt; es wäre ihm nicht als Verhängnis erschienen. Aber vordem hatte er kein anderes Tribunal gekannt als sein erbarmungsloses Auge, seinen feurigen und schmerzhaften Drang, das Höchste zu leisten, was ja schon ein Imperativ von quälender und rätselhafter Art ist, der alles private Wesen austilgt, und den Menschen wie eine Magnetnadel unaufhörlich erschüttert sein und erzittern läßt. Nun war jedoch dieser Freund gekommen, dieser Feind; was sag ich, Freund, Feind, – dieser Antipode, dieser Aneiferer, Anstachler, dieser Unnahbare, Ungenügsame; das verkörperte böse Gewissen.

Willenius fürchtete Nimführ, dessen Existenz ihn ein Racheakt des Schicksals gegen die seine dünkte; die Sphäre, in der Nimführ webte, hatte etwas Mysteriöses für ihn, durch ihre Helligkeit und Ruhe Verdächtiges. Trotzdem fühlte er sich als subalterner Geist darin, und wenn er sich nicht eine Kugel durch den Kopf schießen wollte, so mußte er lieben, bewundern – und kämpfen.

Was Nimführ betrifft, so wußte er nichts von der Aufgewühltheit des Freundes. Hätte er darum gewußt, er hätte das Wesen mit einem Achselzucken, einem verwunderten Sarkasmus abgetan. Ihm war die Kunst eine gerechte Mutter vieler Kinder. Nebenbuhlerschaft war ihm unverständlich, wo er sie an andern spürte, konnte er zugeknöpft werden wie ein Geheimrat. Nur trübe gestimmt fand er sich bisweilen durch den Umgang mit Willenius; dies schreckte ihn ab, denn sich vor allen niederschlagenden und verzerrenden Einflüssen zu bewahren, war ein Gebot des Instinkts bei ihm, der sich selber in der Stille durch das Fegefeuer unreifer Zustände gerungen hatte.

Eines Nachmittags im Juli rief ihn Willenius in sein Atelier, wo das nahezu fertige Bild auf der Staffelei stand, gut belichtet und erstaunlich aus der Farblosigkeit des Raumes hervorbrennend. Nimführ schaute und schaute; sehr ernst. Zweimal irrte sein Blick zur Seite; er fing ihn wieder hinter verkniffenen Lidern. „Donnerwetter, das ist eine Leistung“, sagte er endlich in einem fast bestürzten Ton. Willenius atmete hoch auf; die Nässe schoß ihm in die Augen; dieses Wort erlöste ihn.

Abermals betrachtete Nimführ das Bild, trat näher, schritt zurück, neigte den Kopf, faltete die Stirn, nickte, zog die Lippen auseinander, lächelte, sagte „Teufel noch einmal“, drückte endlich dem Freund warm die Hand und ging. Willenius wurde stutzig. Warum geht er fort? dachte er voll Argwohn.

Am Abend kam Nimführ wie gewöhnlich herüber, stand wieder lange vor dem Bild, sprach dann über gleichgültige Dinge, plötzlich aber, während er eine Zigarre anzündete, meinte er obenhin: „Dein Mohn sieht garnicht aus wie Mohn, sondern wie Blut.“ Willenius zuckte zusammen. „So?“ sagte er kurz, „ich dächte doch.“ Und als Nimführ schwieg, fuhr er mit rauher Stimme fort: „Rede nur von der Leber weg; du hast was gegen das Bild, ich hab’s gleich gemerkt.“

Nimführ schüttelte mit einer Miene den Kopf, als ob er sagen wollte: Schwatzen hat keinen Zweck. So sehr er das Werk als Maler anerkennen mußte, so sehr ging es ihm in der Wirkung wider das Gefühl. Es war ihm zu nah und zu momentan, und weil seine Phantasie nicht ins Spiel kommen konnte, schloß er, daß Willenius keine Phantasie besitze und daß er diesen Mangel durch übergroße Deutlichkeit und die gierige Preisgebung aller Kräfte unbewußt verhülle. Er war des prostituierenden Treibens satt, denn alle und alles um sich her sah er davon angefault. Er war es satt, die Grenzen des Metiers verwischt zu sehen in diesen aus Verzweiflung, Wut und Gewaltsamkeit erzeugten Produkten, in denen ganze Farbenknoten zur Plastik drängten. Er wollte, er konnte sich nicht erklären, aber Willenius bedurfte der Erklärung nicht, er empfand sie in seiner frierenden Brust. Er ahnte, was es heißen sollte: der Mohn sähe aus wie Blut.

