Wie Russland die Ukraine „befreite“.

Im Kriege, dessen Zeugen wir sind, werden die drei westeuropäischen Widersacher des österreichisch-deutschen Bundes durch andere Motive geleitet als Russland und seine zwei Balkantrabanten. Russland, und mit ihm auch Serbien und Montenegro, führen einen aggressiven Eroberungskrieg, dessen endgültiges Ziel die Teilung der Donaumonarchie ist. England, Frankreich und Belgien dagegen werden durch ein anderweitiges Motiv geleitet, dass nämlich das siegreiche Deutschland in der nahen Zukunft nicht zufällig zu einer ihre Existenz bedrohenden Macht werde.

Russland und kein anderer Staat als nur Russland allein war es, dass den jetzt tobenden Weltkrieg veranlasst hatte. Die russischen Anstiftungen waren es, die den Führern des serbischen Volkes den Kopf verdreht hatten. Serbien ist ein Opfer der russischen Intrige. In dem Streben nach der Realisierung der panserbischen Ideale ist es zum Werkzeug der russischen Pläne am Balkan geworden. Wenn vor einem Jahr am Balkan ein ganzes Blutmeer umsonst vergossen wurde, wenn die Türkei ihre Stellung eingebüßt hat, ohne dass am Balkan eine gerechte Lösung des nationalen Problems durchgeführt worden ist; wenn Mazedonien zwischen zwei nationalfremden Staaten zerstückelt wurde; wenn der junge albanische Staat sich bis heute nicht konstituieren kann; wenn endlich in Sarajevo der am meisten slawophile Habsburger und seine Gemahlin slawischer Abstammung barbarisch getötet wurden, womit das Zeichen zum Weltbrand gegeben wurde — so war das alles ein Werk Russlands.


Die Losung, unter der der Krieg von Russland provoziert worden ist, soll die „Befreiung der Slawen von dem deutschen Joche“ sein. Seit ein paar Jahren schreiben ja die russischen nationalistischen und konservativen Blätter unermüdlich von der Notwendigkeit dieser Befreiung, und unter dieser Losung wurde eine intensive panslawistisch russophile Propaganda unter den slawischen Völkern Österreich-Ungarns geführt. Russland stellte sich als „Befreier“ der Bosniaken und der ungarländischen Serben, der galizischen Ukrainer und Polen, der Slowaken, Tschechen — ja, sogar die siebenbürgischen Rumänen hin! Der letzteren jedenfalls nicht im Namen des Slawentums, sondern im Namen der Orthodoxie oder etwa im Namen der. — internationalen Freiheitsideale!

Es sei mir daher, als einem Mitglied und parlamentarischen Vertreter einer der Nationen, die durch die Russen „befreit“ werden sollen, gestattet, in dem Aufsatz des Näheren zu beleuchten, wie wir Ukrainer die Befreiermission Russlands auffassen und wie unsere Stellung der Mission gegenüber nach jenen Erfahrungen sein muss, die uns von unserer tragischen Geschichte überliefert worden sind.

Ehe ich zu dem eigentlichen Thema übergehe, scheint es mir angezeigt zu sein, den fremden Leser in möglichst kurzer Form über die Ukraine und Ukrainer, die jetzt so unerwartet auf dem Schauplatz der internationalen Politik hervortreten und die der eigentliche Zwistigkeitsapfel zwischen Russland und Österreich sind, zu informieren.

Die Ukraine ist ein Land vom Pruthfluss, Karpatengebirge und San-, Wieprz- und Narewflüssen im Westen bis zum Donetzfluss, unteren Don und westlichen Kaukasusketten im Osten, vom Prypetjfluss und oberen Desnafluss im Norden bis zum Schwarzen und Asowschen Meer im Süden. Die Ukrainer, welche in der Zahl von zirka 35 Millionen dieses Land auf einer Oberfläche über 800.000 Quadratkilometer bewohnen und in kleineren Kolonien auch in übrigen Kaukasusländern, in Südwestsibirien, Amurgebiet, Dobrudscha, Kanada, in den Vereinigten Staaten von Nordamerika und Brasilien zerstreut sind, gehören zu den slawischen Völkern. Die offizielle Statistik Österreichs bezeichnet die Ukrainer Ostgaliziens und der Nordbukowina mit dem Namen „Ruthenen“ (vom mittelalterlichen „Ruthenus“. „Ruthenia“), in Russland dagegen wurden sie offiziell mit augenscheinlicher russifikatorischer Tendenz „Kleinrussen“ genannt.

Die ukrainische Sprache ist nach dem Zeugnis der Slawisten Safarik, Palacky, Miklosic, Sresnewskyj, Jagic, Korsch, Schachmatow, Bahalij, Potebnia und anderer und nach dem Zeugnis der Petersburger kaiserlichen Akademie der Wissenschaften eine selbständige Sprache ebenso wie das Polnische, Bulgarische, Serbische, Tschechische oder wie eine jede andere slawische Sprache. Keineswegs kann sie als eine „Mundart“ der russischen Sprache gelten, von der sie sich nicht nur durch Aussprache, Grammatik, Wortbildung, Syntaxe und Lexik, sondern auch durch den Geist und durch ihre Entwicklungsgeschichte gründlich unterscheidet. Außer diesem — sozusagen — theoretischen Beweis für die Selbständigkeit der ukrainischen Sprache und Nation gibt es viel wichtigere praktische Beweise. Das sind: eine selbständige, sehr mannigfaltige, von der russischen viel älteren ukrainischen Literatur*), die ukrainische Presse, das Theater, über tausendjährige Geschichte der Nation **), Tausende von ukrainischen Intellektuellen und eine immer mehr wachsende politische Bewegung, deren Losung: ein selbständiger ukrainischer Staat.

