Beamtenwillkür

Vor wenigen Jahren haben die Landhauptleute das Recht erhalten, den jüngeren Mitgliedern der Familie ohne die Erlaubnis des Ältesten nach eigenem Gutdünken einen Pass auszustellen. Die Willkür des Hausherren hat damit ihre Korrektur gefunden in — der Willkür eines Beamten! was auch nicht viel besser ist.

Immerhin benutzen einige Landhauptmänner, die nicht allzueifrig damit beschäftigt sind, die Stützen der Ordnung zu erhalten, die Gelegenheit, um auch den Frauen gegen den Willen der Männer einen eigenen Paß auszustellen. Aber auch dieses hängt, wie ich wiederholen muss, vom guten Willen des Landhauptmanns ab.


Wenn die Willkür der Obrigkeiten schon im Leben eines jeden russischen Bürgers eine große Rolle spielt, so macht sie sich dem Bauer gegenüber ganz besonders fühlbar. Unsereiner ist in der Gewalt eines Gouverneurs oder Ministers, immerhin aber steht uns der Zutritt zum Gesetz offiziell wenigstens frei. Es gibt für uns ein Gesetz, wenn es auch nicht erfüllt wird.

Anders — für den Bauer. Auf ihn erstreckt sich unser ganzes bürgerliches Gesetz überhaupt nicht. Selbst das Strafgesetz hat für ihn und für uns nur bei den schwersten Kriminalverbrechen gleiche Wirkungen. Alle Vergehen, deren er sich schuldig macht, bis zum Diebstahl einschließlich, kommen vor einen besonderen ständischen Gerichtshof. Wenn ein Bauer einem Adligen ein Paar Stiefel stiehlt, so wird er vom Landhauptmann abgeurteilt und mit einer harten Strafe — bis zu sechs Monaten Gefängnis — belegt. Wenn derselbe Bauer unter denselben Umständen ein gleiches Paar Stiefel einem Bauer stiehlt, so wird er von einem ständischen Kreisgericht zu einer ganz leichten Strafe verurteilt — zu einmonatlichem Arrest, den er in seinem eigenen Bezirke, d. h. also beinahe bei sich zu Hause absitzen darf. Durch eine solche Ungerechtigkeit glauben unsere kurzsichtigen Politiker die Achtung vor dem Eigentum des Adels zu befestigen.

Die große Mehrzahl der Prozesse, die die Bauern unter sich führen, wird vom Kreisgericht entschieden, wobei diesem nicht ein geschriebenes Gesetz, sondern ein bestimmtes, am betreffenden Orte herrschendes, von niemandem niedergeschriebenes Gewohnheitsrecht, das noch dazu keinem bekannt ist, zur Grundlage dient. Man kann danach zwei Sachen in ganz verschiedener Weise entscheiden, wenn nur hierbei eine gewisse Formalität gewahrt bleibt, der gemäß das Gericht nach der herrschenden Sitte erkannt hat, dass usw. usw. Kurzum, die Willkür der Gerichtsbarkeit ist vollkommen. Es bedarf nicht einmal schriftlicher Beweise.

Es muss noch hinzugefügt werden, dass die Richter von den Bauern selbst gewählt und vom Landhauptmann bestätigt werden, der das Recht hat, den Richter mit einer Geldstrafe zu belegen und ihn durch administrative Verordnung zu Arrest zu verurteilen, wenn er nur will, ohne dass der Verurteilte die Möglichkeit hat, Berufung einzulegen. Derselbe Richter wird auf Verlangen des Landhauptmanns von der Versammlung seiner Kollegen abgesetzt. Daraus folgt, dass es eigentlich der Landhauptmann ist, der die Richter verabschiedet, wie und wann er will.

Die Institution der Landhauptmänner ist verhältnismäßig noch nicht alt. Sie wurde unter Alexander III. an Stelle des Systems gewählter Richter und gewählter Administratoren eingeführt. Damit die Regierung möglichst stark sei, wurde dabei von allen Grundlagen des Staatsrechts abgewichen. In den Händen des Landhauptmanns (Semski Natschalnik), der von der Regierung eingesetzt und nicht gewählt wird, liegt die ganze ausführende und richterliche Gewalt. Er wird von der Regierung aus der Zahl der Adligen des Ortes und ohne jeden Bildungszensus ausgewählt. Und so wird er zum allmächtigen Herrn über die Bauern. Der Bauer kann vom Dorfältesten, dem Kreisvorsteher oder Landhauptmann um des kleinsten Vergehens willen bestraft und ins Gefängnis geworfen werden. Das Recht des letzteren, zu strafen und zu verurteilen, erstreckt sich auch auf die Dorfältesten und Kreisvorsteher. Er hat auch das Recht, diese abzusetzen. Es ist begreiflich, dass er im Dorfe allmächtig ist. Wenn ein Bauer ihn nicht gegrüßt, die Mütze vor ihm nicht gelüftet hat — so wird er bestraft. Wenn eine Frau nicht aufsteht, wenn er vorüberfährt — bekommt sie Arrest. Dabei erwähne ich noch nicht einmal die schlimmen Missbräuche, die das persönliche Interesse erzeugt.

