Der Lebens- und Leidensweg der russische Bäuerin

Arbeit, nichts als Arbeit, ohne Rast und ohne Erholung bildet den an Leiden so reichen Lebensinhalt der russischen Frau.

Von dem Augenblick ihrer Geburt an ist ihr Los härter als das des Mannes. Über einen Knaben freut sich die ganze Familie, ein Mädchen ist oft von vornherein ein ungebetener Gast, und weckt nur in dem Herzen der Mutter ein freudiges Gefühl. Beinahe in ganz Russland herrscht folgender Brauch: wenn einem jung vermählten Paar das erste Kind geboren wird, und es ist ein Mädchen, so packen am nächsten Tage die Freunde den Vater, legen ihn über und prügeln ihn. Das geschieht nicht nur symbolisch, sondern er wird tatsächlich bis zu Tränen und Striemen geschlagen. Und er darf es nicht übelnehmen — denn so will es der Brauch.


Schon mit fünf Jahren ist das Mädchen verpflichtet, die kleinen Kinder zu beaufsichtigen, wenn es deren in der Familie gibt. Ein Knabe wird erst später, mit acht Jahren, bei den Pferden beschäftigt. Die Mädchen halten ihre Tätigkeit der Kinderbeaufsichtigung für etwas ganz Normales, daher werden nicht nur die Töchter der Armen, sondern auch die der Reichen Kinderwärterinnen und warten die Kinder armer Leute. Für ihre Arbeit erhalten sie natürlich nur ein paar Groschen, oft nur Wohnung und Kost. Das geht so weiter, bis die Mädchen 14 bis 15 Jahre alt sind, von da ab gelten sie als heiratsfähig. Das ist die Zeit des ,,Spazierengehens“, wobei das Wort ,,spazieren“ bei unseren Bauern einen ganz besonderen Sinn hat. Das Spazierengehen verbindet sich mit Trinkgelagen und anderen Ausschweifungen. Die Anschauungen von der Sittsamkeit eines Mädchens wechseln mit der Gegend. Oft sind die Sitten schon zwischen benachbarten Dörfern verschieden.

Das Zusammenleben in einem Zimmer bei einer häufig sehr zahlreichen Familie, die Einfachheit der Sitten, die es erlaubt, offen zu reden und zu tun, was für Kinder, besonders aber Mädchen, unter gewöhnlichen Verhältnissen ein Geheimnis bleibt, und oft so weit geht, dass Knaben und Mädchen gemeinsam in einem Räume baden, dies alles lehrt die Kinder von Jugend auf, das Leben natürlich und ohne falsche Scham zu betrachten. Daher reift auch das Mädchen mit vollem Bewußtsein zum Leben heran.

In den Dörfern, wo die Jungfräulichkeit ein notwendiges Erfordernis für die junge Braut ist, kommt es nur sehr selten und nur ausnahmsweise vor, dass ein Mädchen fällt. Dafür wahren in solchen Dörfern die verheirateten Frauen, wie man beobachtet hat, ihre Ehre nicht so streng, wie an anderen Orten. Selbst die Männer strafen ihre Frauen nicht so hart, wenn sie ihnen untreu werden.

In anderen Gegenden werden die Mädchen in ihrer Freiheit weder durch ihre Familie, die sie gewähren läßt, noch durch das Verhalten der Freier, die sich diesem Umstand angepaßt haben, beeinträchtigt. Es gibt Dörfer, wo die Mädchen sich der Zahl ihrer Liebhaber rühmen, und wo auch die jungen Leute ein Mädchen nur mit Verachtung ansehen, wenn sie es nicht verstanden hat, die Herzen vieler Männer zu gewinnen. Zuweilen stellen die Männer die Forderung, dass die Mädchen nur mit Jünglingen aus ihrem eigenen Dorfe verkehren, unter denen sie sich dann auch einen Mann wählen. Das ist eine recht originelle, kommunistische Anschauung.

