Theodor Barth

Ich quere durch den Tiergarten, vom Brandenburger Tor weg, an der lauten und patzigen Säule mit der unmäßigen Viktoria vorbei, die man gerne das bravste Mädchen von Berlin nennt, weil sie gar keine Verhältnisse hat. Links drüben ist die lange, lange Straße, auf die sie hier sehr stolz sind, weil man an jedem Hause, wie es geziert und grell beladen ist, gleich von außen merken kann, wie viel Millionen drinnen wohnen. Seine Nummer ist ganz am Ende, die letzte der langen, langen Straße.

Die freisinnige Partei schätzt Theodor Barth sehr, weil er vom Schlage der arbeitenden Parlamentarier ist, der immer seltener wird. Auf der Tribüne sieht man ihn nicht oft, aber die Kommissionen kennen seinen Fleiß. Er hat das undankbare Teil gewählt, von dem die beglückwünschten Redner lieber nichts wissen wollen: die harte Mühe der politischen Geschäfte. Man rühmt seine unerschöpfliche, immer bereite Kraft. Die Bremer schwärmen noch heute für den einstigen Sekretär ihrer Handelskammer, und die ,,Nation“, die er nun das zehnte Jahr leitet, hat er durch bedachte Sorge und findigen Eifer zum Liebling des bürgerlichen Geschmackes gemacht.


Er ist klein, unscheinbar, und der schmale blonde Bart rahmt müde, erschöpfte, fast ein wenig schmerzliche Züge. Sie scheinen weich, schwank und veränderlich, und erst wenn er sich in der Rede ereifert, nehmen sie eine fassliche Entschiedenheit an. Er hat hinter den Gläsern, aus geröteten Lidern hervor, den tastenden Blick der Myopen - Jules Lemaître fällt mir ein. Er spricht suchend, stockend, oft einen Gedanken zwischen den anderen, Sätze durcheinander schiebend, und eine zaudernde Geste, die sich unentschlossen wieder verliert, ein leises Lächeln, eine halbe Frage endet gern die Rede. Es ist kein Plaudern, es ist auch kein Sprechen, es ist mehr ein lautes Denken vor sich hin.

,,Der Antisemitismus ist eine Art Sozialismus der Junker . . . von den Junkern und für die Junker. Das Nationale und religiöse dabei ist nur Hülle und Schein. Die kleinen Junker sind durch die moderne Entwicklung in das Verderben gedrängt und dem Untergange bestimmt. Sie vertragen sich mit den Tendenzen der ökonomischen Entwicklung nicht, Ihr Verfall ist unaufhaltsam. Natürlich ergeben sie sich nicht ohne Widerstand, sondern wehren sich nach Kräften, was freilich nichts helfen wird, weil der Drang der ökonomischen Prozesse unwiderstehlich, unüberwindlich ist. Daher ihr Hass gegen diese Entwicklung, die sie tötet - und der handgreiflichste Ausdruck dieser Entwicklung ist der Jude. Daher ihre heftige Begierde, sie um jeden Preis zu hemmen und gewaltsam zu verzögern, indem sie die Macht des Staates gegen sie misstrauisch machen und auf die Seite der Vergangenheit bringen möchten - und das beste Mittel, die Macht des Staates von der Entwicklung abzuschrecken, ist wieder der Jude, die Hetze gegen den Juden. Es ist ganz natürlich, dass sie die Juden hassen, weil die Juden für sie gleichsam ein Symbol der verhassten Zeit sind, die ihr Ende bedeutet. Es ist ganz praktisch, dass sie gegen die Juden hetzen, weil nur Aufruhr und Tumult im Pöbel die Macht des Staates vielleicht ängstigen und in der natürlichen Entwicklung beirren kann. Dann mag es ihnen doch am Ende gelingen, sich auf fremde Kosten wieder ein bisschen weiter zu fristen, indem sich die Macht des Staates dazu hergibt, sie aus den anderen zu bereichern - ihre Zölle, ihre Liebesgaben. die Steuerpläne des Herrn Miquel, der ganze Bimetallismus, den sie sich einfach als eine Reduktion aller Schulden zum Schaden der Gläubiger, als eine förmliche Seisachtheia denken, alle ihre ,,Reformen“ wollen sonst nichts, als sie aus den Taschen der anderen verköstigen. Dazu soll der Antisemitismus helfen, indem er den Staat gegen die moderne Entwicklung bedenklich macht, ins Bockshorn jagt und seine erschreckte Macht wieder in ihre Dienste treibt. Die richtigen Catilinarier, die Aufruhr, Lärm und Verbitterung brauchen, um im Trüben zu fischen. Ob darüber der Friede des Landes verdirbt, ja selbst das Königtum, das sie doch immer im Munde führen, in Gefahr kommt, das ist ihnen pipe. Sie wollen immer nur den eigenen Vorteil. Sie brauchen Verwirrung, Unzufriedenheit und den Schein wachsender Empörung in den Massen. Darum hetzen sie die schlechtesten Elemente, verkommene Arbeiter, entlassene Beamte, Deklassierte aller Art, dunkle Existenzen -“

