Der Hungerpastor

Roman
Autor: Raabe, Wilhelm (1831-1910), Erscheinungsjahr: 1864

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Themenbereiche
Die erhaltende und zerstörende Macht des Hungers ist das gestaltgebende Sinnbild in diesem Roman.
Inhaltsverzeichnis
    1. Kapitel.
    1. Abschnitt. 1 - Vom Hunger will ich in diesem schönen Buche handeln, von dem, was er bedeutet, ...
    2. Abschnitt. 2 - Gib n Zeichen, daß du noch beis labendige Dasein bist, Anton brummte der Meister ...
    3. Abschnitt. 3 - Es ist nicht leicht, eine gute Predigt zu machen; aber leicht ist es auch nicht, ...
    4. Abschnitt. 4 - Die Base Schlotterbeck und der Schwager Grünebaum hatten eine dumpfe Ahnung ...
    2. Kapitel.
    1. Abschnitt. 1 - Die Alten meinten, es sei für ein großes Glück zu achten, wenn die Götter einen ...
    2. Abschnitt. 2 - Die Base Schlotterbeck war, obgleich sie nicht älter war als die Frau Christine Unwirrsch, ...
    3. Abschnitt. 3 - Doch die Tage verflossen nicht ganz allein unter Lesen und Geschichtenerzählen. ...
    3. Kapitel.
    1. Abschnitt. 1 - Johannes Jakob Nikolaus Unwirrsch war in seinem fünften Jahre ein kleiner, ...
    2. Abschnitt. 2 - Hans zog in dieser Epoche das bewegte Leben der Gasse mit seinen Einzelheiten ...
    3. Abschnitt. 3 - Wenige Leute kümmerten sich um den abgenutzten, sterbenden Armenschullehrer; ...
    4. Kapitel.
    1. Abschnitt. 1 - Auf malerische Mittelalterlichkeit machte die Kröppelstraße keinen Anspruch. ...
    2. Abschnitt. 2 - Die Zeiten waren für jedermann hart und wurden immer härter, aber Samuel ...
    3. Abschnitt. 3 - Das war ein wichtiger Schritt vorwärts und wurde als solcher gebührend anerkannt ...
    4. Abschnitt. 4 - Durch ein einziges morsches und schmutziges Fenster wurde der enge ...
    5. Kapitel.
    1. Abschnitt. 1 - Die Freundschaft zwischen dem Sohne des Schusters und dem Sohne des Trödlers, ...
    2. Abschnitt. 2 - Moses Freudenstein öffnete bei solcher Ermahnung die funkelnden Augen ...
    3. Abschnitt. 3 - Aber Meister, was hat denn das arme Kind eigentlich gesagt, was Euch ...
    6. Kapitel.
    1. Abschnitt. 1 - Eine schöne liebliche Nacht war auf den Tag gefolgt; über ganz Europa und ...
    2. Abschnitt. 2 - Ein zweites Kästchen stand neben dem ersten, ein altes Ding von Eichenholz, ...
    3. Abschnitt. 3 - Die Melodie: Guter Mond, du gehst so stille, muß in der Tat eine sehr besänftigende ...
    4. Abschnitt. 4 - Beide Frauen erhoben hier die Hände, um des Himmels Segen auf den ...
    7. Kapitel.
    1. Abschnitt. 1 - Die Pforte, die sich nun vor unserm Hans geöffnet hatte, führte, wie jeder, ...
    2. Abschnitt. 2 - Moses Freudenstein und Hans Unwirrsch gingen ihren Weg durch die verschiedenen ...
    3. Abschnitt. 3 - Hans Unwirrsch gehörte in dieser Epoche zu den Glücklichen der Erde. Der Oheim ...
    8. Kapitel.
    1. Abschnitt. 1 - Der Oheim Grünebaum im Festtagshabit war eine Erscheinung, würdig, ...
    2. Abschnitt. 2 - Die Base Schlotterbeck sah diesen Vorgang, welcher in der schwebenden Kugel ...
    3. Abschnitt. 3 - Von der Predigt verstand Hans an diesem Tage nicht viel, und obgleich sie ziemlich ...
    4. Abschnitt. 4 - Das Geschrei, die Segnungen und Beschwörungen Esthers draußen und ein Klopfen ...
    9. Kapitel.
    1. Abschnitt. 1 - Drei Tage nach dem ersten Anfall wiederholte sich der Schlagfluß, aber der ...
    2. Abschnitt. 2 - Nimm Abschied von dem alten gekitteten und vernieteten Kaffeetopf, ...
    3. Abschnitt. 3 - Hurra, auf den Hasen im Galopp eine Stafette im Galopp, jedenfalls von der ...
    10. Kapitel.
    1. Abschnitt. 1 - In dem abgelegensten und wohlfeilsten Winkel der hochbelobten Universitätsstadt ...
    2. Abschnitt. 2 - Moses Freudenstein stand natürlich dem deutschen Vaterland ebenso ...
    3. Abschnitt. 3 - In die dornigen Wüsteneien der Kasuistik führte ihn der Doktor und Professor ...
Der Hungerpastor. Berlin, Janke, 1864. Ort: Mittel- und Norddeutschland. Berlin, Paris. Zeit: 19. Jhdt.