Noch leichtsinniger werden diese Dinge in den großen Dörfern behandelt, wo die Mädchen manchmal in ganzen Trupps aufs Gut eines Grundbesitzers, das häufig 20 — 30 Werst von ihrem Dorfe entfernt ist, zur Arbeit gehen, wobei es vorkommt, dass sie wochenlang nicht nach Hause zurückkehren. Hier fallen sie oft der Willkür der Angestellten zum Opfer. Bei den niedrigen Löhnen erhält eine Frau oft für eine 12 — 14 stündige Arbeitszeit und bei einer ungewöhnlich schweren Arbeit, wie das Jäten, im ganzen 20 Kopeken. Ein Lohn von 30 Kopeken gilt als Maximum. Es kommen aber auch Löhne von 15 Kopeken vor. Wohlverstanden, dabei müssen sie sich selbst verpflegen. Von ihrem Herrn erhalten sie ein wenig Stroh, das sie an einem gedeckten Orte ausbreiten, und hier schlafen die Unglücklichen. Zur Arbeit werden erwachsene Frauen, junge Mädchen und halberwachsene Kinder herangezogen. Auch hierbei sucht der Gutsbesitzer etwas für sich herauszuschlagen. Je jünger ein Mädchen ist, oder zu sein scheint, um so schlechter wird es bezahlt. Man muss die Tränen sehen, die ein 15 — 16 jähriges Mädchen, das noch nicht wie eine Erwachsene aussieht, vergießt, wenn ihm 3 oder 5 Kopeken abgezogen werden, um zu begreifen, wieviel diesen Unglücklichen eine jede Kopeke wert ist. Das gibt Anlass zu allerhand Missbräuchen von seiten der Verwalter, Bureaudiener und Dorfältesten. Es kommt vor, dass sich solch ein armes Geschöpf einem Ungeheuer von Kommis hingibt, um nur hin und wieder bei der Arbeit ruhen zu dürfen, oder auch nur deshalb, damit es nicht einfach aus der Arbeit fortgejagt wird.

Nirgends erscheint der Druck des Kapitalismus so deutlich und ohne jede Schönfärbung wie hier. Die rohe Gewalt tritt ganz unverhüllt und ohne Feigenblatt zutage. Die Sklaverei ist durch die Sitte sanktioniert.

Das Geld, das ein solches Mädchen verdient, fällt fast überall ihm allein zu. Sie verdient sich durch ihre Arbeit beim Grundbesitzer — ihre Aussteuer. Die Familie beansprucht nur den Ertrag ihrer Arbeit, soweit sie auf dem eigenen oder gepachteten Boden geleistet wird, oder wenn die ganze Familie vom Gutsbesitzer ein Stück Land zu gemeinsamer Bearbeitung erhält. Aber der Tagelohn gehört ihr allein. Diese Groschen tastet selbst ihr Vater, und wenn er ein Trunkenbold und Haustyrann ist, nicht an. Nur die äußerste Hungersnot kann ein Mädchen dazu bewegen, ihren Spargroschen herzugeben. Dieser Brauch ist stärker als ein Gesetz.

Bei den sogenannten ,,staatlichen“ Bauern sind die Sitten der Mädchen lockerer, als bei den ,,herrschaftlichen“. Sie sind freier. Fällt ein Mädchen, so beurteilt man sie nachsichtiger. Dafür habe ich folgende Erklärung gefunden: Bis zu der großen Reform vom Jahre 1861 waren die Bauern ja auch nicht frei. Sie wurden geprügelt und unter die Soldaten gesteckt . . . aber dies geschah durch Beamte, die indessen nicht sehr zahlreich waren. Zeit und Sitte schufen damals eine Art von Verfassung, nach der die Bauern eine gewisse Selbständigkeit genossen. Der Beamte ließ sich bestechen und gab sich damit zufrieden; er trieb es nie so weit, bis dem Bauern die Geduld riss.

Anders die Gutsbesitzer. Auf je einen Grundherrn kamen viel weniger Bauern. Das Eigentumsrecht gelangte hierbei zu seiner vollkommenen Durchführung. Der Gutsbesitzer drängte sich bis in die Familie und selbst in das persönliche Leben eines jeden hinein. Die Willkür kannte keine Grenzen. Der Pharisäismus des Gutsbesitzers (Pharisäismus und Frömmelei sind immer mit Konservativismus verbunden — in Russland wie überall sonst) richtete sich besonders gegen die Übertretung des sechsten Gebotes durch die Mädchen und Frauen. Dem Manne wurde so etwas nicht angerechnet. Dieser Pharisäismus war ein wirksamer Deckmantel für die Wollust. Die Geschichte der Leibeigenschaft hat das Recht, das der Gutsbesitzer und seine Söhne oder seine Verwalter, wenn er selbst vom Gute abwesend war, auf die Jungfräulichkeit der Mädchen zu haben glaubten, geradezu sanktioniert.