*) Die Anfänge der ukrainischen Literatur entfallen auf das neunte Jahrhundert nach Christo. Die älteste Periode kam im elften bis vierzehnten Jahrhundert zur Blüte, worauf infolge der Mongoleninvasion und der dauernden Verheerungen ein Verfall der Literatur erfolgte. In dieser ältesten Periode („Fürstenreichperiode“) sind die byzantinisch-bulgarischen Einflüsse stark; zur literarischen Sprache ist eine Mischung des Altukrainischen mit dem Kirchenslawischen (Altbulgarischen) geworden. Die älteste Blüteperiode, die solche Meisterwerke wie „Das Lied vom Feldzug des Fürsten Thor“ hervorbrachte, wurde von der russischen offiziösen Wissenschaft zugunsten der russischen Literaturgeschichte eskamotiert aus dem unhaltbaren Grund, dass die literarische Sprache dieser Periode nachher nach Moskowien verpflanzt wurde und nach ihrer Vermischung mit den russischen Elementen den Russen die Literatursprache schenkte, welche bis Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Moskowien in der Literatur vorherrschend war, bis sie von dem echtrussischen Idiom zurückgedrängt wurde. Dieser Grund ist aber gar nicht ausreichend, um die ausschließlich von den Altukrainern (Altruthenen) geschaffene Literatur als eine Vorläuferin der russischen — mit der sie in keinem organischen Zusammenhang steht — anzusehen. Nach dem Verfall der ukrainischen Literatur im fünfzehnten Jahrhundert und unter dem scholastisch-lateinischen und polnischen Einfluss wird die literarische Sprache auch durch polnisch-lateinische Elemente verunreinigt. Im achtzehnten Jahrhundert beginnt eine entschiedene Nationalisierung der literarischen Sprache, wonach Peter Kotlarewskyj aus Poltawa die neuukrainische Literaturperiode durch Einführung der reinen Volkssprache beginnt. Die neue Periode hat der Ukraine den genialen Dichter Taras Schewtschenko und eine ganze Plejade von Dichtern, Dramaturgen (Kulisch, Fedjkowytsch, Franko, Lesja Ukrainka, Kocjubynskyj, Karpenko Karyj etc.) sowie auch Gelehrte (Ohonowskyj, Kostomariw, Antonowytsch, Drahomanow, Hruschewskyj, Potebnia) gegeben.

**) Mit der ukrainischen Geschichte ist es derselbe Fall wie mit der Literatur. Die älteste Fürstenperiode dieser Geschichte (neuntes bis vierzehntes Jahrhundert) wurde von der offiziellen russischen Historiographie zu politischen Zwecken aus dem Grund eskamotiert, dass . die erste russische Dynastie von der ukrainischen Kyjiwer Dynastie (Rury kowytschi) abstammte. In der Wirklichkeit war aber ausser dieser Dynastiegemeinschaft zwischen dem altukrainischen Staate Wladymyr des Grossen und seiner Nachfolger und dem erst im dreizehnten Jahrhundert beginnenden Staatsleben der Moskowiter gar nichts gemein. Im Gegenteil: Moskowien war von der Ukraine gleichwie durch eine chinesische Mauer getrennt. Im vierzehnten Jahrhundert unterlag Ukraine der litauischen und nachher der polnischen Herrschaft, wonach im sechzehnten Jahrhundert ein Kampf gegen das polnische Joch beginnt. Dieser endet mit der Lostrennung eines Teiles der Ukraine von Polen (1656), mit der Bildung eines ukrainischen Staates und Untergebung desselben unter das russische Protektorat. Dieses Protektorat (XVII—XVIII) endete mit der Unterjochung der Ukraina durch Russland. Zum Zweck der Begründung dieser Unterjochung wurde die Theorie von der für Russen und Ukrainer angeblich „gemeinsamen“ Geschichtsperiode vom neunten bis vierzehnten Jahrhundert erdichtet.

In dem jetzigen Entwicklungsstadium sind die Ukrainer beiderseits der russisch-österreichischen Grenze zu einem politischen Faktor geworden, mit dein sowohl beide interessierten Staaten (Russland und Österreich) wie auch ihre Nachbarn (die Polen vom Westen, die Russen von Nordosten) rechnen müssen. Die Tatsache der ukrainischen Bewegung ist auch für die anderen europäischen Völker nicht gleichgültig. Die reichsdeutsche und die englische Presse wenden seit einigen Jahren der Ukraine eine immer größere Aufmerksamkeit zu. Die österreichischen Ukrainer (auch Ruthenen genannt) sind heute eine politisch entwickelte Nation mit einem regen politischen Leben (zahlreiche Pressorgane, ein entwickeltes Parteileben, über 30 ukrainische Abgeordnete im österreichischen Parlament, dasselbe in den Landtagen von Galizien und der Bukowina). Auf dem kulturellen Gebiet haben sie es trotz der polonisierenden Tendenz des galizischen Landesschulrates sehr weit gebracht. Sie besitzen ein paar tausend ukrainische Volksschulen, zehn Staatsgymnasien, zwölf Privatgymnasien mit ukrainischer Vortragssprache, kulturelle und wissenschaftliche Vereine, eine ansehnliche Literatur, Kunst, Theater, Museen, einen Teil der Katheder an der Lemberger und Czernowitzer Universität, eine Kationalkirche u. s. w. In ökonomischer Hinsicht haben sie auch, ungeachtet der von den polnischen Behörden gestellten Hindernisse, vieles geleistet (Tausende von Kredit-, Konsum-, Produktivvereinen, eine starke landwirtschaftliche Organisation mit 72.000 Mitgliedern, rasches Emporwachsen des Bürgertums u. s. w.). In den letzten Jahren haben sie eine für sie vorteilhafte Reform der Wahlordnung im Bukowinaer und Galizischen Landtag erzielt und haben es auch verstanden, die Frage der Kreierung einer selbständigen ukrainischen Universität in Lemberg höchst aktuell zu machen. In dem österreichischen parlamentarischen Leben sind sie auch ein nicht zu geringschätzender Faktor geworden. Es genügt, wenn wir nur an die ein paar Monate dauernde ukrainische Obstruktion in der vorjährigen Parlamentssession erinnern.

