Was kostet das Elend der russischen Juden?

Es hieße Eulen nach Athen tragen, wollte man die Leiden der russischen Juden aufzählen. Sie sind leider allzusehr bekannt. In keinem Lande der Welt gibt es jetzt ein besonderes Ansiedlungsrayon für die Juden, keine Gesetzgebung kennt das schreckliche: „krome Jewrej" (die Juden ausgenommen), in keinem Staate wäre es möglich, öffentlich einen Blutmärchenprozess ex-offo zu führen, nirgends ist der Judenpogrom als System, als staatliches Hilfsmittel, proklamiert. Dem Zarenreiche gebührt der traurige Ruhm, den Judenhass mit größtem Raffinement zu betreiben.

Der offizielle Antisemitismus Russlands drückt aber auch schwer auf die Juden aller Länder. Fast sämtliche großen, jüdischen Organisationen sind infolge der traurigen Lage der russischen Juden ins Leben gerufen worden. Unzählige Millionen jährlich kosten die russischen Juden ihre europäischen Brüder. Die großen Millionenbudgets der jüdischen Organisationen: „Ica" (Jewish Colonisation Association), „Alliance Israelite Universelle", „Israelitische Allianz", „Hilfsverein der deutschen Juden", „English-Jewish Association", „B'nei Brith-Logen", Zionismus etc. etc. werden fast gänzlich dazu verbraucht, die Not der russischen Juden zu lindern und den von dort flüchtenden Juden eine neue Heimat und neue Existenzmöglichkeiten zu schaffen. Wäre die Lage der Juden in Russland erträglicher und menschenwürdiger, es gäbe heute schwerlich eine jüdische Emigrationsfrage, einen Zionismus, einen Territorialismus und der „Träumer des Ghetto", Israel Zangwill — der jetzt der Wahnidee verfallen ist, der Zar würde nach einem Siege „seinen lieben Juden" ein besseres Los angedeihen lassen — wäre schwerlich in die Lage gekommen, die Rolle eines Pfadfinders für eine neue jüdische Heimat zu spielen.


Ein jüdischer Statistiker hat vor kurzem eine Aufstellung gemacht, wie viel der russische Judenhass jahrjährlich die Gesamtjudenheit kostet. Es kamen hierbei ganz unglaubliche, leider aber faktische Ziffern heraus. Um nur einige Daten zu erwähnen: 30 Millionen Rubel jährlich werden den russischen Juden als Lapówka, als Bestechung seitens der russischen Beamten erpresst, um teilweise vor Willkür geschützt zu sein. Ca. 10 Millionen Rubel jährlich zieht der russische Staatsfiskus von denjenigen jüdischen Familien heraus, deren Mitglieder infolge Emigration oder Unordnung in den Matrikenbüchern nicht rechtzeitig und pünktlich zum „Prisiw" (Militärassentierung) erscheinen. Ca. 30 Millionen Rubel jährlich zahlen die russischen Juden und die jüdischen Organisationen für die Aushaltung von Schulen, Lehrkräften, Studium der jüdischen Kinder im Auslande etc., da ihnen die russischen Staatsschulen zum größten Teile unzugänglich sind. Die Emigration der Juden aus Russland erfordert jährlich einen Kostenaufwand von ca. 50 Millionen Rubel. Hierzu kommen noch die gewaltigen Millionensummen, welche von Zeit zu Zeit nach jedem Pogrom seitens der diversen jüdischen Organisationen zum Ersatz der erlittenen Schäden, zur Versorgung der Witwen und Waisen, gesammelt und ausgegeben werden müssen — fürwahr, das Budget eines ganzen Staates oder die Kosten eines kleinen Krieges!

Alle diese gewaltigen Summen gehen jedoch ohne jeden realen Nutzen zugrunde! Welche segensreiche Kulturarbeit könnte damit geleistet werden! Welche gewaltigen Energien werden hierbei verbraucht, die auf anderen Gebieten verwendet, der Judenheit und der Menschheit zum Heil und Segen gereichen könnten!

So sieht die traurige Bedeutung Russlands für die Judenfrage aus! Ist es da zu verwundern, wenn die Juden aller Länder so sehnsüchtig die Niederlage Russlands und den Sieg der europäischen Zentralmächte herbeiwünschen?!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Weltkrieg und die Judenfrage.