Abschnitt. 4 - Die Base Schlotterbeck und der Schwager Grünebaum hatten eine dumpfe Ahnung ...

Die Base Schlotterbeck und der Schwager Grünebaum hatten eine dumpfe Ahnung von dem Vorhandensein dieses Manuskripts, aber wirklichen Bescheid darum wußte nur die Frau des Poeten. Für sie war es das Wunderbarste, was man sich vorstellen konnte; es reimte sich ja „wie ‘s Gesangbuch“, und ihr Mann hatte es gemacht. Das ging über alles, was die Nachbarschaft zutage fördern konnte.
Für den Sohn waren diese zusammengehefteten Blätter ein teures Vermächtnis und ein rührendes Zeichen des ewig aus der Tiefe und Dunkelheit zur Höhe, zum Licht, zur Schönheit emporstrebenden Volksgeistes.
Die harmlosen, formlosen Seelenergüsse des Schusters Unwirrsch feierten naturgemäß die Natur in ihren Erscheinungen, das Haus, das Handwerk und einzelne große Fakta der Weltgeschichte, vorzüglich Taten und Helden des eben vorübergedonnerten Befreiungskrieges. Sie zeugten von einem bald gemütlichen, bald gehobenen Denken nach allen diesen Seiten hin. Ein wenig Humor mischte sich auch darein, doch trat das Pathetische am meisten hervor und mußte auch meistens das bekannte Lächeln erregen. Der wackere Meister Anton hatte so viel Donner und Blitz, Hagelschlag, Feuersbrünste und Wassersnot erlebt, hatte so viel Franzosen, Rheinbündler, Preußen, Österreicher und Russen vor seinem Hause vorüberziehen sehen, daß es kein Wunder war, wenn er dann und wann auch ein wenig versuchte zu donnern, zu blitzen und totzuschlagen. Mit den Nachbarn geriet er deshalb nicht in Feindschaft, denn er blieb, was er war, ein „guter Kerl“, und als er starb, trauerte nicht allein die Frau, der Schwager Grünebaum und die Base Schlotterbeck; nein, die ganze Kröppelstraße wußte und sagte, daß ein guter Mann fortgegangen und daß es schade um ihn sei.
Auf die Geburt eines Sohnes hatte er lange und sehnsüchtig gewartet. Oft malte er sich aus, was er daraus machen könnte und wollte. Sein ganzes, eifriges Streben nach Erkenntnis trug er auf ihn über; der Sohn sollte und mußte erreichen, was der Vater nicht erreichen konnte. Die tausend unübersteiglichen Hindernisse, welche das Leben dem Meister Anton in den Weg geworfen hatte, sollten den Lauf des Unwirrsches der Zukunft nicht aufhalten. Frei sollte er die Bahn finden, und keine Pforte der Weisheit, keine der Bildung sollte ihm der Mangel, die Not des Lebens verschließen.
So träumte Anton, und ein Jahr der Ehe ging nach dem andern hin. Es wurde eine Tochter geboren, aber sie starb bald nach der Geburt; dann kam wieder eine lange Zeit nichts, und dann – dann kam endlich Johannes Jakob Nikolaus Unwirrsch, dessen Eintritt in die Welt uns bereits den Stoff zu mehreren der vorhergehenden Seiten gab und dessen spätere Leiden, Freuden, Abenteuer und Fahrten, kurz, dessen Schicksale den größten Teil dieses Buches ausmachen werden.
Wir sahen den Schwager und Oheim Grünebaum seinen Pantoffel verlieren, wir sahen und hörten den Tumult der Weiber, lernten die Frau Tiebus und die Base Schlotterbeck kennen; – wir sahen endlich die beiden Schwäger Unwirrsch und Grünebaum in der Rumpelkammer sitzen und sahen die Dämmerung in den ereignisvollen Sonnenuntergang hereinschleichen: noch ein Jahr lebte der Meister Anton nach der Geburt seines Sohnes, dann starb er an einer Lungenentzündung. Das Schicksal machte es mit ihm nicht anders als mit so manchem andern; es gab ihm sein Teil Freude in der Hoffnung und versagte ihm die Erfüllung, welche von der Hoffnung doch stets allzu weit überflogen wird.
Johannes schrie tüchtig in der Todesstunde seines Vaters, doch nicht um den Vater. Die Frau Christine aber schrie sehr um den Gatten und wollte sich lange Zeit weder durch die tröstenden Worte der Base Schlotterbeck noch durch die philosophischen Zusprüche des weisen Meisters Nikolaus Grünebaum beruhigen lassen. Dem Sterbenden versprach der Schwager, sein Bestes zu tun für die Hinterlassenen und ihnen in allen Nöten nach besten Kräften beizustehen. Noch einmal rang Anton Unwirrsch nach Luft, aber die Luft war für ihn zu sehr mit Feuerflammen gefüllt; er seufzte und starb. Der Doktor schrieb ihm den Totenschein; es kam die Frau Kiebike, die Totenfrau, und wusch ihn, sein Sarg war zur rechten Zeit fertig, ein gutes Gefolge von Nachbarn und Freunden gab ihm das Geleit zum Kirchhof, und im Winkel neben dem Ofen saß die Frau Christine, hielt ihr Kind auf dem Schoß und sah mit starren, verweinten Augen auf den niederen, schwarzen Arbeitsschemel und den niederen, schwarzen Arbeitstisch und wollte es noch immer nicht glauben, daß ihr Anton niemals mehr drauf und dran sitzen sollte. Die Base Schlotterbeck räumte die leeren Kuchenteller, die Flaschen und Gläser fort, welche voll den Leidtragenden, den Leichenträgern und den kondolierenden Nachbarinnen zur Stärkung im Jammer vorgesetzt worden waren. Hans Jakob Nikolaus Unwirrsch kreischte in kindlicher Lust und streckte verlangend die kleinen Hände nach der blitzenden Glaskugel aus, welche über des Vaters Tisch hing, auf welche jetzt die Sonne schien und welche einen so merkwürdigen Schein über die Gedankenwelt Anton Unwirrschs gegossen hatte. Der Einfluß dieser Kugel sollte noch lange fortdauern. Die Mutter hatte sich an das Licht derselben so gewöhnt, daß sie es auch nach ihres Mannes Tode nicht entbehren konnte; es leuchtete weit in das Jünglingsalter des Sohnes hinein, manche Erzählung von des Vaters Wert und Würdigkeit vernahm Johannes dabei, und unlöslich verknüpfte sich allmählich in des Sohnes Geist das Bild des Vaters mit dem Scheine dieser Kugel.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor