Abschnitt. 1

Das Nest mit dem unbekannten welschen Namen, wie die Frau Jane Warwolf die hochberühmte Stadt und Festung Verona für gewöhnlich zu bezeichnen pflegte, quoll über. Die bombenfesten Speicher, die wunderbaren Kasematten über und unter der Erde, die Vorratskammern in allen Innen- und Außenwerken und in den großen Forts San Felice und San Pietro waren mit allem angefüllt, was ein kriegserfahrener Festungskommandant nur irgend wünschen konnte. Der weißröckigen Infanterie lief das Wasser im Munde zusammen, wenn sie nur an die Herrlichkeiten dachte; und vor allen Vorratskammern wurden Doppelposten ausgestellt, um einen größern Teil der Besatzung des Vergnügens und der Ehre teilhaftig machen zu können, das Gewehr vor der unberechenbaren strabbondanza zu schultern.
Unberechenbar? No, signori! Die Veroneser wußten ziemlich genau, was die neue Verproviantierung ihrer Stadt gekostet hatte, und der Edle Dietrich Häußler von Haußenbleib wußte es ganz genau. Er hatte seine sämtlichen Posten auf dem Papiere. Er konnte in jedem beliebigen Moment in ausführlichster Weise Rechenschaft ablegen, und die Kommission, welche ihm denn bei Gelegenheit diese Rechenschaft abgenommen hatte, war mit seinen Leistungen aufs höchste zufrieden und wußte, wenn auch nicht so sicher wie der Edle, doch jedenfalls so genau als die Veroneser, daß man in diesem kostspieligen irdischen Jammertal nichts umsonst bekam.
Was die Privatangelegenheiten des Edlen von Haußenbleib anbetrifft, so können wir uns auch in dieser Hinsicht beruhigen: der Edle hatte nicht nur ein anständiges, sondern auch ein sehr gutes Geschäft gemacht und einen neuen Orden dazugewonnen. Der sardinische Orden des heiligen Lazarus war es selbstverständlich nicht, und daß jener Herr, welcher dem Junker von Lauen zu einem ähnlichen Schmucke helfen wollte, nichts mit der Dekoration zu tun hatte, konnte ihren Wert nur erhöhen. Was jener Herr geben konnte, das hatte der Edle längst sich selber verschafft. –
Figaro là – Figaro quà! Noch einmal wandelte der Edle Dietrich Häußler von Haußenbleib, ein wohlbeleibt, behäbig Männlein und immer noch Grau in Grau, über den Schauplatz seiner segensreichen Tätigkeit, hierhin grüßend, dorthin winkend und einen letzten Sorbetto auf der Piazza Bra schlürfend. Welcher Vogel um diese Jahreszeit in dem Granatbaum singen mochte, es gab keinen vergnügteren Vogel rund um die dreifachen Verteidigungslinien der Stadt als den Edlen von Haußenbleib am letzten Abend seines diesmaligen Aufenthalts in Verona.
„Ich werde auch dem Mädchen einen Spaß machen, so wenig sie es um mich verdient!“ murmelte er. „Aber wenn man der ganzen Welt seinen Segen geben möchte, wie könnte man da sein eigen Fleisch und Blut ausschließen? In Venedig kaufe ich dem dummen Ding einen Schmuck, so prachtvoll ich ihn finde, und da ich den Conte ebenfalls dort finden werde, so meine ich, wir bringen auch diese Angelegenheit, da wir augenblicklich so gut im Zuge sind, endlich in Richtigkeit. Da kann sich das Tonerl dann wirklich nicht beklagen, daß ich mit leeren Händen nach Haus gekommen sei, und hoffentlich wird sie dann so wenig gegen den Grafen wie gegen den Schmuck mit ihren gewöhnlichen albernen Einwendungen vorrücken und mir die Laune verderben.“
Er sah in diesem Moment nicht darnach aus, als ob er sich je in seinem Leben die gute Laune habe verderben lassen.
Nicht ohne eine gewisse Berechtigung