Da ist der Hunger zunächst bei dem armen, ungebildeten Volke zuhause, wo sich die hohen Behörden noch immer nicht klar sind, welches Minimum an Bildung und Wissen ohne Schaden und Unbequemlichkeit für die oberen Gesellschaftsschichten gestattet werden kann. Da fällt das Licht der Schusterkugel in die Kammer des Meisters Anton Unwirrsch und weckt Hunger nach tieferem Verstehen der Welt. Der Sohn Johannes soll die Bahn frei finden, und keine Pforte der Weisheit, keine der Bildung soll ihm der Mangel, die Not des Lebens verschließen. Ein Jahr nach des Kindes Geburt stirbt der Vater. In ein kleines, eisenbeschlagenes Kästchen mit seinen Ersparnissen legt die Witwe in den Folgejahren noch manchen schwer abgedarbten Taler. Dies Kästchen erlaubt ihr, den Sohn, nachdem er beim schwindsüchtigen, glückseligkeithungrigen Lehrer Silberlöffel in die Armenschule gegangen ist, aufs Gymnasium zu schicken. Aus äußerlich noch düsterem Verhältnissen stammt der Nachbar Moses Freudenstein. Sein Vater, ein Trödler, dem die Frau im Wochenbett starb, lebt nur für die Zukunft seines Kindes. Er will es mit allen Waffen rüsten, damit es sich der auf seinem Volke ruhenden Demütigungen erwehren kann: mit Geld und Bildung. Dadurch, daß Hans Unwirrsch den jüdischen Knaben gegen die Schmähungen der Straßenjugend verteidigt, erwirbt er die Freundschaft des kleinen Moses. Was die Schule nüchtern lehrt und manches andere gewinnt für den gemütstiefen Knaben in den halbdunklen Gewölben des weitherumgekommenen Händlers bunteste und lebendigste Gestalt. Moses ist anderer Natur als Johannes: Je mehr Wissen er aufhäuft, um so kälter wird sein Herz; mit hämischem Spott erdrosselt er den letzten Rest warmer Phantasie. Am Tage, da er die Reifeprüfung als Bester noch vor Hans Unwirrsch besteht, weiht ihn der Vater Salomo in die Reichtümer ein, die er inzwischen für ihn gesammelt hat. Da regt sich, vom Glänze des Goldes geweckt, in ihm ein dämonischer Hunger. Vom Egoismus überwältigt wartet Moses nun mit kaltem, gierigem Herzen auf den Tod des Vaters. Tatsächlich trifft den alten Juden, als ihm eine Ahnung von der hinter dieser Herzenskälte stehenden Dämonie aufgeht, der Schlag. Von keinem Bande des Gefühls gehalten, siedelt Moses in die Universitätsstadt über, um vor allem Philosophie zu belegen. Hans, der als Theologiestudent dort noch oft mit ihm zusammenkommt, wird der Einseitigkeit des Freundschaftsbundes nicht recht inne. Daß Moses nach Abschluß seiner Dissertation nach Paris reist, bedeutet trotz aller inzwischen zutage getretenen Fremdheit für den Schusterssohn einen rechten Verlust. Er kehrt alle Ferien in den kleinen, engen Kreis der treuen, beschränkten Menschen, der Mutter, der Base Schlotterbeck, des Oheims Grünebaum zurück, und das Licht der Schusterkugel, das wie ein Gleichnis noch immer diesen Kreis so traulich erhellt, leuchtet weit in sein ferneres Leben hinein. Am Sterbebett spricht die Mutter noch einmal zu ihm vom Hunger des Meisters Anton. Aus der Welt würde nicht viel werden, wenn es nicht den Hunger darin gäbe. Der Vater sei nicht immer mit sich und der Welt zufrieden; aber nicht aus Mißgunst gegen die Wohlhabenden, nein, der Männer Herz müsse bluten um das Licht; mit solchem Hunger, und wenn sie dazu nicht ganz derer vergäßen, die sie heb haben, seien sie die rechten Männer. Der Frauen Herz aber müsse bluten nach der Liebe, die empfangen und gegeben werde. Die Witwe Unwirrsch schläft im glücklichen Bewußtsein ein, nicht nur durch ihrer Hände Arbeit für den Sohn dem äußeren Hunger getrotzt, sondern dabei auch am innern ihr volles Genügen gefunden zu haben.
