Gustav Schmoller

Ich muss, wie ich da in der großen, weiten Bibliothek seines Häuschens wieder vor ihm sitze, der einst mein Lehrer war, an das Wort des Marx denken: ,,Der Kleinbürger ist zusammengesetzt aus einerseits und andererseits.“ Das brauchten wir damals im Scherze gern für ihn und freuten uns, wie bedächtig und behutsam er jede Sache zu wenden und zu denken wusste, bis jedesmal am Ende sich Für und Gegen glich und man die Entscheidung noch etwas verschieben musste, weil die Frage augenscheinlich noch nicht reif war. So haben wir bei dem Meister der historischen Nationalökonomie sehr viel gelernt, bis wir zuletzt gar nichts mehr wussten.

Diese „historische Methode“ gab es ja schon vor ihm. Ich glaube, Hildebrand ist in Deutschland ihr Vater, und als man die steife Algebra der britischen Ökonomen verließ, musste sie gedeihen. Aber er wurde der erste Virtuose der neuen Lehre zum politischen Gebrauche, indem er, was sie jeder Partei empfehlen musste, an den heikelsten Problemen des Tages bewies, dass sie ein rechter Advokat für alles ist, der gegen jedes seiner Argumente gleich ein ebenbürtiges Argument hat. Das ist doch ungemein nützlich, während es mit den unabänderlichen Gesehen der exakten Dogmatiker leicht Verdruss gibt. Historisch kann man sich, wie es gerade besser passt, entscheiden und ist für die Zukunft nicht gebunden, weil doch immer wieder neue Urkunden, Gewerbeordnungen, Stadtbriefe ein neues Licht bringen. das die Dinge wieder anders zeigt.


Wer im Staate vorwärts, aufwärts wollte, ging zu ihm, und er wurde der gefeierte Lehrer. Wer im Staate oben war, liebte seine immer verwendbare Meinung und er wurde Staatsrat. Die „historische Methode“ hat sich bewährt.

Und nun sitzt er nach Jahren wieder vor mir, ganz wie damals, in den weichen, schlaffen, bauschigen Kleidern, die ihm was amerikanisch Lässiges geben, mit der langsamen, milden, wie in Pantoffeln gleitenden Rede, in der behaglich und breit die schwäbische Zunge zischt, mit der strengen, von Fleiß und Mühe zerknitterten Miene, die immer durch das spöttische Spiel der winzigen, flinken und verrucht amüsierten Äuglein gegen allen Respekt gestört wird - es ist ein loser Schalk in diesen kleinen, warmen braunen Blicken, der zu den feierlichen Sätzen, die der Staatsrat ernst erwägt, ungezogen die wunderlichsten Glossen schlägt und ohne Ehrfurcht die Gelehrsamkeit am weißen Barte zupft.

Er ist von meiner Bitte nicht sehr erbaut und schweigt nachdenklich eine Weile. Dann hebt er langsam den Kopf ein wenig, den er hörend neigte, sieht schmunzelnd auf mich, streicht, um den Spott an den feinen Lippen zu decken, mit der Hand über den langen weißen Bart, den er biegt und nachdenklich in den Mund steckt, und es huscht lustig aus den klugen Sternlein, als ob er ja schließlich niemandem sein Gewerbe stören wollte, und er beginnt. Er beginnt jeden Satz mit ,,Vielleicht“; für „Nicht“ wird ,,Kaum“ gesagt und ,,Etwa“ darf nicht fehlen. Wenn er es manchmal vergisst, so hört man es doch immer aus dem Tone.

,,Ich kann Ihnen eigentlich wohl kaum etwas neues sagen - Sie finden meine Stellung zur Judenfrage in meinem Aufsatz über Lasker (,,Zur Sozial- und Gewerbepolitik der Gegenwart“) erörtert; über die eigentliche Grundfrage des Zusammenwohnens verschiedener Rassen werde ich demnächst wohl mal mich öffentlich aussprechen. Diese Furage, ob verschiedene Rassen mit Vorteil oder nur mit gewissen Nachteilen und Gefahren einen Staat bilden, durcheinander wohnen, verkehren, sich vermischen können, ist von der Wissenschaft noch lange nicht genug erforscht und erörtert, um ein abschließendes Urteil zu gestatten. Dass das Durcheinanderwohnen, die Mischung und Kreuzung von Rassen, welche physisch, geistig und moralisch sehr weit von einander abstehen, schwere Gefahren für Staat und Kultur bringen muss, scheint wohl unzweifelhaft. Führt doch Hehn den Niedergang Roms in den Jahrhunderten der Kaiserzeit darauf zurück; haben doch die älteren indischen Kulturstaaten deshalb die schroffsten Verbote des Connubiums, die strengste Scheidung der Rassen angeordnet. Was aber die Juden betrifft, so wäre zweierlei zu untersuchen:

