Die Vernichtung der Aristokratie

Bei dieser Vernichtung der Aristokratie und der Aufhebung der Beschränkungen der Person und des Grund und Bodens hatten der Absolutismus und der Radikalismus in Deutschland einen mächtigen, wenn gleich kaum bemerkten Verbündeten, — das römische Recht. Wir haben oben schon gesagt, dass die Idee der individuellen Freiheit und Gleichheit eine universell - europäische Idee und dies schon vorher war, ehe sie nach Amerika hinüber getragen wurde. Wir fügen jetzt noch weiter hinzu, dass sie gar nicht eine etwa damals neu entstandene, durch die Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts etwa neu aufgebrachte, sondern dass sie eine uralte gesamteuropäische Idee war, nämlich eine Idee, die dem gesammten römischen Rechte in allen seinen privatrechtlichen Instituten zu Grunde liegt, die also, sowie die Kenntnis des römischen Rechtes Gemeingut aller westeuropäischen Nationen wurde, selbstverständlich mit demselben gleiches Gemeingut aller (im Rechte) Gebildeten werden musste.

Wir wissen recht gut, dass man in der neueren Zeit im allgemeinen sich gewöhnt hat, die Idee der Universalität als Grundlage des antiken Staatslebens, namentlich aber jenes der Griechen und Römer, die Individualität als das Prinzip des germanischen mittelalterlichen Volkslebens darzustellen: wir wissen auch, wie vieles Gewicht man darauf legt und Unterschiede darauf gründet, dass im klassischen Altertume der Mensch im Bürger unterging, dass der antike Staat die größten Ansprüche an seinen Bürger machte, und Opferfähigkeit für das Gemeinwesen verlangte, während das germanische Volksleben gerade die entgegengesetzten Eigentümlichkeiten zeige, und hier umgekehrt der Einzelne den Staat nur zum Schutze seiner Individualität wolle, und dem Staate zugemutet werde, alles für den Einzelnen zu leisten. Allein wenn man nicht gewohnt ist, bei Äußerlichkeiten und einzelnen hervorragenden Erscheinungen stehen zu bleiben, so wird man bald bemerken, dass solche allgemein hingeworfenen Sätze nur in einer gewissen Beschränkung aufgefasst werden dürfen. Man wird bald bemerken, dass das Prinzip der Universalität, der Opferfreudigkeit für den Staat, nur unter Voraussetzung gewisser aristokratisch-republikanischen Staatseinrichtungen, und nur für diese, Wahrheit hat; dass aber der Bürger der antiken Welt eben so ein gesetzlich geordnetes Privatrecht für den Verkehr und den Schutz der Staatsgewalt für, seinen Besitz begehrte und hatte — (wovon das römische Recht selbst der sprechendste Beweis ist) — wie dies nur ein auf die Geltung seiner Individualität eifersüchtiger Germane begehren kann. Man wird ferner bald bemerken, dass die germanische Bedeutung der Individualität hauptsächlich nur in dem Gebiete der Sonderrechte (in Vorrechten und besonderen Standesrechten) hervortritt und die Wurzel derselben bildet, dass dagegen es, Dank der Vorsehung, dem deutschen Volke, wo es immer einen großen Zweck galt, nie an Opferfähigkeit und an Opferbereitwilligkeit gefehlt hat.


Fassen wir demnach den Sieg der Idee der individuellen Freiheit und rechtlichen Gleichheit, an welcher die letzten Jahrhunderte arbeiteten und deren Geltung sich die neueste Zeit zur besonderen Aufgabe gesetzt hat, zugleich vom rechtshistorischen und rechtsphilosophischen Standpunkte auf, wie es geschehen muss, wenn man eine vollständige Auffassung gewinnen will, so ergibt sich als das Resultat dieser Betrachtung, dass gerade der Sieg dieser Idee der individuellen Freiheit und der rechtlichen Gleichheit nicht ein Sieg der Entwickelung des germanisch en Individualismus zu seiner vollesten Charaktereigentümlichkeit ist, sondern dass er vielmehr die historische Selbstüberwindung und Selbstbefreiung und Reinigung des ursprünglichen germanischen, nur auf Sonderrechte gerichteten Individualismus, seine Erhebung und Verklärung zum philosophischen weltbürgerlichen Gedanken der allgemeinen Menschenwürde und sittlichen Menschenbedeutung ist, wohin der germanische Individualismus nur einerseits an der Hand der Antike (des Romanismus), andererseits an der Hand des Christentums (ohne alle Rücksicht auf konfessionelle Gegensätze in demselben) gelangt ist. So aufgefasst erscheint die Idee der individuellen Freiheit und Rechtsgleichheit als die Blüte der Vereinigung der drei schöpfungskräftigsten Elemente der Weltgeschichte: des Germanismus, des Romanismus und des Christentums; so stießen hier das Altertum und die Gegenwart unter der segnenden Hand der Religion in einander, und somit erhält die Idee der individuellen Freiheit und Rechtsgleichheit eine höhere Bedeutung und Weihe, welche auch denjenigen mit ihr versöhnen muss, der sich von den roheren Versuchen ihrer Gestaltung in der Gegenwart verletzt gefunden hat.




Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Demokratie in Deutschland