Der russische Dorf-Mir

Die letzte Form der Trunksucht ist die im „Mir“. O du russischer Dorf-Mir! Wie viel Kräfte schlummern in dir, die dem Ausländer unbekannt sind. Jetzt erscheint dieser „Mir“ freilich selten bei der Dorfversammlung, ohne auf Kosten des Dorfes einen, zwei oder auch zehn Eimer Branntwein zu trinken.

Was für eine freie, beinahe republikanische Institution, könnte man denken, der „Mir“! — eine Versammlung, die alle gemeinsamen Angelegenheiten nie anders als in Übereinstimmung aller entscheidet, die Obrigkeit selbst wählt, gesellschaftliches Kapital hat, alles selbst revidiert, und vor dem die Obrigkeit verantwortlich ist — so ist es in der Theorie, so lautet das Gesetz. In der Praxis muss diese Versammlung, die aus 500 Mann besteht, manchmal zwei bis drei Stunden stehen und auf den Landhauptmann warten. Endlich zeigt sich in der Ferne sein Gefährt — er ist bei seinem Freunde beim Kartenspiel sitzen geblieben und hat sich verspätet — und mit einem Schlage richtet sich die ganze Versammlung, wie Soldaten bei der Parade; alte Glatzen werden sichtbar und bleiben unbedeckt, solange der Vorgesetze mit ihnen spricht. Dieser aber befiehlt dem Schreiber mit strenger Miene, ihm die Angelegenheit der Versammlung vorzutragen! Alles ist schon vorher entschieden. Die Versammlung muss sich unterwerfen, ob sie will oder nicht. Jede Entscheidung muss vom Landhauptmann bestätigt werden. Und ist er mit ihr unzufrieden, so wird er bei der Versammlung betreffs ihrer Kassierung vorstellig, bis eine solche gefällt ist, die ihn befriedigt. Das alles weiß man, und zieht es daher vor, nichts gegen den Willen der Obrigkeit zu beschließen und sie nicht zu reizen.


Es ist klar, dass bei einer solchen Ordnung der Dinge jede Selbsttätigkeit des ,,Mir“ vernichtet wird. Andererseits bürgert sich das wiederum nicht durch, wovon man wünschen könnte, der „Mir“ führte es ein, selbst da, wo es etwas Nützliches ist. Ich meine hier die Hauptfunktion des ,,Mir“, die Landwirtschaft.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das russische Dorf