Erste Fortsetzung

Doch ist das noch lange nicht der ganze Verlust. Die Verluste an Vieh in Sibirien durch den Wolf entziehen sich der statistischen Beobachtung fast durchgängig. Sie müssen aber sehr erheblich sein, wie wir u. A. aus Middendorffs Schilderung ersehen. Er schreibt: „Man hat in den Hauptstädten gar keinen Begriff davon, welche ungeheure Mengen des Nationalvermögens alljährlich durch die Raubtiere vernichtet werden. Hätte man darin vernünftige Einsicht, so wurde man gewiss die kostspieligen menschenmörderischen Maßnahmen einen Teil ihrer Schuld auf diesem Felde abtragen lassen. Statistische Nachrichten über die Verluste, welche die Hirten-Nomaden durch Raubtiere erleiden, ist, wie sich von selbst versteht, einzuziehen nicht möglich. Es würde ermüdend sein, wollte ich aus meinem Tagebuch die in der Taimyrtundra stets wiederkehrenden Vorfalle aufschreiben, welche durch den Heißhunger der Wölfe hervorgerufen wurden. Bald stießen wir auf die letzten Überreste von Mahlzeiten, welche wir gestört, bald jagten wir den Räubern einen, für uns noch tauglichen Braten ab. Keine Nacht verging in der Tundra ohne Unfug, obgleich die Nomaden die angestrengteste Wache hielten. Während einer und derselben Nacht weckte uns die Abwehr drei Mal. Nachdem wir zwei Anfälle glücklich abgeschlagen, holten die Wölfe gegen Morgen sich doch eine Kuh heraus. Die Schwierigkeit, die Hunderte und Tausende von Renntieren einer Samojedenherde vor den Raubanfällen zu schützen, ist groß. Die Wölfe brechen rudelweise ein, um die in den Tod erschrockenen Tiere auseinanderzusprengen, zu vereinzeln und dann leicht zu bewältigen. Es kommt hauptsächlich darauf an, die Herde stets zusammenzuhalten, und es fehlt den Sibiriern dabei die treue Hilfe des Hundes, der den Lappen eben so klug zur Seite steht, wie den Schäfern des zivilisierten Europa. Der Wölfe sind noch zu viele; es kann der bewachende Hund noch nicht beistehen. Begreiflich ist es, dass die Wölfe der Tundra sich vorzugsweise von zahmen Renntieren ernähren. Auf jeden Wolf können wir im Jahre zum Allerwenigsten ein Mal wöchentlich ein Renntier rechnen, also 52 im Jahre. Für die Tausende von Wölfen, welche dort hausen, beträgt also die Zahl der Opfer viele Hunderttausende von Renntieren, deren jedes in erster Hand seinen Wert von mehreren Silberrubeln repräsentiert. Wiederholt wurden von einer einzigen Herde in einer einzigen Nacht zwanzig und mehr Tiere niedergerissen, viele versprengt . . . . In demselben Maße werden die Rinder und Pferde der Jakuten im höheren Norden gebrandschatzt u. s. w.*)

*) Widdendorff: „Sibirische Reise“, Bd. IV, Teil 2. Zweite Lieferung: „Die Tierwelt Sibiriens.“ St. Petersburg, 1874, 8, 1331— 1333.


Berücksichtigt man die oben angeführten Beispiele von zu geringen Verlustangaben, sowie den Mangel vieler Angaben über die, durch den Wolf veranlassten Verluste, so kann man dieselben für das Reich sehr viel höher als 15 Millionen Rubel veranschlagen, ja, man dürfte kaum irren, wenn man das Doppelte dieser Summe als den effektiven Verlust annähme. In Russland findet sich der Wolf überall, im Walde wie in der Steppe, und noch mehr in letzterer wie im Walde, wo seine Bewegungen gehemmt sind. Hier und da erreicht er eine ungeheure Größe. Herr Sabanejew hat eine Wolfshaut von 3 Arschin*) Länge (von der Schnauze bis zur Schwanzspitze) gesehen und diese Dimensionen sollen häufig vorkommen. Der Wolf frisst nur Fleisch, und wenn sich annäherungsweise die Zahl der Wölfe berechnen ließe, so könnte man auch annäherungsweise die Menge des von ihnen alljährlich verzehrten Fleisches bestimmen.

