Der Widerspruch Religion – Aberglauben und Katholizismus

Das ist die Schule. Und in nicht geringem Grade sucht man das Volk mit Hilfe der ,,Religion“ in Finsternis zu erhalten.

Theoretisch negiert die griechisch-orthodoxe Kirche den Aberglauben des Katholizismus. In Wahrheit aber ergibt sich ein viel schlimmeres Bild. Die Geistlichkeit hat sich der weltlichen Macht fast bedingungslos unterworfen. Die Erzpriester und die Mitglieder des Synods werden faktisch vom Oberprokurator des Synods, d. h. dem Minister für Konfessionsangelegenheiten ernannt, befördert und abgesetzt. Der Name des Kaisers begegnet uns in jedem Gebet auf Schritt und Tritt. Das Grundmotiv aller Predigten ist der Gehorsam gegen die Obrigkeit. ,,Gott und der Zar“ so lautet die Formel. Die Unterwürfigkeit der Geistlichkeit, die so weit geht, dass sie sich zu Denunziationen hergibt, stellt sie auf eine Stufe mit dem Gendarmen.


Jede Dienstleistung muss der Bauer bezahlen: Trauungen, Taufen, Seelenmessen — und zwar ist der Preis sehr hoch. Die Popen erfinden Feiertage (es gibt Heilige, die Schutzpatrone von Pferden und Kühen sind), um nur mehr Messen abhalten und den Bauern auf diese Weise mehr abnehmen zu können.

Daher verachtet der Bauer den Popen, obgleich er ihm die Hand küßt. Es gilt als ein schlechtes Zeichen, wenn ein Pope über den Weg geht, während der Bauer vorüberfährt und drum spuckt dieser dreimal vor ihm aus!

Im Widerspruch mit den Geboten segnen die Popen den Krieg und die Todesstrafe, nehmen sie den Schwur ab, und sind sie überhaupt bereit, alles zu tun, was ihnen die weltliche Macht befiehlt. Bei der Unwissenheit des Volkes musste die Religion naturgemäß in Aberglauben ausarten. Und durch den Aberglauben herrscht der Pope über den Bauer. Die erste Frage in der Beichte ist die, ob der Bauer auch Mittwochs und Freitags faste. Der Bauer zieht es vor, zu stehlen, den Nachbar zugrunde zu richten, ihm das Haus anzustecken, als die Fasten nicht einzuhalten. Die Kirche verbietet es Eheleuten am Abend vor einem Feiertage oder Fasttage zusammenzukommen. Es kommt häufig vor, dass Frauen lieber an einem Montag ihren Liebhaber zu sich nehmen, als dass sie am Mittwoch ihrem Manne zu Willen sind. Man könnte beliebig viel Beispiele für eine solche Auffassung der Religion beibringen.

Und nun stelle man sich vor, dass man in der Predigt immerzu mit Ermahnungen zur Liebe und Demut überschüttet wird: vor allem aber zur Demut vor dem Zaren, der Obrigkeit, dem Gutsherrn, dem Ältesten; so erhalten wir zuletzt einen Menschen ohne Menschenwürde, der jederzeit bereit ist, seinen Rücken zu beugen und vor jedem Schutzmann die Mütze zu ziehen.

Für diese Dienste erhält die Geistlichkeit ihrerseits von der Regierung jegliche Unterstützung und zwar mit Geldmitteln (in bedeutender Höhe) und in jeder anderen Form.

In der allerjüngsten Zeit macht sich in der Geistlichkeit eine Bewegung zugunsten neuer Geistesströmungen bemerkbar. Einige Priester haben ihre Stimme erhoben und die Einberufung eines Kirchenkonzils gefordert. Das gemahnt mich an ein Wort, das ich zweimal von zwei russischen Priestern von höherer theologischer Bildung gehört habe. Als ich sie des Indifferentismus gegenüber den kirchlichen Angelegenheiten beschuldigte, und prophezeite, dass es ihnen im Fall einer Revolution schlecht ergehen könne, antworteten sie mir beide, wie auf Verabredung:

,,Fürchten Sie nichts für uns. Wir gehen bei keiner Staatsordnung zugrunde. Jetzt verstehen wir es, mit den Bauern und mit der Obrigkeit zugleich auszukommen. Wenn die Macht in die Hände des Volkes übergeht, so können Sie uns glauben, dass auch die Geistlichkeit zum Volke übertreten wird.“

Vielleicht verhält sich das wirklich so, es ist aber die Frage, ob das Volk etwas mit Leuten wird zu tun haben wollen, denen es nichts kostet, eines schönen Tages ihre Überzeugungen zu wechseln. Hoffen wir, dass es anders kommt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das russische Dorf