1. ob ihre Zahl eine zu große sei, um sie zu verdauen und zu assimilieren, und
2. ob Germanen und Semiten von einander wirklich in einem solchen Maße verschieden sind, dass die Mischung ungünstig wirkte. Bei einem mäßigen Zusatz und bei einem geringeren Grade von Verschiedenheit kann ja die Mischung auch große Vorteile bieten, und die Juden haben gewiss manche Eigenschaft, deren Aufnahme in den Volkscharakter, in die Sitten und Gewohnheiten für die Indogermanen wünschenswert erscheint. Aber theoretisch muss daran festgehalten werden, dass unter Umständen eine Rasse und ihre Kultur durch zu starke Beimischung fremder Rassenelemente ernstlich bedroht werden kann, und dass dann an den Staat die Pflicht tritt, auf Maßregeln zu sinnen, die das abwehren sollen. Kulis, Chinesen, Neger und derlei allzu entfernte, von unserem körperlichen und moralischen Habitus zu weit getrennte Rassen dürfen ohne Zweifel nicht und zumal nicht in zu großer Menge zugelassen werden, und so kann man wohl unter Umständen auch für eine Beschränkung der Einwanderung aus dem Osten plädieren - nicht bloß gegen die östlichen, aus Polen und Russland kommenden Juden, von denen es denn übrigens noch nicht einmal feststeht, ob sie denn überhaupt Semiten und nicht vielmehr Tartaren sind, sondern ebenso sehr auch gegen die Invasion slavischer Landarbeiter mit einem so viel niedrigeren standart of live.

Was die Judenemanzipation betrifft, so stehe ich auf dem Standpunkt, dass Menschen mit einer von der unsrigen zu weit abstehenden Moral als gleichberechtigte Staatsbürger nie zugelassen werden sollten. Wenn ich die Gleichstellung der Juden billige, so tue ich es nicht, weil ich ein Anrecht alles dessen, was Menschenantlitz trägt, hierauf zugebe, sondern weil ich glaube, dass die sittlichen Grundlehren der Rabbiner und der christlichen Pastoren heute unter dem Einfluss der Philosophie des 16. Jahrhunderts wohl so ziemlich ähnliche oder gleiche seien. Aufzuheben ist diese Gleichberechtigung natürlich in unseren mittel- und weit-europäischen Kulturstaaten heute nicht. Man muss nur suchen, die Assimilierung der verschiedenen Rassenelemente zu fördern durch eine einheitliche Bildung und durch Verstärkung der einheitlichen Elemente in Sitte und Moral. Es handelt sich in dem Assimilierungsprozess darum, den äußeren Anstand und den Frieden aufrecht zu halten, nicht zu hetzen, die guten Elemente des Judentums gut, die schlechten schlecht zu behandeln, das heißt, sie als Einzelne je nach ihrer Person, nicht als Stand, als Klasse zu behandeln. Ich habe mich stets bemüht, den anständigen und talentvollen Juden als gleichberechtigt und voll zu behandeln, ihn zu fördern, wo es gerecht war, zu begünstigen, aber auch die schlechteren Elemente, hauptsächlich die, welche nur durch eine gewisse Findigkeit, Pfiffigkeit, Beweglichkeit und Frechheit sich auszeichnen, abweisend zu behandeln. Erschwert wird der Assintilierungsprozess durch die Empfindlichkeit der Juden, die sich alle solidarisch und, wie man an einen von ihnen, an irgend eine von einem Juden begangene Schlechtigkeit rührt, sich gleich alle getroffen fühlen. Das verzögert eine unbefangene Erörterung der Frage, in die sich dann auch noch gewisse soziale und wirtschaftliche Momente mischen. Unsere haute finance und Börsenwelt ist fast durchaus jüdisch, ebenso die kleinen ländlichen Kreditgeber, die Viehhändler und Viehversteller etc., und dass in diesen Kreisen manche Ungehörigkeit, manche Räuberei vorkommt, müssen Sie als einstiger Sozialdemokrat ja wissen und zugeben.“

,,Ich glaube nur nicht, dass der arische Kapitalist irgendwie sympathischer ist als der semitische.“

,,Vielleicht doch - oder er wird wenigstens von dem arischen Arbeiter sympathischer empfunden, weil er doch immer ein gewisses verwandtschaftliches Gefühl für sie behält, das den Juden fehlt, und darum auch wohl mit einer größeren Schonung, mit einer geringeren Härte zu verfahren eher geneigt ist. Das muss auch berücksichtigt werden. Aber das Entscheidende bleibt die Rassenfrage, die wohl eine gründlichere Untersuchung und Erforschung verdien, als sie bisher erfahren hat.“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Antisemitismus