*) Der Arschin war ein russisches Längenmaß und ersetzte mit seinem Aufkommen weitgehend die Elle. Es wurde erstmals 1562 erwähnt und ab 1649 zu einem russischen Grundmaß. Eiserne gestempelte Arschinen lassen sich auf das Jahr 1647 datieren.
Am 11./12. Oktober 1835 wurde der Arschin, durch einen Ukas genau bestimmt:
1 Arschin = 0,71 Meter.

Herr Lasarewski macht nun den, allerdings sehr gewagten Versuch, eine Statistik der vorhandenen Wölfe zusammenzustellen. Wir verzichten darauf, ihm auf dem Wege dieser Berechnungen zu folgen, erwähnen aber, dass durch mehrfache Art der Schätzung Herr Lasarewski zu der Annahme gelangt, dass allein im europäischen Russland nicht weniger als 200.000 Wölfe leben. Den offiziellen Daten zufolge, werden von den Wölfen alljährlich 180.000 Stück Großvieh und 560.000 St. Kleinvieh vernichtet; also kämen auf jeden Wolf etwa 1 Stück Großvieh und 3 Stück Kleinvieh. Das reicht für die Ernährung eines Wolfes im Jahre nicht aus. Mit etwa 20 Pud*) Fleisch (soviel ergeben etwa 1 Stück Großvieh und 3 Stück Kleinvieh) kommt ein Wolf etwa 3 Monate lang aus. Sein Bedarf ist auf etwa 65 Pud jährlich, also für alle Wölfe auf 12 Millionen Pud zu veranschlagen. Was also an Vieh fehlt, um die Wölfe zu sättigen, muss die Natur an Wild liefern. Wie viele Elenntiere, Hirsche, Ziesel, Hasen, namentlich Vögel, mögen in der Wildnis eine Beute der Wölfe werden? Leider muss man annehmen, dass die hoch nistenden Raubvögel sich vordem Wolfe zu schützen wissen, während gerade das wertvolle Geflügel, Feldhühner, Rebhühner usw., von Wölfen gefressen werden. Herr Lasarewski meint, weil gerade die Brut mehr der Gefahr ausgesetzt sei, die Zahl der vernichteten Vögel auf ein paar hundert Millionen schätzen zu müssen. Besonders die jungen Wölfe werden von den Wölfinnen mit einer Menge von Federwild aufgefüttert. Man hört vielfach Klagen über die Abnahme des Wildstandes in Folge der Raublust der Füchse und Wölfe. Wenn es überhaupt zulässig ist, derartige Werte, das herrenlose Wild des Waldes, in Geld zu veranschlagen, so mag es von Interesse sein zu erfahren, dass Herr Lasarewski den Verlust an Wild auf 50 Mill. Rubel jährlich veranschlagt.

*) Pud russisches Gewichtsmaß. 1 Pud= 16,38 Kg

Zu allen diesen Verlusten kommen noch — last not least — die Verluste an Menschenleben. In den Jahren 1849, 1850 und 1851 wurden durchschnittlich, den offiziellen Angaben zufolge, 125Personen verschiedenen Alters von Wölfen getötet. Im Jahre 1875 betrug dieser Verlust an Menschenleben 161. Herr Lasarewski ist geneigt, auf Grund dieser Zahlen anzunehmen, dass in den letzten Jahrzehnten die Zahl der Wölfe zugenommen habe. Ein solcher Schluss scheint uns etwas voreilig zu sein. Die statistischen Angaben waren früher noch unvollständiger, als sie es heute sind. Bei der stärker entwickelten Öffentlichkeit, bei der größeren Anzahl von Zeitungen und Zeitschriften, welche derartige Lokalnachrichten zu bringen pflegen, müssen gegenwärtig mehr als früher derartige Unglücksfälle zur Kenntnis kommen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Wolf in Russland.
Von Wölfen verfolgt

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Wölfe auf der Jagd

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Wölfe, das Rudel

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Wölfe nehmen die Fährte auf

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