Branntwein – Trinkertum - Trunksucht

Bei jedem Abschluss eines Vertrages mit dem Wucherer muss getrunken werden. Besonders unentbehrlich ist der Branntwein, wenn der Vertrag von einer ganzen Gruppe von Bauern abgeschlossen wird. Wenn die Bauern ein Stück Boden, oder eine Wiese, oder Weideland pachten, oder auf künftig zu leistende Arbeit hin Geld aufnehmen, immer gehört ein entsprechendes Quantum Branntwein mit zur Abmachung. Das ist so sehr Sitte geworden, dass man nicht einmal dagegen kämpfen kann. Für den Bauer ist das eine Art Trost, wenn auch nur ein kurzer, bei dem Bewusstsein, dass er im Begriff ist, einen für ihn unvorteilhaften Vertrag abzuschließen — für die andere Partei ist es das Gold, mit dem sie die Pille vergoldet, die sie dem Bauer zu schlucken gibt. Natürlich wird dann, wenn das verabredete Quantum Branntwein verbraucht und der Durst noch nicht gestillt ist, noch auf eigene Kosten weiter getrunken.

Dieselbe, ja vielleicht noch eine schlimmere Rolle spielt der Branntwein, wenn sich einzelne Bauern an den Wucherer am Orte um Hilfe wenden. Ehe man mit ihm verhandelt, ist es üblich, dass Branntwein herbeigebracht wird. Der Wucherer fordert absichtlich einen ganz unmöglichen Zinsfuß, um die Verhandlungen hinauszuzögern und den Armen dadurch dazu zu zwingen, dass er mehrmals und zwar jedesmal mit Branntwein zu ihm zurückkehrt. Mit Branntwein wird schließlich auch der endgültige Vertrag begossen. So hat der Reiche nicht bloß die Möglichkeit, sich noch mehr zu bereichern, sondern auch immer auf fremde Kosten zu trinken. Und die Armen sind jederzeit in Not, versuchen immer was zu leihen, zu kaufen oder zu verkaufen und werden so unwillkürlich zum Trinken veranlaßt.


Früher wollte ich es nicht glauben, wenn mir die Armen sagten, es sei unmöglich, in ihrer Lage nicht zu trinken. Als ich aber das Leben der Bauern näher kennen lernte, überzeugte ich mich, dass sie Recht hatten. Ein Bauer kann unmöglich nicht trinken: dass ist eine notwendige Folge der Armut selbst und des ökonomischen Druckes, bei einem niedrigen Stand der Kultur.

Außer diesem durch die Vertragsschließungen künstlich erzeugten Trinkertum kann man oft Bauern begegnen, die sich aus Armut dem Trünke ergeben. Die Bedürfnisse sind sehr groß, es fehlt an Brot, Salz und Öl — und doch sind nur zwanzig Kopeken da, alles läßt sich dafür nicht kaufen, die Not der Familie damit nicht beseitigen — so trägt der Bauer sein Zwanzigkopekenstück in die Schenke, um sein Elend wenigstens für kurze Zeit zu vergessen . . . Ich hatte Gelegenheit zu beobachten, wie solche Leute, die unverbesserliche Trinker zu sein schienen, ehrsame Hausväter wurden, sobald sich ihre Verhältnisse ein wenig besserten, wenn z. B. die Söhne heranwuchsen und dem Vater bei der Arbeit fleißig behilflich waren.

Schließlich gilt die Trunksucht bei den Bauern gar nicht als Sünde, sondern als notwendige Begleiterscheinung der zahlreichen Festtage. Die Geistlichkeit wirkt ihr nicht nur nicht entgegen, sie selbst trinkt zusammen mit den Bauern. Macht man Hochzeit, ist eine Kindtaufe oder wird jemand beerdigt — der Branntwein darf nie fehlen, und immer trinkt die Geistlichkeit mit, die noch dazu verlangt, dass die Bauern ihr außer zu den gemeinsamen Trinkgelagen noch bei anderen Gelegenheiten Branntwein stiften. Mittwochs ist ein Tropfen Milch oder ein Ei — Sünde, Donnerstags kann man sich betrinken, man darf es auch am Mittwoch tun, Wein ist ja ein Fastengetränk.

Derart war die Erziehung unserer Bauern durch die Geistlichkeit inmitten materieller Unterdrückung und eines pseudoreligiösen Aberglaubens. Können wir da einen Stein auf den Bauer werfen, wenn er trinkt?


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das russische Dorf