Zehn Tage in Ruhla

Ermüdet von dem wirren Getriebe der Residenz, erschöpft von den Anstrengungen des Tages, abgestoßen von den endlosen Gesprächen über Politik, Börsenkurse und Theater, den drei mächtigsten Faktoren großstädtischer Geselligkeit, die das Herz so kalt und den Kopf so leer lässt, sehnte ich mich ins Freie, unter einfachere schlichtere Menschen, bei denen mein Ohr verschlossen bliebe vor dem Wortgefechte über Russland und Frankreich, über die Ost- und die Nordbahn und vor dem nicht minder erbitterten über Bühnen-Heroen und Heroinen, — und wo ich, versenkt in die Wunder schönerer Natur, mich Gott näher, und von seinen Schöpfungen beseligter fühlen dürfte. — Was konnte mich da wohl mächtiger zu sich ziehen, als Thüringen und sein herrlicher Wald, Deutschlands schönster Gau und sein lehrreichstes Gebirge; — zugleich sein historisch berühmtestes Land! —

Hier war es, von wo aus Bonifazius Winfried zuerst das Licht eines reinen Glaubens über Deutschland ausstrahlen ließ; wo Luther, als die reine göttliche Flamme durch Irrtum umdüstert war, die Nebeldünste verscheuchte, und in seiner Bibelübersetzung uns ihren klaren, erquickenden Strahl wiedergab. Hier entfaltete die weltlichere Schwester der Religion, die heitere Poesie ihre ersten Blüten, und der Sängerkampf auf der Wartburg trug die Triumphe deutschen Gemüts zuerst in ferne blühende Länder. Hier sprosste sie später am Hofe kunstsinniger Fürsten in herrlichster Blumenfülle auf, und die Namen Goethe, Schiller, Herder, Wieland verklärten das Land zur Unsterblichkeit. Hier ragen die Trümmer stolzer Burgen empor und ernster Klöster, Zeugen kräftiger Mannheit und Zufluchtsstätten erster deutscher Bildung, und die Sage umschleiert sie mit vielfarbigem duftigem Gewande; hier blühen Städte, Flecken und Weiler in üppig grünenden Gärten, bewohnt von herzigen Menschen; und hier gründete Gott seine Hochaltäre, himmelanragende Berge, bedeckt von der Wälder ewigem Grün, durchzogen von wonnigen Tälern, und umrauscht von kristallhellen Bächen, Herz und Auge mächtig entzückend! —


Doch wohin in dem reichen Lande mich wenden, auf dass es von seinen Zaubern mir die herrlichsten böte? — Es hat ja in seinen Bergen der lieben, süßen Stellen so viele, jede mit anderen berauschenden Eigentümlichkeiten, jede mit anderen Reizen geschmückt! — Da ist der Osten des Gebirges mit Schwarzburg, dem Schwarzathale und Paulinzella; dort sein mittlerer Teil mit dem idyllischen Ilmenau und seinen nahen und weiteren Ausflügen, alle voll unendlicher Schönheit; dort sein südlicher Abhang mit Suhl, Zella, Schleusingen, Meiningen und dem ehrwürdigen Schmalkalden. — Ich wählte für mich den reichsten Abschnitt, den nordwestlichen Teil, die Gegend zwischen Eisenach, Liebenstein und Reinhardsbrunn mit ihrem Inselsberge und seinen mächtigen Vasallen. Was alle übrigen Gegenden des Gebirges nur vereinzelt zur Anschauung bringen, hier ist es in enger Nähe im reizvollsten Wechsel vereint: historische Berühmtheit auf politischem und geistigem Gebiete, Großartigkeit und Lieblichkeit der reizendsten Natur, stolze Berge, sinnige Täler, helle, sprudelnde Bäche auf smaragdenen Wiesenteppichen, schroffe Felsen, schattige, ahnungflüsternde Wälder. Nirgends konnte ich in so enger Grenze volleren und reicheren Genuss finden. —

Wie glücklich der, dem es vergönnt ist, hier jedem Bache bis zur Quelle zu folgen, jedes Tales liebliche Wendung zu durchspähen, jede Höhe zu erklimmen, um die lachende Landschaft, die düsteren Klüfte umher in immer wechselnder Form zu schauen.

