Der Aufruf an die öffentliche Meinung Europas

Die beispiellose herausfordernde Politik Russlands hat über die ganze Welt eine Katastrophe herbeigeführt, wie eine solche kaum die Geschichte kennt. Wir Ukrainer, die Söhne eines großen unter Österreich-Ungarn und Russland geteilten Volkes, das auf eine unerhörte Weise vom Zarismus unterdrückt wird, sind uns dessen bewusst, worum es sich in diesem Kriege handelt. Nicht etwa um Hegemonie des ,,Germanentums“ oder „Slawentums“. Der Krieg wird zwischen Kultur und Barbarei geführt. Der Krieg wird geführt, um endgültig die Macht einer Idee zu brechen, der Idee des Panmoskowitismus, die unberechenbaren Schaden ganz Europa gebracht und dessen Wohlstand und Kultur bedroht hat.

Die politische Blindheit der slawischen Völker böswillig ausnützend, hat Russland diese Idee, welche unter dem falschen Namen „Panslawismus“ bekannt ist, zu einem Werkzeug seiner aggressiven Pläne gemacht. Diese Idee hat schon die Ukraine als einen unabhängigen Staat zertrümmert, Polen niedergeworfen, die Türkei geschwächt und in den letzten Jahren ihre Netze sogar auf Österreich-Ungarn geworfen. Das Tor, durch welches der triumphierende Panmoskowitismus seinen Einzug in Österreich-Ungarn halten sollte, um dieses zu zertrümmern, sollte Galizien sein. Unser, zwischen zwei Reichen geteiltes Volk, sollte Russland dazu dienen, damit der Zarismus die Beherrschung der Meerengen und der Stadt Konstantinopel erlange, wohin der Weg nach dem Rezept der russischen Diplomatie über Wien geht. Zu diesem Zwecke hat Russland schon seit Jahren seine Wühlarbeit unter unserem Volke in Galizien betrieben. Die Rechnung war klar: wird unser Volk, das in Russland brutal geknechtet ist, in Galizien für die Sache Russlands gewonnen, dann wird die Aufgabe, die zarische Fahne auf den Karpaten aufzupflanzen, ungemein erleichtert. Würden dagegen die 30 Millionen Ukrainer im Zarenreich unter dem Einfluss ihrer galizischen Brüder zur richtigen Beurteilung der nationalen und politischen Interessen gebracht werden, dann würden alle Expansionspläne Russlands zusammenbrechen.


Ohne Lostrennung der ukrainischen Provinzen Russlands wäre auch das vernichtendste Debakel dieses Reiches im jetzigen Kriege nur ein schwacher Stoß, von welchem sich der Zarismus in einigen Jahren erholen würde, um seine alte Rolle, eines Störers des europäischen Friedens, weiter zu führen. Nur die freie zum Dreibund gravitierende Ukraine könnte eine Schutzmauer für Europa gegen Russland bilden, welche für immer die Expansion des Zarismus unschädlich machen und die slawische Welt von dem verderblichen Einfluss des Panmoskowitismus befreien würde.

In vollem Bewusstsein ihrer historischen Mission, ihre alte Kultur vor dem asiatischen Barbarismus der Moskowiter zu schützen, ist die Ukraine die ganze Zeit ein ausgesprochener Feind Russlands gewesen, indem sie in ihren befreienden Bestrebungen stets die Hilfe des Westens, insbesondere der Deutschen aufsuchte. Die Hetmanen Bohdan Chmelnyzkyj, Doroschenko und Orlyk wendeten sich an Deutsche, Masepa an Schweden. Sogar zur Zeit Katharina II. suchte der ukrainische Adel bei dem preußischen Hof den Schutz gegen „die moskowitische Tyrannei“. Die Schewtsckenko-Demonstrationen in Kiew im März des laufenden Jahres, bei welchen die Rufe „Es lebe Österreich! Nieder mit Russland!“ laut wurden, bezeugen, dass der ukrainische politische Gedanke wieder den Weg alter historischer Traditionen geht.

Wir — Ukrainer Russlands, die wir uns in dem Bund zur Befreiung der Ukraine vereinigt haben — werden alle unsere Kräfte zur endgültigen Abrechnung mit Russland aufbieten. In diesen folgenschweren Zeiten, in denen sich unsere Nation auf beiden Seiten der Grenze zum letzten Kampf mit unserem Erbfeind rüstet — wenden wir uns mit diesem Aufruf an die ganze zivilisierte Welt! Möge sie unsere gerechte Sache unterstützen! Wir appellieren in der tiefen Überzeugung, dass die ukrainische Sache gleichzeitig die Sache der europäischen Demokratie ist. Nie wird Europa zur Ruhe kommen, nie vor der drohenden Invasion des Zarismus freigemacht, nie seiner Kulturgüter sicher sein, bis auf den weiten Steppen der Ukraine ein Bollwerk gegen Russland errichtet sein wird!

Die großen Opfer, die unser Volk in seinen Kämpfen mit Russland im Laufe von Jahrhunderten gebracht hat und bringt, geben uns das moralische Recht, die Aufmerksamkeit und das Verständnis der zivilisierten Welt für unsere Sache, für die Unabhängigkeit der Ukraine zu verlangen!

Damit in der Zeit — da auf den Leichenfeldern, auf welchen Tausende Ukrainer verbluteten, das Schicksal der Völker Europas entschieden wird, die volle Bedeutung unserer Sache für Europa nicht unbekannt bleibe, wenden wir uns mit diesem Appell an die öffentliche Meinung aller Nationen, deren politische Interessen in diesem großen Augenblick mit den Interessen der Freiheit und Zivilisation eines sind.

Wien, am 25. August 1914.

Der Bund zur Befreiung der Ukraine.