,,Was Marx das Lumpenproletariat“ genannt hat -“

,,Ja - das sind ihre Instrumente. Und für die Führung sorgen Demagogen von Beruf wie dieser Ahlwardt. Daran ist auch Bismarck schuld, mit der zügellosen Frivolität und der zynischen Unbedenklichkeit seiner Politik, dass derlei Leute jetzt überhaupt möglich sind. Ein Mann, der in jedem Prozesse der Verleumdung überführt wird - und durch jeden Prozess wächst nur die Macht und der Eifer seiner Partei! Es ist heute bewiesen worden, dass von allen seinen Behauptungen und klagen nichts, aber auch gar nichts, nicht ein Jota, nicht der Schein und Schatten eines Wortes wahr ist - der Mann macht ein ungemein vergnügtes Gesicht dazu, lacht uns alle aus und wird auf der Straße mit einer Begeisterung, mit einem Jubel empfangen, wie nur Bismarck einst in den besten Tagen seiner üppigsten Popularität.“

„Wie ist der Mann eigentlich - ich meine psychologisch?“

„Ich weiß selber noch nicht recht - vielleicht ein Fanatiker, gewiss ein Spekulant, beides durcheinander wunderlich gemischt, wahrscheinlich ein kranker. Manchmal scheint er gerade wie von einer fixen Idee besessen, dabei von einem lächerlichen Wahn seiner Mission . . .“
,,Ein Redner?“

,,Keine Spur. Er faselt ganz leer und wirr, tausend läppische Dinge durcheinander - man weiß gar nicht, was er will. Es ist einfach ein Rätsel, was die Massen an ihm finden - außer die gemeine Lust an der Verleumdung, an der Niedertracht und am Skandal; der Pöbel will sich amüsieren, und nichts amüsiert ihn besser, als anständige Menschen verleumdet und beschimpft zu hören. Nun war man auch noch so unklug, ihn gerichtlich zu verfolgen - da erscheint er dem Pöbel erst gar als echter Martyrer und Held. Alle Vernunft ist dagegen wehrlos und ohne Hilfe.“

„Aber wie denken Sie denn, daß das weiterhin wird? Es kann doch nicht so bleiben!“

„Ja . . .das ist schwer zu sagen. Unter normalen Verhältnissen wäre es keine Gefahr. Wir sind schon mit schlimmeren Dingen fertig geworden.

Aber nun kommt noch diese heillose politische Situation, die niemals närrischer verwickelt war. Stellen Sie sich das nur einmal vor! Wir können uns im Sinne einer gedeihlichen Entwicklung einen besseren Minister als Caprivi nicht wünschen; die Junker können für sich keinen schlimmeren fürchten. Wir haben alle Ursache, ihn zu halten; sie haben alle Ursache, ihn zu stürzen. Aber nun sind wir, in der Militärvorlage, durch unsere Wähler gezwungen, gegen ihn zu stimmen, dessen Fall niemand aufrichtiger als wir beklagen würde; und die Junker sind gezwungen für ihn zu stimmen, dessen Fall niemand dringlicher wünschen kann als sie. Es ist unsere schlimmste Niederlage, wenn wir jetzt siegen; und es ist ihr bester Gewinn, wenn sie diesesmal verlieren. Und um die Lächerlichkeit noch weiter zu treiben - es handelt sich dabei für uns nicht einmal um ein Prinzip. Ein paar tausend Soldaten weniger oder mehr - das ist doch am Ende nur eine Frage des Maßes, die das Prinzip nicht trifft. Wir konnten, ohne dem Programme das mindeste zu vergeben, ganz gut Konzessionen machen. Aber wir dürfen es nicht, weil unsre Wähler nicht wollen - und schließlich sind es die Wähler, welche die Geschichte bezahlen. Wir dürfen doch über ihr Geld nicht gegen ihren Willen verfügen. So ist es gekommen, daß durch uns wahrscheinlich ein Minister fallen wird, den zu erhalten unsere Partei das größte Interesse hätte, zur innigsten Freude der Konservativen, die ihn gegen uns zu verteidigen scheinen und doch seinen Sturz schon gar nicht mehr erwarten können.“