Das Jus primae noctis — war sein Recht und wenn er von diesem Rechte nicht Gebrauch machte, so konnte das eher als Äußerung von ungewöhnlicher Großmut gelten, denn als Verwirklichung eines Rechtsgrundsatzes, der sich gegen ein außerordentliches Verbrechen richtet.

Danach ist es ganz begreiflich, dass der Sklavenbesitzer ein direktes Interesse an der Sittsamkeit eines Mädchens hatte, besonders wenn es hübsch war. Dadurch erklärt es sich, weshalb die, die sich so etwas zu schulden kommen ließen, so grausam gequält wurden; das ging so weit, dass man sie sogar weiter verkaufte, wobei das unglückliche Opfer seiner Familie auf immer entrissen wurde. Die Mitschuldigen solcher Armen aber wurden in den Ställen zu Tode geprügelt.

Das Behaupten der eigenen Interessen durch die herrschenden Klassen hat immer eine scheinbare Befestigung der Familiengrundlagen im Gefolge, wobei der roheste Despotismus des Familienoberhauptes als Basis gilt, auf der die Familie ruht. In Wahrheit findet das Gegenteil statt: die Tyrannei des Familienoberhauptes führt zu einer Auflösung der Familie. Hierin, wie auch überall, hat der Despotismus in all seinen Abarten Russland zu Resultaten geführt, die das gerade Gegenteil davon sind, was die Hüter der Ordnung beabsichtigten. Nirgends gibt es so viel revolutionären Gärungsstoff wie in Russland.

Noch vor zwanzig Jahren konnte ein Bauernmädchen eines schönen Tages von ihrer Mutter erfahren, dass ihr Vater sie vertrunken habe! Das Volkslied und das volkstümliche Epos schildert die Ehe als ein Unglück für das Mädchen. Heute ist es schon nicht mehr so. Immer häufiger kann man jetzt aus dem Munde der Tochter das verhängnisvolle: ,,Ich will nicht!“ vernehmen. Und sie ist in der Lage, ihren Willen durchzusetzen. Im Liede, das heute nicht mehr ein Klagelied wie früher, sondern eher einem Fabrikgesang ähnlich ist, wird von der Ehe nicht mehr wie vom Verlust des Geliebten und von der Vereinigung mit dem Verhaßten gesungen, sondern wie von einer Erfüllung der liebsten Wünsche. Damit hat das Eindringen revolutionärer Grundsätze in das Dorf begonnen.

Doch nun ist das Mädchen verheiratet, sie trägt einen karrierten Rock statt eines gestreiften und einen hohen Kopfaufsatz statt eines Tuches — dadurch unterscheidet sich die Tracht der Ehefrau von der des Mädchens — und mit einem Schlage ändert sich ihr Leben vollkommen. Bei meinem Studium des Landlebens habe ich mich immer zu verstehen bemüht, wie die russische Frau bloß alle ihre Pflichten erfüllen kann.

Außer allen Feldarbeiten, die ihr zufallen, lasten auf ihr die Sorgen um die Nahrung der Familie, um die Sauberkeit, wie beschaffen sie auch sein mag, und um die Kleidung der Familienglieder. Von alledem ist der Mann frei. So schwer auch die Sommerarbeit des Bauers ist, im Winter ist er völlig sein eigner Herr. Die Frau dagegen kennt keinen Augenblick der Erholung. Wo eine Familie zahlreich ist, wo es zwei bis drei Frauen in einem Hause gibt, da wird die Sorge um die Nahrung und die Reinhaltung des Hauses ihnen der Reihe nach auferlegt, wo aber nur eine Frau im Hause ist, da ist ihre Arbeit härter als die eines Galeerensträflings. Im Gemüsegarten erhält sie ein Stück von der besten Erde, auf dem sie Hanf sät. Den gewonnenen Hanf muss sie anfeuchten, trocknen, spinnen, weben, bleichen, um ihre Familie zu kleiden. Die Bäuerin hat das Recht, einige Schafe auf dem Hofe zu halten. Das Fell und die Wolle werden zur Kleidung verwendet. Was soll sie anfangen, wenn der Hanf verbrennt und die Schafe sterben — das ist alles ihre Sache. Wenn nur alle etwas anzuziehen haben!