Hans lernt nun viele kennen, die ohne Hunger mit sich zufrieden sind: die Prinzipale, die ihn als Hauslehrer anstellen, in Bocksdorf und in Kohlenau. Aber wehe solchen Menschen, wenn im Wirrsal der Welt die bösen Mächte ihr Spiel zu treiben beginnen und aus dem menschlichen Innern mit dem falschen Hunger der Süchte herausgreifen. In einer solchen Welt der Falschheit und frechen Selbstsucht, der bejammernswerten Schwäche, der störrischen Dummheit und frömmelnden Hoffart, des Leichtsinns, der Überhebung und des Übermutes will Moses Freudenstein, jetzt unter dem Namen Dr. Theophil Stein, den Jugendfreund, der ihm einst gegen den offenen Hohn der Gasse beistand, mit dem Namen „Hungerpastor“ dem schleichenden Spott der Gesellschaft preisgeben. Aber unabhängig von der Gesellschaftsschicht wirkt der echte Hunger eine geheime Bruderschaft, ein Stück davon ist die Veteranengesellschaft der „Neuntöter“ (weil bei allen Lügengeschichten, die man sich dort zum besten gibt, nie von mehr als neun Toten die Rede sein darf), in die Hans Unwirrsch durch den alten emeritierten Leutnant Götz eingeführt wird. Der Leutnant hat den Kandidaten, mit dem ihm einmal der Zufall in einem ländlichen Postgasthof zusammenbrachte, als Lehrer für das Haus seines Bruders, des Geheimen Rates Theodor Götz, gesucht. Hier ist die Welt derer, die an sich selbst Genügen haben, an ihrer störrischen Dummheit wie der Zögling Aime, an ihrer frömmelnden Hoffart, wie die Frau Geheimrat mit adeliger Abkunft. Hier findet der Hungerpastor solche, die in bejammernswerter Schwäche den echten Hunger fast ersticken wie der Geheimrat Götz im stupidesten Bureaukratendünkel, und er findet dessen schöne Tochter Kleopbea, in der der Dämon erwacht, in wüstem Hunger nach seinesgleichen, bis sie ihn in Dr. Theophil Stein findet. Der kam aus Paris, wurde der wegen seines Geistes bewunderte Liebling der Gesellschaf: und erhofft die Erbschaft der reichen Frau Rat Götz. Er stößt die arme Modistin
Henriette Troublet, die ihm leichtsinnig von Paris aus folgte, schwanger ins Elend. Er stöbert, alle Anstandspflicht verletzend, in den Briefschaften des .schwer erkrankten Hungerpastors und findet in einem Brief der Base Schlotterbeck, daß die alte Esther, die Haushälterin seines Vaters, von ihm als einem bösen Menschen geredet hat, mit dem es nicht gut ausgehe. Hans Unwirrsch, dem die von einer Gehirnentzündung verursachte Lähmung jede Äußerung versagt, erkennt jetzt endlich in den Zügen des Jugendfreundes klar den Feind. Ebenso klar erkennt er jetzt, warum ihn der Leutnant Götz gerade in die unerquickliche Atmosphäre dieses Hauses geholt hat. Beim ersten Treffen im Gasthof zu Windheim kam der Leutnant gerade aus Paris. Dort hatte er die verwaiste Tochter seines Bruders Felix, den Abenteuer in die Welt hinausgetrieben hatten, gerade noch vor den Zudringlichkeiten des Moses Freudenstein bewahren können. Da er selbst kein eigenes Heim besaß, mußte er die Nichte zum Onkel Theodor bringen, wo er als „vagabundierender Leutnant" von der tonangebenden Frau des Hauses geächtet ist. Um Franziskas willen erschien ihm Hans als der rechte Beschützer, wenn er dem Kandidaten auch nicht unter die Nase reiben konnte, daß er ihm helfen solle, auf das arme Fränzchen acht zu geben. Das Mädchen leidet auch gar bitteren Hunger nach einem freundlichen Gesicht, nach einem freundlichen Wort. Hans sieht sie besorgt an seinem Krankenbett. Erst die Flucht Kleopheas mit Dr. Stein nach Paris löst die Irrsale und Irrtümer, die beide, Hans und Franziska, auf den innersten, einsamsten Punkt des Daseins so zurückdrängten und gefangen hielten, daß sie keine Hilfe aneinander finden konnten, obwohl sie beide gleichen Hunger nach der Unschuld, der Treue, der Sanftmut und der Liebe empfanden. Nicht die Tat Kleopheas, sondern die kalte Lieblosigkeit, mit der seine Frau um dieser Flucht willen die Tochter verstößt und enterbt, läßt den Rat Götz bald sterben. Der Oberst von Bullau, das Haupt der Neuntöter, und der Leutnant Götz rufen Hans Unwirrsch und seine Braut, das Fränzchen, nach Grunzenow, das irgendwo an der Ostsee liegt. Tillenius, der 82jährige Pastor des Fischerdorfes, fühlt sein Alter, in Demut dankt er Gott, daß der Name „Hungerpastor", den hier seit alters die Amtsbrüder im fetten, fruchtbaren Lande mit der Stelle in diesem ärmlichen Nest verbinden, ein Ehrenname geworden ist; denn nur der heiligste Hunger nach Liebe macht einen Menschen für solch eine Erdenstelle stark genug. Hans Unwirrsch wird sein rechter Nachfolger und das Fränzchen seine getreue Lebensgefährtin. Wie in einen Spiegel sieht Hans in das Leben dieses Greises: Im engsten Ringe — weltweite Dinge, das Leben zwischen Geburt und Tod von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Quelle: Der Romanführer. Wilhelm Olbricht. 1951

Wilhelm Raabe (1831-1910)

Wilhelm Raabe (1831-1910)