Einleitung

Den Namen Rhein (hrên, Rhenus) führte der Strom schon, ehe deutsche Völker seine Ufer in Besitz nahmen. Es hat so wenig gelingen wollen, ihn aus dem gleichlautenden deutschen Worte (rein), als aus einem griechischen, welches fließen bedeutet, abzuleiten. Mag aber sein Name in seiner ältesten Form keltisch sein, der Strom selbst ist seit fast zwei Jahrtausenden deutsch wie seine Anwohner, die mit den Kelten selbst auch jenes keltische hrên verdrängten und durch eine ähnlich klingende appellative Flussbenennung ersetzten. Uns hieß also der Rhein der Fluss überhaupt, gleichsam der Fluss aller Flüsse. Und von jeher war dieser Name ein süßer Klang in einem deutschen Ohre. Wie oft und gern flochten die Minnesinger ihr sehnsüchtiges alumbe den rîn ihren schönsten Liedern ein, zuweilen ohne weitern Grund, nur des lieben Namens willen. Heute noch, wenn es in unserm Nationalgesang, in dem Rheinweinliede des trefflichen Claudius an die Stelle kommt, wo es heißt: Am Rhein, am Rhein! wie stimmen alle Kehlen vollkräftig mit ein, wie klingen alle Römergläser an, wie schüttelt der Deutsche dem Deutschen die Hand, wie fühlen sich alle Teilnehmer des Festes, so zufällig sie zusammengekommen seien, in dem Gedanken an den geliebtesten unserer Ströme befreundet und verbrüdert! Was ist es, das diese magische Wirkung auf die Gemüter übt? Ist es der Duft der Rebenblüte, der sich im Becher verjüngt; oder der edle Geist des Weins, der von dem Zauberwort erlöst in uns überströmt? Oder weht uns der frische Hauch des Rheintals an, die gesunde Alpenluft, die der Strom von den Gletschern seiner Heimat bei sich führt? Ist es der königliche, tiefgehende Fluss selbst, der seine klaren, grünen Wogen mit deutscher Ruhe von der Schweiz bis Holland wälzt? sind es seine gepriesenen, viel besungenen Ufer, das jährliche Ziel einer neuen Völkerwanderung? sind es die sanftgeschwungenen Rebenhügel, denen der geistreichste Most entströmt, oder die starren Felsen, von denen Schlösser und Burgen als Zeugen einer großen Vergangenheit nieder blicken? Ist es der kräftige Genius des Mittelalters, an den jene Ruinen mahnen, oder der Geist der neuern Zeit, der nirgends vernehmlicher als am Rheine zu uns spricht? Sind es die geschichtlichen Erinnerungen, oder die alten vertrauten Sagen? Ist es die schöne Gegenwart, oder die lachende Zukunft, was uns vor die Seele tritt, wenn der Name Rhein uns ergreift? Dies Alles erschöpft den Zauber des Wortes nicht, und wenn sich noch tausend andere Vorstellungen unbewusst mit jenen verbänden, so würde doch die Magic des Namens unenträtselt bleiben. Wer sich aber auf die Anatomie der Gefühle verstände, wer seine leisesten Empfindungen zergliedern könnte, der würde vermutlich finden, dass in dem Namen des Rheins etwas Heiliges, etwas Heimatliches liegt, das seine Wirkung nicht verfehlt, obgleich wir sie uns nicht zu erklären wissen.

Ja der Rhein ist uns ein heiliger Strom und seine Ufer sind die wahre Heimat der Deutschen, der ehrwürdige Herd aller deutschen Kultur. Was dem Indier der Ganges, das ist dem Deutschen der Rhein. Religion, Recht, Kunst und Sitte haben sich von ihm aus über die Gauen unseres Vaterlandes verbreitet. Dies allein gibt uns einiges Licht über die geheimnisvolle Wirkung seines Namens.