Mit großen Schritten ging er unaufhörlich hin und her. Die nach vorn gebogene Gestalt schwankte auf den langen Beinen, die stumpfen Brombeeraugen irrten ruhelos hinter den Lidern. Aus geschnürter Kehle fing er an zu sprechen. Vorwurf war das erste; Trotz, Herausforderung, Verdächtigung folgten unerbittlich. Nimführ antwortete kühl. Er appellierte an die Sache und bat um Sachlichkeit. Willenius, der wie alle schüchternen und verschlossenen Menschen im Zorn jedes Maß und jeden Halt verlor, schrie: „Ich pfeife auf deine Sachlichkeit. Sachlich bin ich, wenn ich arbeite. Jetzt fordere ich Rechenschaft von dir als Person. Ich bin dir im Wege; gestehs, daß ich dir im Wege bin.“ Da versetzte Nimführ mit furchtbarer Gelassenheit: „Wie kannst du mir im Wege sein, da ich deinen Weg für verderblich halte, verderblicher als die Wege der Stümper –?“

Willenius griff sich ans Herz. Das Herz stand ihm still. Er sah sich verloren, zum Schafott verdammt; ein Leben voller Mühsal, Kampf und Entbehrung wertlos geworden. Die Feuchtigkeit vertrocknete in seinem Gaumen; unsäglicher Haß lenkte seinen Arm, als er das scharfgeschliffene Messer packte, das zum Spreiselschnitzen diente, und das auf dem Tische lag; mit flackernden Blicken, geduckt, eilte er auf Nimführ los. Dieser wurde kreideweiß. Zuerst wich er zurück, dann umschloß er mit eiserner Faust das Handgelenk des Rasenden, wand ihm mit der Rechten das Messer aus den Fingern, schleuderte es in einen Winkel, hierauf ging er und machte die Türe nicht lauter zu als sonst.

Willenius schlich an die Wand und genau dort, wohin das Messer gefallen war, kauerte er sich nieder. Eine halbe Stunde mochte verflossen sein, und er hockte immer noch da, regungslos wie ein verendendes Tier. Auf einmal jedoch rangen sich aus dem Tumult seines Innern die gellenden Worte los: „Zum Malen braucht man keine Ohren“, und blitzschnell hob er das Messer auf und schnitt sich damit zuerst das rechte, dann das linke Ohr vom Haupt. Auf die Wundflächen legte er Watte und verband sich dann mit einem großen roten Tuch. Er setzte eine Mütze auf, verlöschte die Lampe und begab sich auf die Straße. Bis zum Morgengrauen irrte er planlos durch die Stadt, dann begab er sich wieder ins Atelier, nahm Bild, Kasten und Staffelei und machte sich auf den Weg hinaus, wo der Acker war mit der Mauer und dem Mohnfeld. Er stellte die Leinwand auf und verglich. Er trat ins reife Korn und schritt langsam im Kreis herum. Als er zurückkehrte, um zu malen, verlor er die Mütze. Die Sonne, die schon hochgestiegen war, brannte auf seinen Kopf. Er malte einen Leichnam in den roten Mohn hinein. Die Augen gingen ihm über; nein, nicht einen Leichnam, es war der Tod selbst, fahl, bleiern und phantastisch, der Tod in einem Purpurbett. Mit jedem Pinselstrich verdarb er das herrliche Bild mehr; er malte die Zerstörung seiner eigenen Seele, den Wahnsinn, das Ende. Noch einmal leuchtete in seinem Blick der tiefe und strömende Glanz, der den Künstler bei der Arbeit bisweilen einem betenden Kind ähnlich macht, dann brach er in ein weitschallendes Gelächter aus, das einige Landleute herbeilockte. Diese führten ihn zur Stadt.

Ein paar Tage später besuchte ihn Nimführ in der Anstalt, in die er gebracht worden war. Welch ein Genie war das, dachte er schmerzlich versunken, als er in das kaum zu erkennende Antlitz des Freundes schaute. Willenius lag im Bett und rauchte seine Pfeife. Die Augen schienen Nimführ zurückzuweisen und nach ihm zu verlangen, sie schienen ihn zu grüßen wie zwei geheimnisvolle Flammen aus einem umwölkten Himmel.

„Wissen Sie etwas Näheres über den Anlaß, weshalb er sich so verstümmelt hat?“ fragte der Arzt draußen.

Nimführ blickte zu Boden und erwiderte mit eigentümlicher Bitterkeit: „Dafür habe ich nur eine einzige Erklärung; er liebte die Kunst mit einer verbrecherischen Leidenschaft. Er liebte die Kunst und haßte seinen Körper. Er vergaß, daß man auch leben muß, wenn man schaffen will, leben, fühlen, träumen und gegen sich selbst barmherzig sein.“

Einen Monat darauf reiste Nimführ übers Meer, nach Ländern, wo es noch unschuldige Menschen und reine Farben gab.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der goldene Spiegel