Friedrich Spielhagen

An die lange, lange Straße, welche den Tiergarten umsäumt, lehnt sich die Hohenzollernstraße: breit, weiß und leer. Es hallt der Schritt, und nichts Menschliches ist zu vernehmen. Nur an der Ecke kauert ein verschrumpftes, dürres Weib und hält welke, gelbe Stängel feil, als ob es Blumen wären

Ein Haus wie das andere, steif und strenge; alles ist so korrekt. Immer davor ein schmales Plätzchen hinter einem Gitter. Dahin werden im Sommer ein Baum, ein paar Rosen gestellt, und dann sagen sie stolz: Das ist bei uns so hübsch, dass jedes Häuschen seinen Garten hat, was doch in Wien fast gänzlich fehlt.


Im zweiten Stocke. Ich werde in ein Gemach geführt, das eine Mischung von guter Stube, Salon und Atelier ist. Bürgerlich nüchtern in seiner schlichten, pedantischen Ordnung - und doch Chaiselonguen und Causeusen wie bei einer Dame -und in Büsten und Gemälden eine edlere Anmut. Wie das Heim eines besseren Bürgers in der Provinz, der eine trockene Arbeit hat, aber doch in müßigen Stunden gern das Schöne pflegt - eines gelassenen Verstandes, der mit Maß und Weisheit bisweilen auch in Gefühlen dilletiert. Fleiß muss sich hier behaglich finden: für eine feinere Empfindlichkeit freilich, die nach erlesenen Sensationen lüstern, wäre es nichts.

Straff und stramm, knapp und regsam, gerade und scharf ist seine Art. Man möchte ihn für einen höheren Offizier oder etwa für einen preußischen Richter nehmen, dem die Zucht seines „Korps“ noch immer in den Gliedern steckt; eine disziplinierte Jugendlichkeit ist in jeder Geste. Es wundert mich, den mutigen Kämpfer für die Freiheit so soldatisch, fast sagte ich. polizeilich zu finden. Das Weiche, ja Sentimentale seiner Bücher verhehlt sein Wesen. Er ist sehr gastlich, aber selbst seine Höflichkeit hat immer was Gemessenes und Strenges, wie auf Mensur die Sekundanten mit dem unparteiischen verhandeln, mit großer Achtung, aber es bleibt etwas von ihrem streitbaren Metier darin.

Ein hartes, starres Profil. Er sieht wie eine rasche Zeichnung aus, die nur das Charakteristische halten wollte; unentschiedene, veränderliche Züge fehlen. Das Haar und das schmale Bärtchen auf der spröden Lippe kurz. Ich kann in dem Dunkel, da draußen langsam schon der letzte Tag verscheidet, nicht gewahren, ob es grau oder von einem helleren Braun ist. Vom Dichter hat der nüchterne und kluge Blick hinter dem Zwicker nichts, sondern eher wie ein Staatsanwalt und Inquisitor blickt, der spüren will. Die Weitläufigkeit des Stils, den er schreibt, fehlt seiner gedrungenen Rede: er spricht knapp und eilig - die Worte, die zusammen gehören, rapid heraus, aber mit jähen Pausen zwischen den Sätzen, wenn ein neuer Gedanke beginnt, als ob er die logische Ordnung erst besinnen wollte — mehr, wie man diktiert, statt zu plaudern.

,,Ich weiß nicht, Herr Doktor, ob Sie sich meiner noch erinnern - ich hatte vor Jahren -“
,,Aber gewiss - in der „literarischen Gesellschaft“! Wir sind ja alte Bekannte.“

Wir setzen uns. Er reicht Zigaretten. Und ich bringe meine Bitte vor, mir über den Antisemitismus, was er von ihm denkt, zu sagen.

,,Sehr gern. Ich fürchte nur - es wird nicht viel helfen. Gründe, Argumente und alle moralische Entrüstung vermögen gegen ihn nichts. Man hat es oft versucht, und es hat noch nie gewirkt. Von dieser - ich möchte sagend psychologischen Seite ist er nicht zu fassen. Man müsste von der ökonomischen Seite kommen. Er ist eine ökonomische Frage und verlangt eine ökonomische Lösung. So lange man nicht die wirtschaftlich Schwächeren im Kampf gegen die wirtschaftlich Stärkeren unterstützt, so lange der kleine Mann der ökonomischen Macht unbarmherzig ausgeliefert wird, solange, wie ich es von Thüringen weiß (und das Gleiche wird aus Baden und aus Württemberg erzählt), dieser schändliche Wucher herrschen darf, wird alle Bildung und Kultur des Geistes gegen den Antisemitismus nichts richten. Das namenlose Elend, das der Wucher aus dem Lande . . .“