Wir behaupten nicht gerade, dass die Deutschen dem Rhein jemals göttliche Ehre erwiesen hätten. Dass aber die alten Franken und Alamannen, die um den Rhein wohnten, Flüsse und Quellen verehrten, ist bekannt.,,Das Volk betete“, sagt Grimm, „am Ufer des Flusses, am Rand der Quelle, zündete Lichter an, stellte Opfergaben hin.“ Obgleich es kein ausdrückliches Zeugnis meldet, so ist es doch glaublich, dass diese Verehrung ihrem Hauptflusse, dem Rhein, vorzugsweise gegolten habe. Die bekannte Wasserprobe zur Ermittelung der Echtheit oder Unechtheit neugeborener Kinder würde dahin deuten, wenn es gewiss wäre, ob sie Kelten oder Germanen zugeschrieben werden müsse. Die ältesten Anwohner hielten nämlich den Rhein mit einer solchen wunderbaren Natur und Eigenschaft begabt, dass sie ihre Kinder gleich nach der Geburt zur Prüfung ihrer ehelichen Erzeugung dem Strom übergaben, welcher die rechtmäßigen Abkömmlinge sanft wieder an das Ufer spülte, die unechten aber ,,mit ungestümen Wellen und reißenden Wirbeln als ein zorniger Rächer und Richter der Unreinigkeit“ unter sich zog und ersäufte. Ein deutsches Volkslied, auf das auch eine Handwerksgewohnheit anspielt, erwähnt einer ganz ähnlichen Prüfung noch ungeborener Kinder, bei welchen der Rhein ebenfalls über Echtheit oder Unechtheit entscheidet. Als herrschende Sitte des Volkes, bei dem der Ehebruch so selten war, ist dies freilich nicht zu denken; was aber in einer solchen Überführungsweise Widersinniges liegt, wird noch mehr Bedenken erregen, sie dem besonnenen Germanen zuzuschreiben. Indessen darf man religiöse Gebräuche nicht vor den Richterstuhl des alles verzehrenden Verstandes ziehen und dieser namentlich hat doch auch seine poetische Seile.

Nach der indischen Legende, die wir durch Goethe kennen, schöpft die reine, schöne Frau des Bramen täglich aus dem heiligen Gangesflusse ohne Krug und Eimer, weil sich dem seligen Herzen, den frommen Händen die bewegte Welle zu kristallener Kugel gestaltet. Aber nur so lange sie rein bleibt: sobald der leichteste Schallen auf sie fällt, nur ein verwirrendes Gefühl die heilige Ruhe ihres Busens trübt, rinnt ihr das Wasser durch die Finger nieder. Auf ganz übereinstimmenden Begriffen beruht die schöne Sage von der heiligen Ritza zu Coblenz, die trockenen Fußes über den Strom ging, der sie aber gleich zu tragen weigerte, als ein Zweifel die Heiterkeit ihres gläubigen Bewusstseins störte. Beide Überlieferungen setzen die Heiligkeit des Flusses voraus. Auch hier, wie bei jener Wasserprobe, trägt der Strom das Schuldlose, Reine, während das Untersinken ein Verdammungsurteil enthält.