Hierbei sei bemerkt, dass das Institut der Landhauptmänner das Lieblingskind unseres Absolutismus ist. So bleiben die empörendsten Missbräuche unbestraft und kommen nicht einmal an die Öffentlichkeit. Unterschleife, Veruntreuungen, Diebstahl der Dorfältesten, jeder Art von Missbrauch der Gewalt — all das findet die größte Nachsicht beim Gouverneur, der sich auf eine väterliche Ermahnung beschränkt und nur ganz selten dem Betreffenden vorschlägt, ohne Aufsehen seinen Abschied zu nehmen. Offiziell werden die Klagen gegen gerichtliche und administrative Entscheidungen der Landhauptmänner, von einer Versammlung derselben untersucht (die Versammlung besteht je nach der Größe des Kreises aus 4 bis 11 Landhauptmännern). Es ist leicht einzusehen, dass die Versammlung die Erklärungen und Vorstellungen eines Kollegen mit Vertrauen aufnimmt, da ja ein jedes Mitglied der Versammlung seinerseits das Vertrauen seiner Kollegen zu besitzen wünscht.

Wer bei alledem allein leidet — das ist der unglückliche russische Bauer, der bei weitem mehr als jeder andere Stand ein Opfer der Beamtenwillkür wird.

Gleichzeitig aber haben ihm seine Henker zum Schein alle nur möglichen Wohltaten der Selbstverwaltung zuteil werden lassen. Alle Hausbesitzer des Dorfes bilden eine Versammlung, die über die wirtschaftlichen Fragen entscheidet und mit großen Vollmachten ausgestattet ist. Die Versammlung wählt z. B. aus ihrer Mitte alle Funktionäre der Administration und der niederen Gerichtsbarbeit. Wir haben indessen gesehen, was aus dieser scheinbaren Freiheit geworden ist.

Und ebenso ist es mit den Semstwos. Das Semstwo des Kreises ist das Organ der lokalen wirtschaftlichen Selbstverwaltung: es wird durch Wahlen aus ständischen Vertretern zusammengesetzt, derart, dass auf 20 Adlige ungefähr 10 Bauern kommen. Dabei gelangen die Vertreter der Bauern auf eine merkwürdige Weise in das Semstwo. In den 10 — 30 Bezirken eines Kreises werden ebensoviel Kandidaten gewählt und zwar je einer in jedem Bezirk. Die Wahlen finden natürlich in Gegenwart des Landhauptmannes statt, sie sind öffentlich und stehen unter dem offenkundigen Druck des Landhauptmanns. Von den so gewählten Kandidaten wird die erforderliche Zahl von dem Gouverneur in die Semstwo Versammlung gewählt und zwar wiederum auf Grund einer Empfehlung durch den Landhauptmann.

Es ist begreiflich, dass infolgedessen hauptsächlich die Dorfältesten, wie überhaupt Männer in die Versammlung gelangen, die dem Landhauptmann nahe stehen, der selbst als Vertreter des Adels in der Versammlung sitzt und der jeden von diesen Ältesten wegen Widersetzlichkeit aus der Versammlung ins Gefängnis schicken kann, indem er Grobheit oder Achtungsverletzung durch den Ältesten als Vorwand angibt. Solche Fälle sind schon oft vorgekommen. Danach wird es begreiflich, welche Rolle die Bauern in diesen Versammlungen spielen. Es ist klar, dass sie nur Stimmvieh sind, und das beschließen, was die hohe Obrigkeit von ihnen verlangt.

Aber, was das Empörendste dabei ist, die Konservativen behaupten, wenn man ihnen von der Rechtlosigkeit des Bauers redet, dass dieses alles gar nicht so ist, und beeilen sich sofort, auf sein Selbstverwaltungsrecht und seinen Anteil an dem Semstwo hinzuweisen.

Nur unter der Autokratie, der kein Mittel zu schlecht ist, ist es möglich geworden, ein reich begabtes Volk von hundert Millionen in diesen furchtbaren Zustand der Rechtlosigkeit und Bedrückung zu erhalten. Es ist klar, dass das einzige Mittel dies zu erreichen, jene lang erprobte Methode des Absolutismus ist, das Volk in künstlicher Finsternis zu erhalten und alles Licht von ihm abzuwehren. Darauf beruht bei uns alles, obwohl die gewohnheitsmäßige Heuchelei die Regierung veranlaßt, sich den Anschein zu geben, als ob die Bildung der unteren Volksschichten ihre Hauptsorge sei.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das russische Dorf