So quält sie sich, spinnt nachts, wenn alles schläft, bei der rauchenden Nachtlampe, oder auch, wenn der Mann ihr kein Öl gibt, im Dunkeln, dem Gefühl nach; sie spinnt rastlos, um nur ja genug Leinwand zu haben, denn diese bildet ihren ganzen Reichtum, den sie sich im Verlaufe von Jahren ersparen muss.

Wir haben berechnet, wieviel sie täglich erwirbt. Es waren nicht mehr als 10 Kopeken. Danach schiene es vorteilhafter zu sein, sie ginge als Taglöhnerin dienen, um sich für die erworbenen 20 Kopeken doppelt soviel Leinwand zu kaufen. Doch stehen dem nicht bloß der Mangel an Arbeitsangebot, sowie die sie ans Haus fesselnden anderen Pflichten, sondern auch die Sitte entgegen. Eine Frau, die nicht selbst spinnt, sondern sich fertiges Gewebe kaufen wollte, würde ausgelacht werden.

Ob die Frau krank oder schwanger ist, oder soeben geboren hat, wer fragt danach, sie hat ihre Arbeit zu tun. Für die Geburt werden ihr nicht mehr als zwei bis drei Tage bewilligt. Alle sind in diesem Falle wider sie, nicht bloß die Männer, sondern auch die anderen Frauen. So grausam sind die Sitten, dort, wo das Licht der Kultur noch nicht von außen eingedrungen ist. Wie sehr wir uns auch bemühten, in dieser Richtung auf die Bauern einzuwirken, indem wir ihnen einfach ihren eigenen materiellen Vorteil vorhielten, dass es doch besser sei, die Frau nach der Geburt eine Woche lang ruhen zu lassen und dafür eine gesunde Frau zu behalten, es wollte nichts nützen. Man gab es uns zu, es blieb aber alles beim alten. Auch die Freunde lachen den Mann aus, wenn er ihrer Meinung nach zu human ist. Den Spott aber fürchtet ein Russe mehr als alles andere.

Leinwand und andere Stoffe zur Kleidung — das ist, wie gesagt, der ganze Reichtum der Frau, der ihr die Möglichkeit verleiht, ihren Herrn und Gebieter zu kleiden, ihre Kinder nicht nackt umherlaufen zu lassen und sie dem Spott der Menge preiszugeben.

Es ist danach verständlich, wie groß der Schmerz der Unglücklichen ist, wenn ihre Schätze verbrennen oder wenn ihr betrunkener Mann, in sinnloser Wut gegen sein Weib, ihre Leinwand nimmt und sie zerreißt, die Leinwand — ihren ganzen Stolz und ihre höchste Sorge. Ich habe solche Ungeheuer gekannt. Sie sind selbst durchaus schuldig, und vernichten noch dazu die Vorräte ihrer Frau. Das Elend der Unglücklichen läßt sich nicht beschreiben. Schlaflose Nächte, Prügeleien, die Hölle im Hause — es fehlt nichts, und es gibt keinen Ausweg. Selten hilft der Mann mit Geld aus. Ist was verbrannt, so hat die Frau für neues zu sorgen.

Auf dieser Grundlage erwächst ein gewisses Sonderinteresse der Frau, das ein ziemlich eigenartiges, auf das Eigentum der Frau bezügliches Gewohnheitsrecht gezeitigt hat. Diese Frage ist bei uns theoretisch noch gar nicht erforscht, aber auch praktisch ist sie vielen von denen nicht bekannt, die im Dorfe wohnen und sich für Kenner des Bauernrechtes halten.

Der väterliche Besitz geht allein auf die Söhne über, wobei die Witwe und die unverheirateten Töchter nur einen ganz kleinen Teil erben. Genau so verhält es sich bei den Frauen. Der Besitz der Frau vererbt sich nicht auf die Söhne oder die Familie, sondern allein auf die Töchter, auch wenn diese verheiratet sind. Die Töchter haben auf den Besitz der Mutter dasselbe Erbrecht, wie die Söhne auf das väterliche Eigentum. Der Zusammenhang von Mutter und Tochter, der durch das Eigentum zwischen beiden besteht, löst sich nicht, auch wenn die Tochter sich verheiratet. Wie bei den Männern nur der Sohn nicht mehr als Erben gilt, dem der Vater noch bei Lebzeiten seinen Anteil herausgegeben hat, so erfolgt die Ausstattung der Töchter durch die Mutter, doch braucht sie nicht immer mit der Verheiratung zusammenzufallen. Natürlich geschieht diese Ausstattung in aller Stille und ohne Zuziehung der Gerichte, und ebenso still und lautlos geht die Verteilung des Erbes unter die Töchter nach dem Tode der Mutter vor sich, trotzdem aber bleibt die Heiligkeit der Sitte immer gewahrt. Das ist ein glänzender Beweis dafür, welch große Bedeutung das Bewußtsein für die Menschen hat, dass sie die sittliche Verpflichtung haben, in bestimmter Weise und oft anders zu handeln, wie das geschriebene Gesetz es vorschreibt, das eben nicht in diesem Bewußtsein gegründet ist.