Die russischen Ukrainer können sich zwar mit den österreichischen, was die Stufe ihrer nationalen Entwicklung anbelangt, nicht messen — das Ukrainertum wird ja in Russland als ein Staatsverbrechen verfolgt! — Dieser Umstand wird aber durch ihre große Masse, durch regere nationale Tradition sowie durch einen größeren Wohlstand gutgemacht. Bis zum Jahre 1906, das heißt bis zur sogenannten russischen Revolution, war sogar die harmloseste ukrainische Presse oder Literatur in Russland untersagt. Erst seit dem Jahre 1906 haben wir daselbst ukrainische Zeitungen und eine legale ukrainische Literatur. Seit der Zeit begann auch ein regeres politisches Leben der russischen Ukrainer, welche in den zwei ersten russischen Reichsdumas zahlreiche ukrainische Abgeordnetenklubs, die zirka 50 Mitglieder gezählt hatten, besaßen. Wenn die Wahlordnung für die dritte Duma radikal geändert wurde, so geschah das nicht aus Rücksicht auf die russisch-revolutionären Elemente, wie vielmehr in der Absicht, die ukrainische Repräsentation aus der Duma auszufegen, da dieselbe durch ihr Programm „der Autonomie der Ukraine“ Russland mit einer Zerspaltung bedrohte. Die wachsende Reaktion und der kriegerische Nationalismus in Russland haben ihre Spitze hauptsächlich gegen das Ukrainertum gerichtet, da sie in ihm die Achillesferse Russlands sahen. Die Repressalien gegen die demokratisch-russischen Elemente in Russland sind zweifellos groß, allein sie sind hundertmal größer in Bezug auf die Ukrainer. Demnach ist es kein Wunder, wenn die russischen Ukrainer Galizien als ein ukrainisches Piemont anschauen, da in Österreich, eine relativ große Freiheit für die nationale Entwicklung besteht. Für ein ukrainisches Piemont sieht auch Russland Galizien an und eben deswegen hat der berüchtigte Propagator des russischen Panslawismus (richtiger: Panrussismus), Graf Bobrinskij, in Schrift und Wort erklärt, dass Russland solange nicht ruhen darf, bis an den Karpathen die russische.Fahne flattern werde.

Dieses ukrainischen Piemonts hat sich nun Russland „angenommen“, um es — wie die Sache in der russischen und öfters auch in der nichtrussischen Presse dargestellt wird — zu „befreien“. Es wird die Sache so geschildert, dass Russland den Krieg zum Zwecke der „Erlösung“ der 4 ½ Millionen galizischer „Russen“ unternommen habe, wobei unter diesen angeblichen „Russen“ die österreichischen Ukrainer (Ruthenen) gemeint sind. Den Vorwand zu der „Befreiungsmission“ soll die Tatsache bilden, dass es in Galizien unter den Ukrainern eine kleine russophile Fraktion gibt, welche eben deshalb, dass sie die nationale Einheit der Ukrainer mit den Russen zu ihrem Programm gemacht hatte, keine natürliche Basis im Volke finden konnte und schon längst verschwinden müsste, wenn nicht die jährlichen sich auf Millionen Rubel belaufenden Subventionen aus Russland von dem genannten Grafen Bobrinskij, von dem „Slawischen Wohltätigkeitsverein“, der „Galizisch-russischen Gesellschaft“ in Petersburg und jenen regierenden Kreisen Russlands, die hinter den genannten Personen und Vereinen stehen, herüberkämen. Die Künstlichkeit dieser „Partei“ unter den galizischen Ukrainern beweisen am besten folgende Tatsachen: In Ostgalizien gibt es keine russische Kultur, keine russische Literatur, kein russisches Theater und keine russische Umgangssprache, da außer ein paar russophilen Redakteuren und Agitatoren niemand (auch die Russophilen nicht) der russischen Sprache mächtig ist. Es ist weiter eine Tatsache, dass das allgemeine und direkte Wahlrecht auf 31 Ukrainer nur zwei Russophile ins Parlament gebracht hat, dass auf 15 Ukrainer kein einziger Russophile in den Bukowinaer Landtag gewählt wurde, und auf 35 Ukrainer im Landtag Galiziens nur ein einziger Russophile war. Endlich muss es konstatiert werden, dass auf 800 (achthundert!) Abonnenten des russophilen Tagblattes, „Prikarpatskaja Rusj“, mehr als die Hälfte allerlei offizielle Persönlichkeiten und Institutionen in Russland, ein Viertel Redaktionen, Kasinos und Kaffeehäuser in Galizien und Wien, und nur ein Viertel (nicht volle 200) Privatabonnenten unter den galizischen Ruthenen ausmachten. So sieht das angebliche „russische Volk“ in Galizien aus!

