Theodor Mommsen

In Charlottenburg draußen, hinter hellen Gärten versteckt. Da träumt die Marchstraße still vor sich; kaum daß es einmal leise aus den Glocken der Pferdebahn von drüben her verklingt. Da ist sein nachdenkliches enges Häuschen, das sich scheu von den anderen weg ein wenig seitwärts drückt.

Ich werde in einen kleinen Salon geführt. Schwere, ernste, dunkle Möbel; milde, tiefe Farben; nirgends Tand. Eine feierliche Freude kommt entgegen - wie wenn man in die Galerie des Grafen Schack tritt. Eine Schöne volle Kopie nach Tizian und rings in Stichen die edelsten Wunder der Italiener, vom hageren Adel der Prärafaeliten aufwärts, und die klugen, wunderlichen, herb verführerischen Frauen des Leonardo und die reife Gnade der Tizianschen Bella. So wandelt Schönheit hier vom ersten Wunsch zur reichlichsten Erfüllung.


Das Alter beugt ihn, und wie er sich mühsam schleppt, ein bisschen unbeholfen und steif, von einer gezierten Höflichkeit, die aus der Mode ist, mit einer verlegenen und ratlosen Güte in den zaudernden Gesten, das gibt ein unsäglich rührendes Bild. Der schlaffe Leib ist in einen tiefen, schwarzen Rock, der sich mit weiten Falten bauscht, und das morsche Haupt in den hellen Schein versunken, den der lichte Kranz der weißen Locken gibt. Ein Schädel, der an Voltaire gemahnt, mit der langen, scharfen, spitzen Nase, den erloschenen und verblichenen Wangen wie in Bronze, und den dürren, fahlen, ohne Rast veränderlichen Lippen, die auf hämischen Spott zu lauern scheinen. So könnte das verdorrte, schiefe, runzelige, gravitätische und zerzauste Männchen wohl an so einen Professor der Fliegenden Blätter von der Laune Oberländers erinnern, und man möchte lächeln. Aber wenn er dann den Kopf hebt und dem Gaste seinen Blick gibt, da ist in den blauen Augen hinter der schmalen goldenen Brille ein solcher Zauber von Macht und Güte, dass man sich neigen muss.

Er setzt sich und verharrt, wie er spricht, unbeweglich und starr. Nur die langen, schmalen und verschrumpften Finger rasten nicht, indem er die Hand bald an die Stirne presst, bald über die langen Strähne streift, bald unter das morsche Kinn schiebt und immer in zitterigen Griffen über seinen stillen Körper irren lässt, der sich nicht regt. Er spricht ganz leise, zischelt ein wenig und hat eine seltsame Art, gern die Lippen zu Schnalzen und mit der Zunge über sie zu wischen, wenn wieder ein paar Worte gesagt sind.

Ich bringe meinen Wunsch vor, und warum wir gerade auf sein Wort sehr vertrauen, dass es wirken und helfen und reinigen wird. Er lächelt traurig. „Sie täuschen sich, wenn Sie glauben, dass ich da was richten kann. Sie täuschen sich, wenn Sie glauben, dass man da überhaupt mit Vernunft etwas machen kann. Ich habe das früher auch gemeint und immer und immer wieder gegen die ungeheure Schmach protestiert, welche Antisemitismus heißt. Aber es nützt nichts. Es ist alles umsonst. Was ich Ihnen sagen könnte, was man überhaupt in dieser Sache sagen kann, das sind doch immer nur Gründe, logische und sittliche Argumente. Darauf hört doch kein Antisemit. Die hören nur auf den eigenen Hass und den eigenen Neid, auf die schändlichsten Instinkte. Alles andere ist ihnen gleich. Gegen Vernunft, Recht und Sitte sind sie taub. Man kann nicht auf sie wirken. Was soll man auch einem sagen, der dem ,,Rektor aller Deutschen“ folgt? Der ist nicht mehr zu reiten. Gegen den Pöbel gibt es keinen Schutz - ob es nun der Pöbel auf der Straße oder der Pöbel im Salon ist, das macht keinen Unterschied: Canaille bleibt Canaille, und der Antisemitismus ist die Gesinnung der Canaille. Er ist wie eine schauerliche Epidemie, wie die Cholera - man kann ihn weder erklären noch heilen. Man muss geduldig warten, bis sich das Gift von selber austobt und seine Kraft verliert und das kann doch jetzt nicht mehr so fern sein. Endlich muss sich die Pest ja doch einmal erschöpfen, und über Ahlwardt hinaus, noch weiter kann sie doch nicht mehr steigen. Vielleicht kommt jetzt langsam die Wendung zur allmählichen Besserung, Befreiung und Gesundung. Vielleicht verschwindet der Wahn, der so viele Gemüter betört und unsere ganze Kultur um hundert Jahre zurückgeworfen hat. Aber alle Gründe und die besten Argumente helfen da nichts. Wer Gründen und Argumenten zugänglich ist, der kann ja überhaupt gar kein Antisemit sein. Wer aber nur seinem wilden Hasse gegen Bildung, Freiheit und Menschlichkeit folgt, den werden Beweise nicht bekehren. Der Antisemitismus ist nicht zu widerlegen, wie keine Krankheit zu widerlegen ist. Man muss geduldig warten, bis die im Grunde doch gesunde Natur des Volkes sich von selber aufrafft und den faulen Stoß aus sich wirft. Freilich kann man die Gesundung vielleicht beschleunigen und fördern, wenn man ihr die Unterstützung moralischer Kräfte gewährt. Und da habe ich lange schon einen Gedanken, der mir wirksamer als Ihre Enquête erscheint. Was soll man Ihnen neues gegen den Antisemitismus sagen? und wenn man etwas fände, was würde es nützen? Alle Mittel der Vernunft wirken da nichts, aber das Gewicht großer Namen, die Autorität würde vielleicht wirken. Den Einzelnen hört man gar nicht an, aber eine internationale Erklärung könnte sich doch Achtung erzwingen. Wenn man einen kurzen Protest gegen den Antisemitismus verfassen würde, der in ein paar Sätzen die bekannten Gründe wiederholte und von allen irgendwiebedeutenden Männern Europas unterschrieben wäre, ob sie nun zur Wissenschaft oder zur Kunst oder zur Politik gehören, von den geistigen Edelleuten aller Länder und Völker - das, denke ich, könnte seine Wirkung nicht verfehlen. Da wäre ich mit voller Begeisterung dabei. Gerade Sie, als Österreicher, könnten es mit Erfolg beginnen: Sie haben ja das Glück, eine unverdorbene, an Gesinnung und Sitten vornehme Aristokratie zu besitzen, welche ihren Namen verdient und ihre Traditionen ehrt und allen Versuchungen des Antisemitismus tapfer widerstanden, ja nicht gezögert hat, sich in das erste Treffen des großen Kampfes für die Freiheit zu stellen. Sie könnten so für diesen Protest manchen stolzen Namen gewinnen, von dem niemals seit Jahrhunderten der Ruhm gewichen ist. Das brächte am Ende vielleicht doch einen oder den anderen zur Besinnung, und wenigstens wäre unsere Ehre vor den Enkeln gerettet, wenn wir ihnen ein Dokument lassen konnten, das alle Guten aller Völker im Bunde gegen die schimpfliche Krankheit der Zeit zeigt.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Antisemitismus