Der Güterzusammenhang zwischen Mutter und Tochter und den Schwestern untereinander hat als Parallelerscheinung eine besondere Anhänglichkeit im Gefolge, die diese Frauen verbindet. Diese unendliche Sorge der armen Mutter um ihre Töchter, dieses grenzenlose Vertrauen der Töchter zur Mutter nimmt oft höchst rührende Formen an, bildet aber auch oft den Anlaß zu Konflikten mit den Männern und zu äußerst tragischen Situationen.

Die Abhängigkeit der russischen Frau innerhalb ihrer Familie äußert sich immerfort in der gröbsten Vergewaltigung und Willkür, mit der sie von dem Manne behandelt wird. Es war mir sehr interessant, zu erforschen, was diese Rohheit hervorruft, ob sie in einer natürlichen Wildheit wurzele, die dem Manne innewohnt, oder nur von außen auf ihn übertragen ist. Und zu meiner großen Befriedigung konnte ich aus einer großen Anzahl von Beobachtungen entnehmen, dass der russische Bauer von Natur vielleicht viel weicher veranlagt ist als der anderer Völker. Aber was soll man von einem Volke erwarten, das ewig in der Finsternis der Unbildung gehalten wird, dem seine Herren stets predigen: ,,Ziehe dir die Frau, denn das ist deine Pflicht als Mann,“ dem der unwissende, abergläubische Pope immer wiederholt, dass die Frau den Mann fürchten müsse, dass der Mann das Haupt und die Frau ihm unterworfen sei, nach dem eigenen Willen Gottes; dem das Gesetz das Recht gegeben hat, die Frau mit Gewalt bei sich zu halten, worin er noch dazu von der Obrigkeit unterstützt wird, dem es von der Gesellschaft nicht für eine Schmach, sondern als besondere Bravour angerechnet wird, wenn er seine Frau mit den Fäusten ,,belehrt“. So haben sich zwischen Mann und Frau Beziehungen, wie zwischen Herr und Sklave eingebürgert.

Lernt man diese Verhältnisse näher kennen, so sieht man, dass das Übel nicht in der Natur des Bauern wurzelt. Oft hat ein bloßes Wort schon eine gewisse Wirkung. Es ist natürlich nicht so leicht, einem ganzen Volke klar zu machen, dass alles, was es von den Gutsherren, den Popen und der Obrigkeit gelernt hat — nichts als ein großes Unrecht und Verbrechen sei; es ist nicht so leicht, den Bauer davon zu überzeugen, er solle auf ein Recht verzichten, das seiner ungebildeten Eitelkeit schmeichelt, und das er so leicht durchsetzen kann, sowohl durch sein Übergewicht an physischer Kraft, wie durch die Unterstützung von Seiten der staatlichen Macht. Und doch brauchte nur ein anständiger Priester zu kommen, der es den Männern klar macht, dass Gott Mann und Weib als gleichberechtigte Wesen erschaffen hat; es brauchte nur ein Landhauptmann (und diese sind allmächtig) einmal die Frauen zu unterstützen und den Männern zu zeigen, dass auch das Gesetz (das bei uns immer durch eine Person repräsentiert ist), nicht auf ihrer Seite ist, um eine vollkommene Umwälzung in den Familienverhältnissen hervorzurufen. Man stelle diese Betrachtungen neben die Fälle, wo sich ein äußerst sanftes und zartes Verhalten der Männer zu ihren Frauen beobachten ließ, und man wird sehen, dass das ganze Übel ein angeschwemmtes, künstlich eingeimpftes ist, wie ja bei uns überall alles mögliche Häßliche und Gemeine künstlich eingeimpft wird, um die bestehende verbrecherische Ordnung, die von unten bis oben auf Gewalt aufgebaut ist, zu erhalten.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das russische Dorf