„Evviva Vittorio
Emanuele“


summend, zog er sich in sein Quartier zurück und reiste am andern Morgen nach Venedig ab.
Es war im Anfang ein lachender Morgen, und erst hinter Vicenza bezog sich der Himmel mit einem leichten Regendunst, der hinter Padua zu einem wirklichen Regen wurde. O könnten wir unsere besten Freunde und Freundinnen in die Stimmung des Edlen auf dieser Fahrt versetzen und sie dauernd darin erhalten! Mit wahrhaft wollüstiger Befriedigung dehnte er sich in seiner Ecke, blies leichte blaue Wölkchen aus seiner Zigarre und sah mit halbgeschlossenen Augen die Rebengehänge, die alten und neuen Schlachtfelder, die Maulbeerpflanzungen, die alten romantischen Städte, Städtchen, Dörfer, Flecken und Villen bis zu den Tiroler Bergen hin vorüberfliegen. Als es, wie gesagt, in der Nähe des Adriatischen Meeres anfing zu regnen, versank der Träumer in einen Halbschlummer, der süßer als alles übrige war, und da er die lange Brücke von Mestre wohl schon einige hundert Male passiert hatte, so erweckte ihn das Donnern des Zuges auf derselben keineswegs. Er erwachte zum vollen Bewußtsein erst im Venediger Bahnhof und sagte gähnend:
„Ah, das waren vier sehr angenehme Stunden. O Gott, wie billig sind doch die Genüsse dieses Lebens, wenn man zu genießen versteht!“
Aber wenn der Edle von Haußenbleib bei vollem Bewußtsein war, so wußte er vor allen Dingen klar und scharf, daß die Geschäfte den Vortritt vor jeglichem Vergnügen zu beanspruchen haben. Er ließ sich deshalb schleunigst zu seinem gewohnten Hotel rudern und gab auf der Stelle den verschiedensten Leuten Nachricht von seiner Ankunft in der alten Kaufmannsstadt. Die also Benachrichtigten ließen dann auch nicht lange auf ihre Besuche warten, und die mannigfaltigsten Konferenzen dauerten einige Tage hindurch, oft bis tief in die Nacht hinein. Aber das alles war doch nur ein behagliches Tändeln mit einem deliziösen Nachtisch nach aufgehobener üppiger Tafel, und wir – wir haben nur einer einzigen Verhandlung beizuwohnen. Diese hat denn aber auch ein um so größeres Interesse für uns, obgleich hoffentlich niemand erwarten wird, daß es sich dabei um all die oft besungenen, gemalten und photographierten Herrlichkeiten und Schönheiten Venedigs, um Historie, um die Wunder der Kunst und der Natur, um Gondeln, Serenaden, Ave-Marias und Mondenschein auf den Lagunen handelte.
Es regnete ja in Venedig, und:

„Sankt Johannes im Kot heißt jene Kirche; Venedig
Nenn ich mit doppeltem Recht heute Sankt Markus im Kot.“

