August Bebel

In der Großen Görschenstraße, ganz draußen, wo der Rest der Stadt schon verendet; die Hauser rücken auseinander, dürftiges Grün winkt, und das leere Land sieht herein.

Eine schmale, stille, helle Stube. Bücher und Schriften, an der lichten Wand schlichte Stiche und Schnitte von Demokraten und Sozialisten; das löwische Haupt des Marx schlägt die anderen; und wieder Schriften und Bücher. Eine freudige, beschauliche und sanfte Stimmung von unbekümmert treuer Arbeit.


Man vergleicht seinen Kopf gern dem Christus.

Aber es ist ein sächsischer Christus, weich, schüchtern, fast ein bisschen zimperlich. Die Frauen bei Ola Hansson haben solche müde, traurige Züge, welche durch tägliche kleine Leiden mehr als durch ein großes Schicksal erschöpft und verblasst sind.

Er empfängt mich mit seiner stillen, guten Herzlichkeit. Es war in Paris, dass wir uns das letzte Mal sahen, 1889, beim sozialistischen Kongresse. Aber er ist nicht sehr erbaut, wie ich ihm sage, warum ich komme.

„Man macht mit den Interviews nicht immer die besten Erfahrungen. Leicht wird etwas falsch verstanden, und man kann doch nicht immer gleich berichtigen. Da bringen denn die Zeitungen mancherlei, das gar nicht stimmt, und es gibt Verdruss. Ich weiß nicht, ob Sie gehört haben, wie man uns auf dem letzten Kongresse ernstliche Vorstellungen deswegen gemacht hat - es handelte sich um französische Journalisten; es wurde nicht gerade formell beschlossen, aber man meinte eben, wir sollten derlei künftig überhaupt lassen.“

Aber allmählich kommt doch langsam in Plaudern. Er hat eine schlichte, bedächtige Art, die Worte aus sich zu holen, während er sinnend das Haupt ein wenig neigt. Es ist mehr wie ein Monolog mit sich selbst, den ich nicht stören möchte.

„Bei Ihnen hat man einmal gesagt - ich glaube, es war Kronawetter -: ,,Der Antisemitismus ist der Sozialismus des dummen Kerls.“ Das ist ein hübscher Einfall, aber er trifft doch die Sache nicht. Die eigentlichen Träger des Antisemitismus, das kleine Gewerbe und der kleine Grundbesitz, haben von ihrem Standpunkte aus nicht so unrecht. Ihnen tritt eben das Kapital hauptsächlich in der Gestalt des Juden entgegen. In Hessen und anderen Teilen Südwestdeutschlands zum Beispiel, wo ich die Verhältnisse kenne - da sind die Hypotheken in den Händen der Juden und die Käufer agrarischer Produkte auf allen Märkten sind Juden. Dadurch erscheinen alle schlimmen Wirkungen des Kapitalismus den Leuten immer in der Gestalt des Juden, und da ist es ganz natürlich, dass diese Schichten, die nicht gewohnt sind, viel über das kapitalistische System zu grübeln, sondern sich an die Formen und Erfahrungen halten, in denen es ihnen gegenüber tritt, dem Antisemitismus verfallen. Das Kleingewerbe wird wiederum sehr stark von der Konkurrenz der jüdischen Handelsgeschäfte getroffen. so sind die Kleider-, die Schuhläden, die Läden mit Manufakturwaren etc. fast ausschließlich in Händen der Juden und die Konkurrenz derselben ist für diese Schichten erdrückend. Bei den Offizieren und Beamten liegen andere Gründe vor. Ein großer Teil derselben macht Schulden und der Kreditgeber ist wiederum sehr oft ein Jude. Daher ihr Hass gegen dieselben. Die Studenten mögen wiederum die Juden nicht, einesteils weil sie nicht selten ebenfalls im Schuldverhältnis zu ihnen stehen, andererseits weil die Juden als Studierende oft fleißiger und als Rasse wohl auch intelligenter sind. Das hängt also alles mit den ökonomischen Zuständen mehr oder weniger zusammen. Im Osten, wo die Juden arm und oft Arbeiter, auch Bauern sind, ist es anders. Was an Juden zu uns kommt, ist meist schon der ausgesuchtere Teil, es sind die intelligenteren, die in der Konkurrenz die größeren Chancen haben. Und dann das nationale Moment - bei den Romanen fehlt das; die Spanier oder Italiener sind weit mehr mit den Juden vermischt und können oft den Juden von ihrer eigenen Nationalität nicht unterscheiden. Die Deutschen erkennen den Juden leicht und betrachten ihn daher als Fremden, namentlich spielt bei geringer Geisteskultur die Frage der Rasse immer eine große Rolle. So kann man sich den Antisemitismus aus der Tatsächlichkeit der Verhältnisse vollkommen erklären, wozu noch kommt, das er von allerhand Leuten künstlich gezüchtet und geschürt wird.“

