Vorwort

Infolge der Papiernot wurde die Drucklegung des Werkes verzögert; und immer noch dieser Krieg! Inzwischen hat sich der Zerfall des russischen Reiches in mehrere Rechtsstaaten vollzogen (vgl. S. 69) — vielleicht das bedeutendste Ergebnis des ganzen Krieges. Das Russland Peters des Großen und Katharinas II. ist hin; die Nichtigkeit gewaltsam gemachter Völkergeschicke hat sich wiederum enthüllt. Nun endlich wird auch mit Osteuropa, was mit Westeuropa vorlängst geworden. Eine größere politische Freude könnte Europa nicht erleben, wenn es jetzt sich freuen könnte.

Aber die Welt zittert unter den Schrecken, und übrigens scheint sie nur fähig des unerhörtesten politischen Dilettantismus. Auch in Deutschland wird je länger je mehr geträumt von der neuen Zeit durch diesen Krieg. Die alte Zeit, die neue Zeit — ? Es gibt schwere Zeiten für die Menschheit und leichtere! Wir leben in einer der schwersten Zeiten, in einer gefährlichen Lebenskrisis der Menschheit; in der Zeit des ungeheuersten Kampfes der Menschen gegen die Menschen und gegen den Hunger. Was sich nun, neben dem Fürchten, auch hoffen lässt: zu einer würdigeren Lebensstufe der Gesellschaft mit ganz neu begründeten Zuständen werden wir schwerlich erhoben; epochal für eine neue Menschheit mit einer neuen Politik wird dieser Krieg nicht werden. Eine Erneuerung der Menschheit kann nicht ausgehen von der noch so rasenden Kriegsfurie, sondern nur von der Idee; und welche Idee wäre mächtig genug, die Natur der Menschheit zu ändern und umzudrehen? Dieser Krieg, ohne Idee und Geistesrausch, wird umso weniger die alte Natur der Menschheit auslöschen und keine neue, moralische Politik bringen. Politik beruht auf der unveränderlichen Menschennatur.


Moralische Politik! — die wir, ebenso wie den ,,Ewigen Frieden“, schon einmal gehabt haben: an der Heiligen Allianz; und die drei Monarchen, die sie schlössen, nannten sich die Heiligen Drei Könige. Eine richtige Heiligung der Politik, eine wirkliche moralische Politik war es freilich nicht, sondern im Grunde doch auch unmoralische Politik; wie alle Politik bisher. Aber nun ganz gewiss wird eine richtige moralische Politik; denn kein Zweifel: die Politik muss moralisch sein, — früher glaubten sie, 2 x 2 sei 3, aber jetzt wissen sie natürlich, dass es fünf macht! —

Die Politik soll nicht unmoralisch sein, aber wehe uns, wenn sie moralisch würde! Möchte sich die Aufklärung über die Moral und die Aufklärung über die politischen Prinzipien, wie sie in diesem, vor dem Kriege abgeschlossenen Werke versucht wird, von einigem Nutzen erweisen. Ich finde daran auch während des Krieges nichts zu ändern. Es ist die Aufklärung über die Moral und über die Politik, welche beruhen auf der unveränderlichen Menschennatur.

Die Politik muss sein, was sie ist; und Kriege, die immer zur Politik gehören werden, müssen sein, was sie sind. Die Menschen sollten nie vergessen, was Kriege sind, — auch nicht nach dem Friedensschluss; auch nicht als Sieger. Ein altes Buch schildert ein Reich, in dessen Geschichte es an Kriegen nicht fehlt, aber: die vaterländischen Jahrbücher erwähnen von diesen Kriegen nicht allzuviel; sie beschränken sich hauptsächlich auf Erzählung von friedlichen Begebenheiten, Gesetzen, Einrichtungen und Erfindungen. Und die aus dem Kriege heimkehrenden Sieger werden nicht wie bei uns mit Illuminationen, Siegesgepränge, Freudengeschrei und Te Deums empfangen. Vielmehr verleben sie einige Zeit in tiefer Zurückgezogenheit und Stille, gleichsam als schämten sie sich ihres mit dem Blut ihrer Mitmenschen erkauften Sieges. Danach wird vom ganzen Lande ein Fest begangen mit ernsten Gedanken über das, was die Menschen zur Uneinigkeit und zum Streit bewegt und sie zu Ursachen des fremden und eignen Unglücks macht ; und alle Parteien und alle Vertreter der verschiedenartigen Vaterlandsgenossen bekunden feierlich und nachdrücklich den entschiedensten Willen zum Frieden und zur Duldsamkeit untereinander.

Potsdam, Juni 1918. Constantin Brunner.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Judenhass und die Juden