Allein die galizischen Ukrainer (Ruthenen) kennen den Wert dieser „Befreiungssentimente“ Russlands Galizien gegenüber allzu gut und deshalb haben sie sich mit dem Moment des Kriegsausbruches ohne jeden Vorbehalt auf die Seite Österreichs und gegen Russland gestellt.

Die durchaus österreichische und antirussische Stellung der galizischen Ukrainer (Ruthenen) wird nicht nur durch die jetzige beispiellose russische Unterdrückung der Ukrainer in Russland, sondern auch durch die Kenntnis der ganzen Geschichte der russischen Politik den Nichtrussen, insbesondere der Ukraine gegenüber, bestimmt. Die Ukrainer Russlands — eine 30 Millionen Köpfe zählende Masse — haben heute weder eine eigene nationale Volksschule noch eine eigene Kirche, sie dürfen sich ihrer Muttersprache weder vor Gericht noch in der Gemeindeverwaltung oder Semstwoautonomie u. s. w. bedienen. Im Gegenteil: ihre Literatur und Presse wird durch unerhörte Repressalien unterbunden, die Ukrainer, die sich national betätigen, werden verhaftet und nach Sibirien deportiert. Bis heutzutage, schmachten ja noch in Nordostsibirien ukrainische Abgeordnete der ersten und zweiten Reichsduma, und die russischen Postämter sind verpflichtet, den Polizeibehörden anzuzeigen, wer von den Ukrainern die ukrainischen — von der Zensur ausnahmsweise zugelassenen — Zeitungen abonniert, wonach gegen dieselben mit Repressalien vorgegangen wird.

Aber die Ukrainer Russlands sind sich dessen bewusst, dass es ehemals ein besseres Leben in ihrer Heimat gegeben hatte, dass sie einen eigenen Staat, ein nationales, hoch entwickeltes Schulwesen (Volksschulen, Lizeen, Akademien u. s. w.), eine eigene Nationalkirche, die nur nominell dem Konstantinopeler Patriarchat unterworfen, tatsächlich aber autokephal mit einem eigenen Kyjiwer Exarchen an der Spitze war, besessen hatten. Noch bis zur Schlacht bei Poltawa (1709) hat ja zu beiden Seiten des Dniprstromes ein unabhängiger ukrainischer Staat mit einer souveränen ukrainischen Regierung (das Staatsoberhaupt hieß „Hetman“) mit eigener Nationalmiliz, mit diplomatischen Beziehungen u. s. w. existiert, ein Staat, der lediglich unter dem Protektorat Russlands, das damals noch den richtigen Namen „Moskowien“ führte, stand. Dieser ukrainische Staat, der vom ukrainischen „Hetman“ Bohdan Chmelnyzkyj um die Mitte des 17. Jahrhunderts nach den blutigen Kämpfen der Ukrainer geschaffen wurde, vereinigte den größeren Teil des damaligen ukrainischen Territoriums, und zwar die heutigen Gouvernements: Kijew (ukrainisch: Kyjiw), Ozernigow (ukrainisch: Tschernyhiw), Poltawa, Jekaterynoslaw, die Teile der Gouvernements Cherson, Podolien (ukrainisch: Podile), und Wolhynien (ukrainisch: Wolynj), wenngleich die westlichen ukrainischen Gebiete (der Rest von Podolien und Wolhynien, Cholmerland und Galizien) bei den Polen verblieben. Durch den langjährigen Krieg mit Polen erschöpft und von dem Krimchanat vom Süden bedroht, wurde Bohdan Chmelnyzkyj endlich gezwungen, die Hilfe in dem Protektorat des moskowitischen Zaren zu suchen, was auch im Perejaslawer Vertrag vom Jahre 1654 geschah. Dieser Vertrag verbürgte der Ukraine als einem Vasallenstaat unter dem Protektorat des russischen Zaren ihre volle Staatssouveränität (ein ähnliches Verhältnis wie es noch vor kurzem zwischen Bulgarien und der Türkei bestand). Das war auch der Anfang des tragischen Endes des selbständigen ukrainischen Staates. Der russische Zarismus, der den Hetman Chmelnyzkyj in sein Protektorat durch das Versprechen der russischen Hilfe zur Befreiung aller ukrainischen Gebiete von der polnischen Herrschaft eingefangen hatte, begann sogleich nach dem Tode Chmelnyzkyjs (1656) die Bestimmungen des Perejaslawer Vertrages zu verletzen und zu brechen, indem die russische Regierung die Souveränität des ukrainischen Hetmans, die Stärke der ukrainischen Nationalmiliz, die ukrainische kirchliche Autonomie u. s. w. beschränkte, sich in die inneren ukrainischen Angelegenheiten, Partei- und Klassenkämpfe einmischte, und die Parteigegensätze sowie soziale Antagonismen in der Ukraine mit Geld, Agitation, ja sogar mit Waffen und Truppen unterstützte. Die Ukraine, von den Krim-Tataren vom Süden und von den Polen vom Westen fortwährend bedroht, geriet in eine höchst schwierige Lage. Der Nachfolger des Chmelnyzkyj, Hetman Iwan Wyhowskyj, ein Staatsmann von höherem Sinne und voll Selbstverleugnung, hat eine andere Kombination versucht, indem er mit Polen einen Unionsvertrag in Hadiatsch (1658) schloss, wonach Ukraine als ein dritter souveräner Staatsorganismus in eine Union mit der polnisch-litauischen Republik trat, worauf er eine starke russische Armee bei Konotop vernichtete. Die Bauernrevolte gegen die ukrainischen höheren Klassen in östlichen Gebieten der Ukraine, welche von der moskowitischen Regierung mit Geld, Waffen und Truppen unterstützt wurde, zwang den Hetman Wyhowskyj zum Verzicht auf die Hetmanswürde. Von seinem Nachfolger wurde wiederum ein Protektoratsvertrag mit Moskowien geschlossen, wonach aber die volle Souveränität der Ukraine manche Einbuße (was die diplomatischen Beziehungen und die kirchliche Autonomie anbelangt) erlitt.