,,Ja, den Antisemitismus würde das schon erklären, aber es erklärt doch den Zauber nicht, den Leute vom Schlage des Ahlwardt auf die Menge üben, mit Phrasen, die als Verleumdungen bewiesen sind . . .“

„Ahlwardt hat nur den Einfluss, weil er der Schichte von Leuten, die ihm anhängen, im Fühlen und Denken gleich ist. Seinem Anhang genügt es, wenn nur etwas Wahres an den Anklagen ist. Und man kann nicht einmal sagen, dass sie unrecht haben: denn etwas Wahres ist bisher immer an seinen Geschichten gewesen. Etwas Wahres war auch an den sogenannten ,,Judenflinten“; es ist gerichtlich erwiesen, dass Unregelmäßigkeiten vorkamen - wie überall; wer selber einmal Arbeiter oder Unternehmer war, wird das wissen. Ich habe zum Beispiel früher Türklinken gefertigt, und da weiß ich, dass es vorkommt, dass ein Arbeiter mal die Bohrung verfehlt und es dann eben vertuscht. Also mit den Unregelmäßigkeiten hat Ahlwardt nicht gelogen, aber er hat sie weit übertrieben; auch treffen sie gerade Löwe nicht, der sich um das Technische nicht zu kümmern hatte. Das passiert Ahlwardt überhaupt, dass er mit seinen Enthüllungen ganz andere Leute trifft, als er treffen will. Jetzt ja auch wieder. Er hat noch nichts bewiesen, aber es wäre schon möglich, dass an diesen Geschichten etwas Wahres ist. Schließlich dürfte es aber kein Jude sein, der von ihm möglicherweise getroffen wird, sondern Miquel, der Liebling der Konservativen, den sie am liebsten schon als Reichskanzler sähen. So geht es ihm immer. Er ist ein konfuser Mensch, der sich der Tragweite seiner Handlungen nicht bewusst ist. Man kann, wie Lieber gestern richtig sagte, nur noch Mitleid mit ihm haben. Er redet ohne Sinn, verwirrtes Zeug. Was die Zeitungen über seine Leben bringen, klingt viel zu günstig. Wenn er redet, verschwinden die Sätze, die allenfalls etwas sagen, in einem trüben Wust von Phrasen. Darum wird auch das deutsche Panama, wie man es genannt hat, sehr glimpflich enden. Die Dokumente, die ihm zugänglich sind, sind nicht in der rechten Hand, die aus ihnen was machen könnte. Die Geschichten sind obendrein alt; man kennt sie von Otto Glagau, Rudolf Meyer, von der Reichsglocke her. Aber es scheint, dass er durch den Besitz der Akten manches beweisen kann, was jene nur behaupteten. Er spricht zum Beispiel von dem Briefe irgend eines Präsidenten aus Rumänien an Miquel, den letzterer zerrissen und in den Papierkorb geworfen hat, wo die Stücke dann von einem Diener gesammelt und zusammengeklebt wurden. Darin soll nun dieser Präsident den Empfang einer Summe bestätigen, die Ahlwardt als Bestechung ansieht. Weiter handelt es sich um die Hannover-Altenbecker Bahn, bei der die Kurse künstlich vor der Verstaatlichung getrieben wurden. Für alles das will er allerhand Dokumente haben. Ob er sie zu verwenden weiß, ist eine andere Frage. Er verzettelt alles. Was er bisher vorbrachte, vermochte er durch nichts zu beweisen. Aber unter seinen Leuten wirken solche Behauptungen deswegen doch. Man glaubt, dass doch etwas daran ist. Uns kann es nur recht sein, wenn sich die herrschenden Klassen unter einander bekriegen und alles Vertrauen wankt und der Ekel vor dieser Ordnung der Gesellschaft wächst. Wir sehen ruhig zu und warten.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Antisemitismus