Freilich haben auch wir diesmal ein doppeltes Recht, von dem Ort und der Gelegenheit so geringschätzig zu sprechen, indem wir uns leider die Freiheit nehmen müssen, unsere Leserinnen in wirklich ausnehmend schmutzige Gesellschaft einzuführen; denn wir treffen jenen Herrn im eifrigen Gespräch mit dem Edlen von Haußenbleib, welchen der letztere augenblicklich seinen besten Freund nannte. –
Es war, an dem drückend schwülen, feuchten Tage, ein kühles, weites, stattlich-dämmeriges Gemach, in welchem der Edle mit seinem Freunde, dem Grafen Basilides Conexionsky, bei einem Glase duftiger Eislimonade und einem Bündel Zigaretten im vertraulichen Gespräch saß, während vor den offenen maurisch-gotischen Fenstern der Regen leise niederrieselte und ein mittelalterlicher venezianischer Nobile, der vor einigen Jahrhunderten vielleicht ebenfalls recht gute Geschäfte gemacht hatte, aus seinem gebräunten Rahmen von der Wand wohlwollend auf sie herabsah und seine rechte Freude an ihnen zu haben schien.
Der Conte Basilides, ein lang aufgeschossener, in ein hellfarbiges Sommerkostüm hineingeschlotterter Mensch von ungefähr fünfunddreißig Jahren, lag seiner ganzen Länge nach auf einem dunkelroten Diwan; der muntere Greis dagegen saß aufrecht, mit seinem neuen Bändchen im Knopfloch, in einem Stuhl, der einst das Eigentum des Venezianers an der Wand gewesen sein konnte, beobachtete und betrachtete den Grafen scharf und aufs zärtlichste und sagte eben:
„Also, mein Lieber, es bleibt dabei. Sie geben mir das Zeugnis, daß ich meinerseits alles tat, mögliche Hindernisse des Glückes meiner Kinder – ich sage meiner Kinder, mein Sohn! – aus dem Wege zu räumen: Sie begleiten mich nach Wien, und wir bringen die Sache zum Abschluß wie verabredet.“
„Weshalb sollte es nicht dabei bleiben, Babbo Teodorico, allersüßester Schwiegerpapa?“ stöhnte der Graf, beide Arme unter den Hinterkopf schiebend. „Gewiß begleite ich Sie, und zwar um so enthusiastischer, je weniger ich Ihnen das verlangte Zeugnis verweigern kann. Ach, stören Sie die Süßigkeit dieses Momentes nicht durch unnötige Worte – Sie wissen es ja nur zu gut, Sie Grausamer, welch eine innige Sehnsucht nach diesem – diesem erfreulichen Abschluß ich seit Monden mühevoll zu unterdrücken hatte. Sie wissen es nur zu gut, was ich litt, wie ich litt und warum ich litt, Sie herzloser Mann. Bewundern mußte ich Sie immer, selbst vor einem Vierteljahre, als Ihr Gestirn bedenklich in cadente domo stand: ein um so größeres Vergnügen macht es mir, Sie heute – lieben und bewundern zu dürfen! Wahrhaftig, Alter, Sie haben Ihre Chancen glorreich zu benutzen gewußt – es lebe Verona und mit ihm Romeo und Julia, Basil und Antonia! Da sitzen Sie wieder und sind Ihr Gewicht in Gold hundertfach wert, und hier liege ich, den Edelstein meines Wertes im Busen, und fühle die Schwingen wachsen, die mich meinem holdesten Lebensziel entgegentragen sollen. Ja, Babbo, Babbo, Sie sind das begehrenswerteste Großväterchen, welches mir jemals in meinem Leben begegnete, und morgen mit dem ersten Dampfschiff gehen wir nach Triest hinüber.“
„O Basilides, wenn Sie wüßten, Basilides, wie sehr ich Sie um diesen Ton, in welchem Sie zu mir reden, beneide, so würden Sie denselben nicht mit einer solchen Virtuosität gegen mich anstimmen!“ sprach der Edle, welcher diesen Ton durchaus nicht nach seinem Geschmack fand und nicht wenig darunter litt, obgleich er wirklich unter Umständen ebenfalls ein Virtuose darin war, wie er das zum Beispiel vor einigen Jahren in Krodebeck unter den Barbaren des Herzynischen Waldes zur Genüge bewies. „Lassen Sie uns ernst sprechen, Graf“, fuhr er fort, „ich halte das Glück meiner Enkelin für einen Gegenstand der ernsthaftern Unterhaltung.“
„Ich bin ernst und offen – ich bin nie anders, Signor“, erwiderte der Graf; „aber ich bin heute glücklich, und ich habe das Recht, glücklich zu sein; denn aufrichtig gestanden, mein sehr würdiger Freund, noch vor zwölf Wochen sah es kaum danach aus, daß wir je zu einem solchen angenehmen Geplauder uns zusammenfinden würden. Ihre besten Freunde, und ich habe das Recht, mich dazuzurechnen, hatten Ihre Stellung aufgegeben und hielten Sie für verloren, unwiderruflich verloren. Was wollen Sie? Sie vor allen sollten meine Heiterkeit zu würdigen wissen; denn ach, Sie allein wären ja nur imstande gewesen, meine Verzweiflung zu messen, wenn das Fatum mich gezwungen hätte, das seligste Verhältnis, das ich je entrierte, abzubrechen, Babbo!“
„Babbuino!“ sprach der Edle Dietrich Häußler von Haußenbleib in der tiefsten Tiefe seiner Seele; äußerlich aber schnitt er nur eine bittersüße Grimasse; ja er vermochte es sogar, dem „Pavian“ mit einem neuen Lächeln zu antworten.
„Sie haben Recht, Basil; wenn auch nicht völlig, so doch in mancher Beziehung“, sagte er. „Ich muß Ihre Behutsamkeit loben; denn ich weiß sie zu würdigen, und sie gerade gibt mir die besten Garantien für eine segensreiche Zukunft. Da wir zusammen ernten wollen, so muß freilich vollkommene Offenheit über sämtliche ökonomische Vorbedingungen zwischen uns herrschen. Ich werde mir die Freiheit nehmen, in andern Dingen bei Gelegenheit ebenfalls so offen als möglich gegen Sie zu sein, Basil. Ja, vor einigen Monden standen meine Angelegenheiten nicht so günstig wie heute. Einen Augenblick schien es, als ob ich das Los aller jener Schwärmer zu teilen hätte, jener braven, törichten Leute, die sich immer, wie das Beispiel zeigt, wieder finden, um Glück, Kraft, Vermögen, Blut und Seele dem allgemeinen Besten zu opfern, und zuletzt ihren teuersten Illusionen zum Opfer fallen. Dem lieben Gott sei Dank, diese Gefahr ist fürs erste glücklich abgewendet. Meine Anstrengungen wurden mit dem besten Erfolg gekrönt. Wir haben uns wiedergefunden, teuerer Basil! Das Gewölk hat sich verzogen – die Luft ist wieder rein!“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Schuedderump