,,Das ist eigentlich riesig amüsant -“

,,Ja, wenn es einen weiter nichts angeht, mag es wohl amüsant sein. Für uns ist es sehr traurig, und niemand weiß Rat. Und man darf sich zuletzt nicht wundern, wenn immer mehr gerade die Besten und Edelsten der Nation sich der Politik schon mit Ekel entfremden. Wir sind heute so weit, dass man nur gerade aus Scham und Pflicht noch kandidiert und jeden, der nicht mehr gewählt wird, beneidet. Es wird einem alles verleidet, und mancher ehrliche Freund der Freiheit klagt schon das allgemeine Wahlrecht an.“

„Es ist merkwürdig. Franzosen haben mir, als ich das letzte Mal in Paris war, oft das Nämliche gesagt.“

,,Es scheint eben international: den anständigen Leuten ist die Politik vergällt, und sie wird immer mehr ein Geschäft der Spekulanten. Die können sich freilich gar nichts besseres als solche Zustände wünschen. Ihr Weizen blüht. Die Staatsbürgerzeitung hat durch die antisemitische Hetze im letzten Quartal gleich dreitausend Abonnenten gewonnen, und dieses Quartal gewinnt sie vielleicht noch mehr. Wenn einer ohne Gewissen nur den niedrigen Instinkten dient - das sind die einzigen Leute, die jetzt mit der Politik zufrieden sind.“

„Sie sehen ein bisschen Schwarz . . .“

„Wir haben auch alle Ursache. Die Zukunft ist, wohin wir immer blicken, trübe, und es gibt eine einzige Hoffnung: das sind die Arbeiter, das ist der Sozialismus. Im Kampf gegen den Antisemitismus hat sich der Sozialismus zuerst als ein Faktor der deutschen Kultur gezeigt, indem er allen Verlockungen widerstanden und treu bei uns ausgeharrt hat. Und auf den Sozialismus muss man sehen, wenn man wieder ein bisschen Vertrauen und Zuversicht gewinnen will. Die Sozialisten sind die verlässlichsten Hüter der Freiheit, die ehrlichsten Diener einer gesunden Entwicklung -“

,,Na - ob nun gerade im Sinne der kapitalistischen Interessen -?“

,,Ah . . . wegen der gewissen ökonomischen Utopien? Die treten doch immer mehr zurück und werden mit der Zeit ganz platonisch. Man verleugnet sie nicht, aber sie spielen doch praktisch gar keine Rolle. Sie sind jetzt nur noch so wie ein frommer Glaube an ein besseres Leben nach dem Tode. Den kann man ihnen ja lassen, und ich habe es für einen groben, taktischen Fehler gehalten, dass Richter gerade jetzt neuerdings gegen sie gesprochen hat. Das hat gar keinen Sinn und Zweck. In allen politische Fragen sind die Sozialdemokraten heute unsere natürlichen Bundesgenossen, um ich zweifle nicht, dass sie mit der Zeit noch manches abstreifen und sich in eine radikale Arbeiterpartei verwandeln werden, die mit uns Schulter an Schulter kämpft. Wir können nichts eifriger wünschen, als dass sie das nächste mal ihrer 72 statt 36, die sie jetzt sind, ins Haus kommen, und es ist selbstverständlich, dass wir zwischen einem Konservativen und einem Sozialdemokraten immer und überall den Sozialdemokraten wählen werden: denn nur mit ihrer Hilfe allein kann es gelingen, dass wir diese widrigen und schimpflichen Zustände doch am Ende glücklich überwinden und zwingen.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Antisemitismus