Das despotische Prinzip der Familienbeziehungen

Das despotische Prinzip ist durch unsere Gesetze nicht nur den ehelichen Verhältnissen, sondern auch den Beziehungen des Familienoberhauptes zu allen Familiengliedern zugrunde gelegt. Ein unsinniges System der Bevormundung durch die Regierung, das seinen Ursprung in der Zeit der Leibeigenschaft hat, versucht überall in die Familienverhältnisse einzudringen, die doch eigentlich der staatlichen Beaufsichtigung entzogen sein sollten. Die Familie gilt für die kleinste Zelle im Staatsorganismus, und sie besteht aus einer Gruppe von Menschen, die in Gütergemeinschaft leben und eine gemeinsame Wirtschaft führen.

Somit gehören nicht nur die erwachsenen Geschwister, sondern auch die Vettern und Cousinen zur Familie. Der Älteste gilt als Familienoberhaupt, sei er nun der Großvater, der Vater oder auch nur einer der Brüder, wenn die Eltern tot sind. Nach dem Gesetz darf die Aufteilung des Besitzes nicht ohne das Einverständnis des ältesten Gliedes der Familie stattfinden, das im Falle eines Streites mit dem Sohn oder Bruder selbst am Ausgange des Streites interessiert ist. Diese Aufteilung macht das Gesetz außerdem noch von der Zustimmung der Gemeinde, d. h. einer Versammlung aus allen Hausbesitzern des Dorfes und von der Billigung des Landhauptmanns abhängig. Mit einem Worte, selbst erwachsene Leute können ihr Vermögen nicht unter sich verteilen, ohne die Zustimmung einer Reihe von staatlichen Instanzen. Es ist offenbar, dass das Leben sich einem so widersinnigen Gesetz nicht fügen kann.


So kommen denn auch in der Tat viele Fälle sogenannter freiwilliger Aufteilungen vor. Die Glieder einer Familie verteilen das Vermögen unter sich — doch es erfolgt kein staatlicher Beschluss und die Obrigkeit erkennt die Aufteilung nicht an. Das Gericht nimmt keine Klagen von ihnen entgegen, das Vermögen eines jüngeren Gliedes wird wegen der Schulden eines älteren gepfändet usw. Mit einem Wort, man bringt die Menschen bis zum wirtschaftlichen Zusammenbruch und zum Selbstmord. Es gibt Landhauptmänner, und das sind die konservativsten unter ihnen, die überhaupt gegen die Aufteilungen sind und am liebsten die alte patriarchalische Familie, die aus sehr vielen Gliedern bestand, wieder einführen möchten. Unter solchen Landhauptmännern kommen überhaupt keine gesetzmäßigen Aufteilungen vor, sondern nur freiwillige mit allen darauf folgenden Verwicklungen. Man könnte eine ganze Menge von Schwänken über diesen Gegenstand schreiben, wenn dies widersinnige Gesetz für den russischen Bauer nicht den Keim zu unzähligen Tragödien enthielte.

Die Gewalt des Familienoberhauptes macht sich nicht nur bei den Aufteilungen, sondern auch im gewöhnlichen Leben fühlbar. Kein einziges Glied der Familie kann ohne die Erlaubnis des Hausherrn einen Pass bekommen. Und wer die Bedeutung des Passes in Russland kennt, der wird begreifen, dass ein Mensch ohne Pass nicht imstande ist, sein Dorf zu verlassen. Er darf in keiner einzigen Stadt leben. Und so kommt es alle Augenblicke vor, dass ein Bauernsohn z. B. in Moskau lebt, eine gute Stelle, vielleicht sein eigenes Geschäft hat, ververheiratet ist und Kinder hat. Er wird noch immer zur väterlichen Familie gerechnet, denn es fehlt ein Beschluss über die Aufteilung; er hat sogar auf seinen Vermögensanteil verzichtet und alles dem Bruder überlassen; er will nur ruhig bei seiner Arbeit bleiben, die ihm Freude macht. Da kommt der Vater oder der ältere Bruder plötzlich auf den Gedanken, dass er ihnen nicht genug Geld aus der Stadt schickt . . . und das älteste Familienhaupt hat das Recht, ihm den Pass zu verweigern, ihn damit zu zwingen, sein Geschäft aufzugeben, zurückzukehren und vielleicht mit einer gebildeten Frau, in einem Raume mit Kälbern und Lämmern zu leben. Wieviel Unglück verschuldet nicht der stumpfe Despotismus eines starrköpfigen Alten!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das russische Dorf