,,Es gibt doch wohl auch christliche Wucherer. ..“

,,Ohne Zweifel - aber täuschen wir uns nicht: die jüdischen sind die Regel. Vielleicht weil die Juden durch ihre Begabung die wirtschaftlich Überlegenen sind, vielleicht weil sie keine Skrupel haben, diese Überlegenheit auszubeuten - ich mag das nicht entscheiden. Aber hier, in der wirtschaftlichen Not, ist die Wurzel des Antisemitismus, und hier, mit der Erstarkung und Gesundung der wirtschaftlich Hinfälligen und Verstoßenen, muss die Heilung beginnen. Er ist eine rein ökonomische Erscheinung. Alles das religiöse und Nationale an ihm ist nur Maske und Schein.“

„Das sagen die Sozialisten so ungefähr auch ..“

,,So nennen Sie mich meinetwegen einen Sozialisten. Ich werde nicht widersprechen. Ich bin es, je mehr ich über die Menschheit und die Zukunft meines Volkes sinne, immer bewusster und deutlicher geworden - wenn ich mich auch zu der Partei, die diesen Namen trägt, wohl nicht bekennen darf, weil sie mit der ökonomischen Reform, die notwendig und unvermeidlich ist, allerhand leere und utopische Schrullen verquickt, die nur verwirren. Aber mit dem leichten, fröhlichen Manchestertum ist es vorbei, unwiederbringlich vorbei. Es war vielleicht Bismarcks größte Tat, dass er das erkannte und, wenn auch seine Kraft, wohl seine ganze Art zur Vollendung nicht mehr reichte, doch den neuen Weg gewiesen hat. und wenn Sie nur denken - Altersversorgung, Invalidenversicherung und so weiter, sind wir denn nicht schon mitten im Sozialismus? Lassen Sie ihn nur gewähren und uns auf dem neuen Wege rüstig aufwärts steigen, und Sie sollen sehen, wie vom Antisemitismus bald keine Spur mehr ist. Ökonomisch muss man ihn lösen, weil er nichts als eine ökonomische Frage ist.“

,,Aber es gibt doch Antisemitismus, der mit der Ökonomie nichts zu schaffen hat - wie jener der Studenten zum Beispiel. Man kann nicht behaupten, dass der jüdische Student der reichere wäre . . .“

,,Der reichere nicht, aber überlegen in der Konkurrenz und eine wirtschaftliche Gefahr für unsere faule, langsame Jugend. Der jüdische Student ist pünktlich im Kolleg, nimmt die besten Plätze und schreibt schon lange emsig mit, wenn der verdrossene Germane, der noch seinen Kater von gestern in den schweren Gliedern hat, endlich träge auch daher kommt, hinten auf den schlechteren Bänken sitzen muss und dem Vortrag mühsam kaum zu folgen weiß. Das rächt sich dann im Examen, wo der Jude mehr weiß, und das bessere Zeugnis kriegt - das rächt sich im Leben, wo der Jude für alle Fälle geistig gerüstet ist.“

„Sie sprechen jetzt selber fast wie die Antisemiten, die auch den Juden an Intelligenz und Fleiß den Germanen überlegen schildern - was eigentlich die größte Schmeichelei für die Juden, aber nach meiner Erfahrung gar nicht wahr ist.“

,,An Fleiß unbedingt - an Fleiß sind sie unbedingt überlegen. Auch an gewissen Gaben des Geistes. Nur für die ganz großen Dinge reichen sie nicht. Die durchschnittliche Intelligenz der Juden ist der durchschnittlichen Intelligenz der Germanen entschieden über. Das Höchste in den Wissenschaften, in den Künsten bleibt ihnen freilich versagt.“

,,Heinrich Heine . . .“

„Gewiss ist Heine eine Höhe unserer Literatur, aber die neben den Gipfeln wie Goethe und Schiller doch nur gering erscheint. Das ist es ja gerade, was ich sage.“

„Spinoza -.“

„Ich bin Spinozist so durch und durch, in allen Empfindungen und Gedanken, daß ich den Namen des Größten nur mit tiefer Ehrfurcht höre. Aber eine Ausnahme kann doch blos die Regel bestätigen.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Antisemitismus