Der Krieg zwischen Moskowien und Polen, der nachher erfolgte und auf dem ukrainischen Territorium um die Oberherrschaft über die Ukraine geführt wurde, hat die Ukraine verwüstet und führte endgültig zu einer Teilung der Ukraine längs des Dniprstromes in zwei Interessengebiete: ein polnisches und ein russisches. (Vertrag von Andrusow 1667.) Seither bestanden zwei ukrainische Hetmanenstaaten: westlich vom Dnipr unter dem polnischen und östlich vom Dnipr unter dem russischen Protektorat, wonach die tragischste Periode der ukrainischen Geschichte — die Periode blutiger und erfolgloser Kämpfe und Aufstände um die Vereinigung beider Teile der Ukraine und um die Freiheit der Ukraine sowohl Polen wie auch Moskowien gegenüber — beginnt. Hetman Peter Doroschenko versucht es mit dem türkischen Protektorat und einem Bündnis mit dem Krimchanat, unterliegt aber der kombinierten russisch-polnischen Invasion. Eine schreckliche Verwüstung des Landes war die Folge des langjährigen Krieges.

Der letzte, der es mit der Waffe in der Hand versucht hatte, die Ukraine aus der immer enger werdenden russischen Schlinge zu befreien, war Hetman Iwan Masepa, die romantische Gestalt der Dichtungen von Byron, Puschkin, Shelly, Voltaire und Slowacki. In der Wirklichkeit war aber Iwan Masepa ein recht nüchterner Politiker und energischer Administrator, und sein langjähriges Hetmanentum hat das verwüstete Land wirtschaftlich, kulturell und politisch gehoben. In der Ukraine wurden Hunderte von Schulen (es war um die Wende des 17. und 18. Jahrhunderts!), Lizeen, Buchdruckereien, monumentalen. Bauten (Kirchen, Klöster, Stiftungen u. s. w.) errichtet, eine Armee- und Finanzreform wurde durchgeführt, und was das wichtigste ist: langsam wurden von ihm die westlich vom Dnipr gelegenen und nach dem Andrusower Vertrag losgerissenen Gebiete von Polen zurückgewonnen. Diese Stärkung der Ukraine hat den Masepa und seine patriotischen Mitwirker ermutigt, im Jahre 1708 an die Seite des Königs von Schweden, Karl des XII., gegen den Zaren Peter I. und den König von Polen und Sachsen, August II., sich zu stellen.

Leider konnte Masepa und Karl XII. unter den Umständen, wie sie sich damals gestalteten, unmöglich siegen. Durch rasche russische Invasion in die Ukraine wurde die Mobilisierung der ukrainischen Armee verhindert und die nördliche Ukraine durch Gräueltaten terrorisiert (es wurden Tausende von Ukrainern ans Kreuz geschlagen und den Straßen entlang aufgehängt oder an die Flöße angenagelt und stromabwärts gelassen). Die Zufuhr von Nahrung und Kriegsmaterial sowie die Verbindung mit Schweden wurde durch die sächsisch-polnische Armee unterbunden und mit der Krim bestand damals nur ein sehr schwacher Verkehr. Als dann noch ein strenger Winter hereinbrach, war das Los Karl des XII. und Masepas, und damit auch das Los der Ukraine besiegelt. Bei Poltawa (1709) sind die ukrainisch-schwedischen Truppen, trotz des heroischen Kampfes, der weit überwiegenden russischen Übermacht erlegen. Karl XII. und Masepa mussten sich nach Bessarabien, auf das türkische Gebiet, flüchten, wo in kurzer Zeit der gebrochene Greis Masepa in der Kathedrale von Galaz bestattet wurde. Die Ukraine musste jetzt die ganze Schwere der schrecklichen Hand Peter I. ertragen: die ukrainischen Städte wurden geplündert — manche dem Boden gleich gemacht, die Bevölkerung wurde dezimiert, die nationale ukrainische Kirche der russischen „Heiligen Synode“ unterstellt, sodann ihre Autonomie aufgehoben, die Autonomie des Landes zu einem Schatten der vorigen Souveränität eingeschränkt, das Gebiet westlich vom Dnipr wiederum den Polen als den Verbündeten Russlands gegen den Karl II. und Masepa abgetreten. So tragisch war das Ende der letzten Auflehnung der Ukrainer zwecks Befreiung ihres Staates von dem immer mehr drückenden russischen Ungeheuer.