Doch die Zeit des Reisenden ist in der Regel gemessen; er muss sich an den hervorragendsten Punkten begnügen, und nur darauf denken, wie er am besten sie finde. — Der Zug der Wanderer, der jedes Jahr mächtiger hierherströmt, sucht sie auch auf, allein mich dünkt, wenn ich ihn seine Straße ziehen sehe, nur mit zweifelhaftem Genusse. Den bisherigen Reisebüchern zufolge hat sich ein schablonenartiger Weg gebildet, den alle wandern, und von welchem sie, da Gewohnheit mächtig ist, schwer abzubringen sind. Sie münden von Eisenach in den Landstrich ein, pilgern am ersten Tage über die Wartburg durch das Marien- und Annenthal, die Landgrafenschlucht, die Hohe Sonne, den Hirschstein und die Felsengrotte nach Wilhelmsthal; wandern am zweiten in steigender Ermattung über Altenstein nach Liebenstein; schleppen am dritten sich durch das Drusenthal den Inselsberg hinauf, und kommen am vierten Tage über Reinhardsbrunn bei der Eisenbahnstation Waltershausen ermüdet und übersättigt wieder an, um von dort aus ihren Wanderstab weiter zu setzen. So jagen sie die Reize der himmlischen Natur in Parforcemärschen ab, lassen unzählige der schönsten Punkte unberührt, bleiben mit der eigentlichen Natur des Landes unbekannt, und bringen nur verworrene Bilder von demselben in die Heimat zurück, ohne wahren Genuss gehabt zu haben, oftmals noch schmollend und der Reiselust abhold. Den Einen verstimmte die Menge der ewig wechselnden Bilder, die sich mit ihren Eindrücken auf ihn stürzten, so dass er eins über das andere schnell vergessen, und doch durfte er sich wieder sagen, dass er noch Vieles vernachlässigen gemusst; den Zweiten machte das unbehagliche Gasthausleben unwirsch, und schlecht durchwachte Nächte raubten dem folgenden Tage die Genussfrische. Ein Dritter ertrug die pausenlose Geschwindwanderung über Berge und Täler nicht, und steigende Ermattung verschloss seine Augen vor den nächsten Schönheiten der Natur.

Was Wunder also, wenn — um gleichem Missgeschicke zu entgehen — ich der allgewohnten Art zu Reisen entsagte, mir auf einige Zeit das Zentrum des Landstrichs, Ruhla, zur flüchtigen Heimat erkor, und nun von dort aus die Gegend kreuz und quer nur als schlichter Spaziergänger durchzog? — Auch meiner Reise war bloß eine kurze Frist — zehn Tage — vergönnt gewesen; und um von ihr wahrhaften, vollständigen Genuss zu gewinnen, ohne des Lebens gewohnte Behaglichkeit mir zu rauben, und meinen Körper zu erschöpfen, erschien mir dies ja als einziger, als der zweckmäßigste Weg. Mich hatte die Karte gelehrt, dass der Besuch jeder hervorragenden Partie dieses Gebirgsabschnittes von Ruhla aus nur als ein bequemer Tagesausflug erscheine. Den Abends Zurückkehrenden konnte das gewohnte behagliche Stübchen empfangen, und immer dieselbe Häuslichkeit in einem geräuschlosen Hause. Sollte ein Regentag eintreten, der die Schablonenpartie um so verdrießlicher hemmt, als der erzwungene Aufenthalt in Gasthäusern in der Regel mit bedeutenden Kosten und mit unbesiegbarer Langeweile verbunden ist; oder sollte ich mich ermattet fühlen, so konnte ich behaglich im Städtchen rasten, ohne weiteren Kostenaufwand, und in angenehmer Geselligkeit, welche teils die bekannte Gemütlichkeit der Bewohner von Ruhla, teils das aufs Neue ins Leben gerufene Bad des Örtchens mir sicher versprach. Und ich hatte mich nicht verrechnet. Bei höchst geringem Kostenaufwande *), bei fast heimatlicher Behaglichkeit, wurden jene zehn Tage für mich eine Quelle reichen Genusses, und die Stunden, die ich in Ruhla durchlebte, werden mit sanftem Glanze mein ganzes Leben überstrahlen.

*) Inwiefern diese Art, den Nordwesten des Thüringer Waldes zu bereisen, in der Tat die am wenigsten kostspielige ist, da schon eine Wohnung in Ruhla für die Zeit von 10 Tagen kaum den Preis eines einzigen Nachtquartiers in den Gasthäusern an der Landstraße übersteigt, darüber bitte ich, den dritten Reisetag zu vergleichen.