Die Leiden der russischen Juden.

Von den zwölf Millionen Juden lebt mehr als die Hälfte in Russland, wobei das Wort „lebt" sozusagen nur euphemistisch gedacht ist. Das, was diese sechs Millionen Menschen täglich zu erleiden und zu erdulden haben, ist eher alles als Leben! Allein, ohne Übertreibung kann es gesagt werden: auch das Schicksal der anderen sechs Millionen Juden wird zum großen Teile durch die Lage ihrer Brüder im Zarenreiche beeinflusst und die Judenfrage in ihrer heutigen Gestalt wird erst dann verschwinden, wenn die Lage der Juden in Russland eine andere, eine bessere werden wird.

In den letzten Dezennien des vorigen Jahrhunderts haben die Juden in fast allen Ländern der Welt die bürgerliche und politische Gleichberechtigung erlangt. Die finsteren Vorurteile des Mittelalters sind verschwunden, die Mauern der Ghetti wurden niedergerissen und der Jude erfreute sich aller Rechte und Freiheiten, er konnte seine angeborenen Fähigkeiten frei und ungehindert auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens entfalten, er konnte im Wettbewerbe der Menschheit um die geistigen und kulturellen Errungenschaften der Neuzeit ungehindert teilnehmen.


Bloß das Zarenreich bildete in dieser Beziehung eine unrühmliche Ausnahme. Die sechs Millionen Juden in Russland leben noch heute in mittelalterlichen Verhältnissen. In einem engbegrenzten „Ansiedlungsrayon", kaum einem vierten Teil des Zarenreiches, zusammengepfercht, allerhand unmenschlichen Ausnahmegesetzen und Beschränkungen unterworfen, werden sie noch stets von der Furcht blutrünstiger Pogrome geplagt und sind ein elendes Ausbeutungsobjekt des russischen Tschinownikwesens. Alle Lasten des Staatsbürgers auf ihren schwer gedrückten Schultern tragend, besitzen sie gar keine Menschenrechte. Die harte Hand des Zarentums, welche die hundertsiebzig Millionen der russischen Bevölkerung bedrückt, lastet noch hundertfach schwerer auf den russischen Juden.

Und nicht bloß dies allein. Wenn es noch heute auch in manch anderen Ländern eine Judenfrage gibt, wenn noch bis In den letzten Tagen in gar manchen Kulturländern die antisemitische Hydra ihr blutiges Haupt zu erheben wagt, wenn das schmählich-schändliche Wort „Antisemitismus" noch immer nicht aus dem Wortschatze der Kulturmenschheit verschwinden konnte — so ist dies bloß eine Folgeerscheinung der Zustände im finsteren Russland. Niemals könnten es gewisse wahnwitzige Köpfe wagen, den Judenhass als Programm, als System, als Ideologie zu predigen, wenn sie nicht auf das Beispiel des Zarenreiches hinzuweisen in der Lage wären. Und nie hätte es manch kleinerer Staat gewagt, die den Juden völkerrechtlich und staatsgrundgesetzlich zugesicherte Gleichberechtigung mit sophistischer Hinterlist illusorisch zu machen, wenn er sich nicht in dieser Beziehung als Schützling des Zaren fühlen würde.

Russland ist heute das einzige Reich, wo die mittelalterliche Barbarei und Tyrannei noch nicht zu herrschen aufgehört haben, wo die Knute und die Nahajka die Stelle des Gesetzes vertreten, wo jeder Tschinownik der Herr über Leben und Vermögen ist. Die hundertsiebzig Millionen Menschen, welche das Unglück haben, russische Staatsbürger zu sein, können nur dann Befreiung und Besserung ihres Schicksals erhoffen, wenn die Macht der russischen Reaktion auf dem Schlachtfeld gebrochen werden und die Machthaber in Petersburg sich gezwungen sehen sollten, endlich Europäer zu werden und das russische Reich nach europäischen Begriffen zu regieren. Ein Sieg Russlands im gegenwärtigen Kriege dürfte die Reaktion und die Machtgelüste der Kosakenhorden noch steigern. Freiheit und Erlösung können die Völker Russlands nur nach dessen Niederlage erwarten.

Damit wird sich auch das Los der russischen Juden zum Bessern wenden. Damit wird aber auch die Judenfrage überhaupt in eine neue Phase treten. Ohne der schädlichen Säfte des Judenhasses in Russland wird der antisemitische Giftbaum in den anderen Ländern nicht gedeihen können.

Deswegen auch ist die gesamte Judenheit an der Niederlage Russlands und dem Siege der europäischen Zentralmächte so sehr interessiert. Damit ist auch die Erscheinung zu erklären, dass beispielsweise die Juden aller Länder jede Niederlage Russlands und jeden Sieg Österreich-Ungarns und Deutschlands mit so großem Jubel begrüßen, dass aus Russland emigrierte jüdische Poeten begeisterte Kriegsgesänge für die Sache Österreich-Ungarns und Deutschlands dichten. Haben doch die Juden von einem Siege Russlands alles zu befürchten, von seiner Niederlage alles zu erhoffen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Weltkrieg und die Judenfrage.