Was weiter geschah, war nur eine allmähliche Agonie des ukrainischen Staatswesens in den Fangarmen des nördlichen Molochs. In die Ukraine wurden russische Residenten, die die Regierung des Hetmans überwachen sollten, geschickt. Russische Truppen besetzten alle größeren Städte. (Analogie dazu sehen wir gegenwärtig in Persien und Ägypten.) Die Ukraine wurde durch übermäßige Kontributionen, Requisitionen und Steuerzahlungen ausgebeutet. Die Druckfreiheit wurde geschmälert, indem alle Druckschriften der Zensur in Moskau (!) unterstellt wurden, was selbstverständlich die Bücherproduktion in der Ukraine fast zugrunde richtete. Die ukrainische Nationalmiliz wurde vernichtet, indem dieselbe zu Kanalbauarbeiten zwischen dem Ladogasee und dem Finnischen Meerbusen verwendet wurde. Petersburg ist buchstäblich auf den Gebeinen der Ukrainer erbaut worden. Endlich hat Katharina II., den Traditionen Peter I. getreu, den letzten Coup d’ état durchgeführt, indem sie mit dem Ukas vom Jahre 1775 die Autonomie der Ukraine und die Hetmanswürde gänzlich aufgehoben und die Ukraine endgültig dem russischen Staat einverleibt hatte. Der letzte Hetman, Cyrill Graf Rasumowskij — le roi en exile — musste sich in Petersburg ansiedeln. Seine Nachkommen, ihres Lebens unsicher, sind aus Russland nach Österreich emigriert, von denen einer, und zwar Graf Kamil Rasumowskij, einer der angesehensten Magnaten im Lande Schlesien ist.

Nach der Vernichtung des ukrainischen Staates ist nur ein ukrainisches Territorium von der russischen Herrschaft freigeblieben. Es war das Gebiet der sogenannten „Saporoger Ssitsch“, einer ordensartig eingerichteten Organisation der kriegerischen Ukrainer der südukrainischen Steppen beiderseits des unteren Laufes des Dnipr unterhalb der Dniprkatarakte („Porohy“) in dem jetzigen Taurien und Cherson Gouvernement. Diese militärische Republik wurde ein paar Jahre nachher aufgehoben und von Russland bis zur Dniprmündung annektiert, nachdem das Herz der Republik, die Festung „Ssitsch“, bombardiert wurde.

Auch der Rest, der ukrainischen Gebiete, der noch Polen angehörte, wurde in kurzer Zeit im Wege einer „Befreiung“ durch Russland annektiert. Russland hat die innere Anarchie in Polen ausgenützt, vor allem den sozialreligiösen Kampf der ukrainischen Bauern in Podolien, Wolhynien und dem Kyjiwer Gebiet, gegen das aristokratische, ultrakatholische Polen, welcher Kampf in zahlreichen Aufständen der ukrainischen Bauern gegen die Polen Ausdruck fand — um die Teilung Polens zu beschleunigen und bei dieser Teilung (Ende des 18. Jahrhunderts) alle ukrainischen Länder mit Ausnahme von Galizien in seine Hände zu bekommen. Galizien wurde, wie bekannt, von Österreich annektiert. Bei der Okkupation der zu Polen noch gehörenden westukrainischen Gebiete hat sich Russland für den „Erlöser“ der ukrainischen Bauern von dem sozialen und religiösen polnischen Joche ausgegeben, obwohl gerade das zentralisierte russische Regime es war, das endgültig eine Verstärkung des Leibeigenschaftssystems und die gewalttätige Aufhebung der griechisch unierten (griechisch-katholischen) Konfession in Podolien, Wolhynien, Cholmerland und Pidlassje (wobei Märtyrerblut der ukrainischen Bauern vergossen wurde) mit sich gebracht hatte.

Nachdem Russland auf diese Art fast das gesamte ukrainische Gebiet „befreit“ hatte, begann es die systematische Russifizierung desselben. Der ukrainische Adelstand des gewesenen ukrainischen Hetmanentums, insofern er nach der Poltawaer Niederlage zurückgeblieben war, wurde durch die Schule, die Militär- und Amtskarriere demoralisiert und russifiziert. Es genügt, zu erwähnen, dass russifizierte Ukrainer Russland und Sibirien den größten Teil der Bischöfe sowie auch einen beträchtlichen Teil der Schriftsteller, Senatoren und Gouverneure gegeben hatten (ähnlich wie osmanisierte Arnauten der Türkei). Die ukrainische Geistlichkeit wurde durch ihre Abhängigkeit von der „Heiligen Synode“ russifiziert. Die ukrainische Literatur wurde durch den Zwang einer Zensurprüfung in Moskau gänzlich vernichtet. Ukrainische Schulen und Buchdruckereien wurden kurzweg geschlossen. Wenn man dazu erwägt, dass die Ukraine — insbesondere der westlich vom Dnipr gelegene Teil — durch unaufhörliche, jahrelang dauernde Kriege devastiert wurde, und dass unter dem polnischen Regime fast der ganze ukrainische Adels- und Bürgerstand entweder vernichtet oder polonisiert wurde, so ist es klar, dass die Ukraine außerstande war, dem Russifizierungssystem einen ernsten Widerstand zu leisten.

