Der Graf war mit Maximilian auf mancherlei Umwegen bei der Insel Monte Christo gelandet.

Der Graf war mit Maximilian auf mancherlei Umwegen bei der Insel Monte Christo gelandet. Nun ging er Arm in Arm mit dem jungen Mann durch seinen feenhaften, unterirdischen Palast, den er sich in den Grotten, die einst seine Schätze hüteten, hatte erbauen lassen.

Monte Christo sprach, erklärte dies und das und suchte die Aufmerksamkeit Morrels zu fesseln. Doch alles war vergebens; düster und teilnahmlos schaute Maximilian umher, ohne überhaupt etwas zu sehen.


Da fragte ihn Monte Christo voller Trauer:

»Dies alles ist einmal dein; ich liebe dich wie einen Sohn. Vermagst du es nicht, um meinetwillen deine Trauer zu bezwingen?«

»Mein Glück hängt nicht am Golde; mein Glück ist tot. Wenn ich jedoch am Leben bleibe, so ist dies meine Dankbarkeit für Sie. Wenn Sie aber, mein väterlicher Freund, der Sie so mächtig sind, mich nicht nur um Ihretwillen lieben, dann würden Sie mir endlich die Erlösung bringen.«

»Das heißt: Du wünschest aus meiner Hand den Tod zu empfangen?«

»Ja, so ist's«, sagte Morrel ernst.

Der Graf sah ihm fest in die Augen.

»Gut, mein Sohn: dann will ich dir diese Wohltat erweisen.«

Morrel blickte verwundert auf und sah, wie her Graf ein kleines silbernes Kästchen hervorholte, dessen Schlüssel er bei sich trug.

Diesem Kästchen entnahm er mit einem Teelöffel eine halb ölige, halb feste Masse, die er Morrel hinüberreichte. Maximilian empfing die Gabe und küßte stumm des Gebers Hand. Dann lehnte er sich in den Diwan zurück und harrte des Todes, der aus des Grafen Hand nur wonnesam und mild sein konnte.

Plötzlich begann um ihn her alles zu verschwimmen. Er sah den Grafen, dessen liebevoller Blick auf ihn gerichtet war, größer und immer größer werden. Dann tauchte ein anderes menschenähnliches Gebild vor ihm auf, schön und licht wie ein Engel.

Es mochte eine Stunde vergangen sein, da schlug Morrel die Augen wieder auf, und ihr Blick begegnete von neuem dem Traumgesicht, das sich lächelnd über ihn neigte, und eine süße Stimme sprach:

»Maximilian, mein lieber, lieber Freund!«

Morrel stieß einen lauten Freudenschrei aus und umschlang, ganz außer sich vor Wonne und Entzücken, die heißgeliebte Gestalt. »Valentine? Meine Valentine? Ist's denn möglich?«

Nachdem der unaussprechliche Jubel dieses seltsamen Wiedersehens sich unter Lachen und Weinen gelegt hatte, erzählte Valentine, daß der Graf auch sie durch scheinbaren Tod vor rettungsloser Vernichtung bewahrt habe.

Beide gingen nun, um dem gütigen Beschützer ihr Glück und ihren Dank zu sagen. Da sahen sie vor der Grotte einen Mann stehen.

»Das ist der treue Jacopo!« rief Valentine und ging ihm entgegen.

»Ich habe Ihnen einen Brief vom Grafen zu übergeben.«

»Vom Grafen?« rief verwundert das junge Paar.

Morrel entfaltete den Brief und las:

Mein lieber Maximilian!

Es liegt für Sie eine Feluke vor Anker. Jacopo wird Sie nach Livorno führen, wo Herr Noirtier seine Enkelin erwartet, um sie zu segnen, ehe sie Ihnen zum Traualtar folgt. Alles, was in dieser Grotte ist, mein Haus an den Champs-Elysées und mein kleines Schloß in Treport sind das Hochzeitsgeschenk Edmond Dantes' für den Sohn seines Prinzipals Morrel. Fräulein von Villefort wolle so gütig sein und die Hälfte davon annehmen, denn ich bitte sie, daß sie den Armen von Paris das ganze Vermögen überlassen möge, das ihr von seiten ihres wahnsinnig gewordenen Vaters zukommt, und von seiten ihres Bruders, der im verflossenen Monat September mit ihrer Stiefmutter ins andere Leben überging.

Erfahren Sie in Beziehung auf sich, Morrel, das Geheimnis meines Verhaltens. Es gibt weder Glück noch Unglück in dieser Welt, es gibt nur eine Vergleichung des einen Zustandes mit dem andern, das ist alles. Nur derjenige, der das größte Mißgeschick erfahren, ist fähig, das höchste Glück zu empfinden. Man muß den Tod gewollt haben, um zu wissen, wie schön das Leben ist.

Also lebt und seid glücklich, Ihr meine geliebten Kinder, wie ich es mit meiner teuren Haydee zu werden hoffe. Vor allem aber behaltet treu in Eueren Herzen: Alle menschliche Weisheit liegt in den zwei Worten »Harren und Hoffen!«

Euer Freund
Edmond Dantes,
Graf von Monte Christo.

Als Maximilian diesen Brief las, war Valentine, da sie von der Geisteszerrüttung ihres Vaters und von dem Tode ihres Bruders nichts wußte, leichenblaß geworden. Glühende Tränen rollten über ihre Wangen; ihr Glück kam ihr teuer zu stehen.

Morrel blickte voller Unruhe ringsumher und sagte dann:

»Der Graf übertreibt seine Großmut. Valentine wäre mit einem bescheidenen Vermögen zufrieden gewesen. Wo ist der Graf, mein Freund? Führt mich zu ihm.«

Jacopo streckte die Hand nach dem fernen Horizont aus.

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Valentine. »Wo ist der Graf? Wo ist Haydee?«

»Blicken Sie dahin«, versetzte Jacopo.

Die Augen des jungen Paares folgten der Richtung, die der Seemann andeutete; sie gewahrten am Horizont ein weißes Segel, so groß wie der Flügel eines Seeadlers.

»Abgereist?« rief Morrel. »Abgereist? Mein Freund, mein Vater!«

Valentine seufzte.

»Wer weiß, ob wir sie jemals wiedersehen!« sprach Morrel, und trocknete sich eine Träne.

»Freund,« tröstete Valentine, »hat der Graf nicht soeben gesagt: Harren und Hoffen?«

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Graf von Monte Christo