Der Zeitraum von dem Bombardement der „Ssitsch“ und von der Teilung Polens bis in das vierte Dezennium des 19. Jahrhunderts ist die Zeit eines Scheintodes der ukrainischen Nation, die in dieser Periode fast ausschließlich aus den Millionen von Leibeigenen bestand. Erst das vierte Dezennium des vorigen Jahrhunderts hat die Wiedergeburt der ukrainischen Nation, anfangs — ähnlich wie es auch bei anderen Slawen der Fall war — eine romantisch-literarische, nachher die politische Wiedergeburt des Ukrainertums gebracht. In Galizien beginnt nach dem Muster der Tschechen, Slowaken und Slowenen im vierten Dezennium des vorigen Jahrhunderts die Kultivierung der ukrainischen („ruthenischen“) Sprache und Literatur, und im „Lenz“ der österreichisch-ungarischen Völker (1848) haben sich auch die galizischen Ukrainer als ein von den Polen und Russen selbständiges, dagegen mit den Ukrainern in Südrussland einheitliches und identisches Volk proklamiert.

Jedenfalls aber haben sich die Kräfte des Ukrainertums so entwickelt, dass Ostgalizien mit seinen ukrainischen Gymnasien, Schulen, mit der Nationalkirche, der ukrainischen Presse, mit dem Theater, den Museen, dem ukrainischen politischen Parteileben, den Vereinen u. s. w., zu einem Piemont für die ganze unter dem russischen Regime stöhnende Ukraine geworden ist.

Das Los der russischen Ukraine ist ohne Vergleich schwerer als das der österreichischen, da der Absolutismus und der Zarismus jede nationale Bewegung in Russland paralysieren. Der größte Dichter der Ukraine, Taras Schewtschenko, und seine Genossen aus der sogenannten „Cyrill Methodius Gesellschaft“ (das fünfte Dezennium des vorigen Jahrhunderts) haben ihre Träume von einem selbständigen ukrainischen Staat mit Verbannung nach Turkestan, Uralgebiet und Archangelsk büßen müssen. Die liberale Richtung des siebenten Dezenniums des vorigen Jahrhunderts hat dem russischen Ukrainertum neue Hoffnungen geöffnet, allein die Zarenukase vom Jahre 1866 und 1876, die jedes gedruckte ukrainische Wort untersagt hatten, ließen alle Hoffnung schwinden. Die ukrainischen politischen Emigranten (Drahomanow und Genossen) übertragen ihre Tätigkeit nach Genf und Lemberg, die ukrainische Literatur findet in Galizien ihre Zuflucht, und die russische Ukraine verfällt neuerlich in einen Lethargiezustand, indem sie ihre regsamsten Kräfte den russischen revolutionären Organisationen zuführt. Erst der breite Revolutionsstrom um die Jahrhundertwende hat das Ukrainertum in Russland neuerdings geweckt, indem er in der russischen Ukraine eine „unterirdische“ Organisation der „Ukrainischen revolutionären Partei“ ins Leben rief. Die erste Programmbroschüre dieser Partei führt die Überschrift „Die unabhängige Ukraine“ (1900). In der Zeit der russischen Revolution hat sich auch das Ukrainertum betätigt, was dann in der Bildung zweier starker ukrainischer Klubs in der ersten und zweiten Reichsduma mit der Losung der Autonomie der Ukraine seinen Ausdruck fand. Mit den Jahren 1905 und 1906 beginnt das Ukrainertum eine politische Massenbewegung zu werden, die bei den russischen Nationalisten („Nowoje Wrjemja“, „Kijewlanin“ und anderen) den Kamen „Masepismus“ führt und dem Hochverrat gleichgestellt wird.

Eben dieser Aufschwung der ukrainischen nationalen Bewegung beiderseits der Grenze hat den Krieg Russlands mit Österreich beschleunigt. Die russischen nationalistischen und offiziellen Kreise haben die rasche Entwicklung des ukrainischen Piemonts in Ostgalizien als eine Ursache des nationalen Erwachens der russischen Ukraine angesehen, und in der ukrainischen Nationalbewegung witterten sie eine österreichisch-deutsche Intrige gegen die Einheit Russlands.

Die natürliche Entwicklung des jungen wiedererwachenden Organismus wurde in der nationalistischen Verblendung — trotz der Warnungen so angesehener Männer wie Miljukow, Karjejew, Korsch, Schachmatow und andere — als das Produkt einer ausländischen Intrige zum Zwecke der Spaltung Russlands erklärt. Eben dieser Umstand hat über den endgültigen Ausbruch des Krieges, der schon seit ein paar Jahren herannahte, entschieden. Wenn Russland seit einigen Jahren unermüdlich zum Kriege rüstete und gleichzeitig Serbien sowie Montenegro gegen Österreich, die Polen gegen die Deutschen, die Balkanvölker gegeneinander, Rumänien gegen Österreich u. s. w. hetzte und in Galizien als einem Grenzland hundertfach ihre russophile Propaganda mit Geld, Broschüren, Emissären u. s. w. stärkte, so geschah das alles nur mit Rücksicht darauf, dass der Krieg gegen Österreich wegen der galizischen Ukraine bereits eine entschiedene Sache war. Serbien hat in den Kriegsmotiven bloß eine untergeordnete Rolle gespielt und wurde nur als ein Werkzeug russischer Machinationen verwendet. Das Ziel Russlands in dem Kriege ist, das ukrainische Piemont in Galizien in seine Hände zu bekommen und zu erdrücken, — die territoriale Stärkung Serbiens, Montenegros oder auch Rumäniens ist nur ein zufälliges Akzidens, nur ein Mittel, die militärische Hilfe dieser Staaten für Russland zu gewinnen, wonach dieselben — gleich allen Balkanstaaten — einer nach dem andern das Los der Ukraine, Polens, Finnlands, Kaukasus u. s. w. teilen sollen.

Nach dem Gesagten wird es einem jeden einleuchten, warum sich die Ukrainer so entschieden und ohne jeden Vorbehalt an die Seite des österreichisch-deutschen Bündnisses gestellt haben. Sie haben es getan im Bewusstsein der Bedrohung ihres nationalen Piemonts, demnach auch ihrer gesamten nationalen Zukunft seitens des russischen Molochs. Die ukrainische Presse, die ukrainischen Abgeordneten und die ukrainischen Parteien in Galizien haben sich für einen entschiedenen Kampf gegen Russland erklärt. Alle ukrainischen Parteien Österreichs haben gleich nach der Kriegserklärung einen gemeinsamen „Allgemeinen ukrainischen Nationalrat“ gebildet, der in einem feurigen Aufruf alle Ukrainer der Monarchie zum Kampfe gegen den schrecklichsten Nationalfeind, nämlich gegen Russland, aufforderte und die Bildung eines ukrainischen Freischützenkorps für Österreich gegen Russland anordnete. Das Korps wurde gebildet und hat sich bereits in den Karpatenkämpfen ausgezeichnet. Dieselbe Stellung haben auch die russischen Ukrainer, insofern sie nicht unter dem Terrorismus des Kriegszustandes von Russland geknebelt wurden, also die ukrainischen Emigranten und die ukrainischen Soldaten, die als russische Kriegsgefangene von den Österreichern gefangengenommen wurden oder sich freiwillig ergeben haben und dergleichen, gebilligt.

Die wenigen Zeilen, die den fremden Leser vielleicht ganz neue, bisher von ihm unbeachtete Tatsachen bringen, mögen für die Balkanvölker sowie auch für andere Nachbarn des russischen Imperiums eine Warnung vor der „Erlösermission“ Russlands sein. Die russische Despotie ist in ihrer Grundlage aggressiv, eroberungssüchtig und den Nachbarvölkern gegenüber rücksichtslos. Sie hat für ein Nebenleben oder für ein Nachbarschaftsverhältnis kein Verständnis — sie kennt nur Einverleibung und Unterdrückung. Ein Staatsorganismus nach dem andern wurde von Russland verschlungen, wobei immer dieselben Mittel der „Erlösungspropaganda“: Geld, Korruption, Intrige, Aufhetzung und zuletzt militärische Übermacht angewendet werden. In der Ukraine hat Russland den Adel gegen die Bauern aufgehetzt und gleichzeitig den ukrainischen Adel durch die Aussichten auf Karriere und auf Privilegien korrumpiert; in Polen hat es die schwer unterdrückten Ukrainer und Orthodoxen gegen die Polen und Katholiken gehetzt; in Kurland und Livland die lettischen Bauern gegen die deutschen Barone, die wieder mit Karriere und Privilegien korrumpiert wurden; in Finnland die finnischen Bauern gegen das schwedische Bürgertum; im Kaukasus die Christen gegen die Mohammedaner, die Tataren gegen die Armenier, Georgier gegen Tscherkessen, georgische und mingrelische Bauern gegen ihren Adel, welcher wiederum mit Geld und Karriere korrumpiert wurde. Alle die Länder und Völker wurden von ihren kleineren Bedrückern zu dem Zweck „erlöst“, damit das schwache polnische, deutsche, schwedische, mohammedanische oder sonst ein anderes schwaches Joch durch das eiserne russische ersetzt werde. Die Nachbarvölker Russlands und die Balkanvölker mögen eingehend diese Seite der russischen Geschichte, allerdings nicht nach den offiziellen russischen Geschichtsbüchern, durchblättern und sie werden in der Geschichte ihr zukünftiges Los in dem Falle, wenn Russland es gelingen sollte, Österreich-Ungarn zu zertrümmern, im voraussehen. Für uns Ukrainer, die wir mit der Psychologie des russischen Imperialismus vortrefflich vertraut sind, besteht nicht der geringste Zweifel, dass nach der Teilung Österreich-Ungarns, Rumänien, Bulgarien, Serbien und Konstantinopel an die Reihe kämen. Die Zertrümmerung Russlands dagegen und die Bildung zwischen dem Balkan und Europa einerseits und dem Russland anderseits neuer Staatsgebilde, der Ukraine, Polens und Finnlands könnte ein für alle Mal für kleinere Nationen Nord- und Mitteleuropas sowie für die Balkanvölker eine Schutzmauer gegen die russische Gefahr bilden.

Was speziell die Balkanstaaten betrifft, so würde Russland durch die Errichtung eines ukrainischen Staates vom Schwarzen Meer auf immer abgedrängt, und die Meerengen sowie die Balkanhalbinsel von der Gefahr, die an sie schon seit 150 Jahren heranschleicht, befreit. Vom Schwarzen Meer und von der Balkanhalbinsel durch eine machtvolle ukrainische Brustwehr getrennt, würde Russland aufhören, die Existenz von Balkanstaaten zu bedrohen, sowie jedes Interesse für die Intrigen auf der Halbinsel verlieren. Die Schaffung einer solchen Schutzmauer, in der ersten Reihe des ukrainischen Staates (ohne die Losreißung der Ukraine bleibt Russland trotz der Lostrennung Polens oder Finnlands immer gefährlich!), ist zu einer historischen Notwendigkeit für die von Russland bedrohten Nationen geworden. Und wer eigentlich — vom Nordkap bis nach Konstantinopel — ist nicht von Russland bedroht? . . .