Alles eigentümliche Leben, Religion und Sitte der Indier hat sich im mittleren Tale des Ganges geschichtlich entwickelt. Nicht viel geringer war der Einfluss des Rheintals auf die Bildung der germanischen Völker und zunächst des deutschen. Der Unterschied ist freilich der, welcher überhaupt zwischen der Entwickelung des indischen Volks und des deutschen Statt findet. Dem Indier ward die Bildung nicht von außen gebracht, ihm war es gegeben, in der Heimat, am eigenen Herd allmählich zum Bewusstsein zu erwachen und wie die Pflanze aus dem Keim die Reihe seiner geistigen Metamorphosen aus sich selbst hervorzutreiben. So gut hatte es der Deutsche nicht, oder vielleicht, er hatte es besser. Gleich bei seinem ersten Auftreten auf der Bühne der Weltgeschichte stieß er am Rhein auf die Römer, ein Volk, das eben auf der Höhe seiner Macht und Bildung stand. Wenn die deutscheu Völkerschaften, die damals das Rheintal bezogen, unter der dreihundertjährigen Herrschaft der Römer von ihrer Bildung und Sitte sich Vieles aneigneten, so dürfen sie doch stolz darauf sein, dass sie anders als die benachbarten Gallier sich die eigene Sprache bewahrten. Und so lange ein Volk seines Siegers Sprache nicht annimmt, ist es nicht wahrhaft besiegt. Und so waren es auch rheinische Völker, Franken, Burgunder und Alemannen, welche die römische Macht am Rhein und in Gallien vernichteten, und dann doch des Römers Sitte und Bildung, ja sogar seine Religion, die christliche nämlich, über das ganze Land ihrer Stammgenossen verbreiteten, ja weiter, bis in die slavischen und avarischen Länder, welche unsere östlichen Marken deckten. Aus einem am Rhein entstandenen Staate, dem fränkischen, ging dann das deutsche Reich hervor und durch das ganze Mittelalter blieb das Rheinland der Mittelpunkt seines politischen wie seines geistigen Lebens. Als sich diese Epoche zu Ende neigte, begünstigte die am Rhein erfundene Buchdruckerkunst, und die Reformation, an der das Rheinland durch Zwingli und Melanchthon beteiligt ist, (um von Reuchlin, Bucer, Ulrich von Hutten, Erasmus von Rotterdam u. s. w. zu schweigen), welche aber ohne Gutenbergs Erfindung unmöglich geblieben wäre, die Bildung anderer Herde für das wissenschaftliche und literarische Streben, während die Kunst noch immer ihren alten Wohnsitzen getreu blieb. Schon früher war im Schoße des Rheinlandes ein Fürstengeschlecht erblüht, das im Südosten einen mächtigen Staat gründete und die Kaiserkrone gleichsam erblich trug, wodurch die politische Bedeutung der Rheinlande und die Macht der vier rheinischen Kurfürsten sank. Der deutsche Orden, dessen erste Großmeister Rheinländer waren, erwarb gleichzeitig ein Land im Nordosten. Dessen Namen führt jetzt der Staat, dem die rheinischen Länder gehören, aus welchen einst das fränkische Reich hervorgegangen war, denen also Frankreich und Deutschland ihren Ursprung als Staatenkörper verdankten. Durch einen so seltsamen Umschwung der Dinge geschah es, dass jetzt beträchtliche Teile des einst gebietenden Rheinlandes von jenen slavischen und avarischen Ländern aus beherrscht werden, die ihm Gesittung und Bildung schuldig sind.

Der Rhein ist nicht Deutschlands Grenze ; wenn auch einem geliebten deutschen Dichter die unbedachte Äußerung entschlüpfte, dass er Germaniens Grenze bewache, so genügt doch zum Beweise des Gegenteils die einfache Wahrnehmung, dass seine beiden Ufer von deutschredenden Völkern bewohnt werden. Dass er sich zur Grenze so wenig schicke als irgend ein Fluss, bewies der Gallier selbst, eben indem er ihn überhüpfte, sobald er ihn erreicht hatte. Weit entfernt Deutschlands Grenze zu bilden, fließt der Rhein vielmehr mitten durch das alte Deutschland. Unsere natürliche Grenze gegen Westen bildet nämlich ein Gebirgszug, der sich jenseits der Maas und der Scheide hinzieht; obgleich auch noch diesseits dieser deutschen Pyrenäen wälschredende Stämme unzusammenhängende Wohnsitze haben. Als unser Volk das ihm von der Natur vorgezeichnete Gebiet einnahm, scheinen sie sich auf diese Höhen geflüchtet zu haben, deren Besitz ihnen streitig zu machen nicht lohnte. Gegen Osten haben wir seit dem zwölften Jahrhundert bedeutende Erwerbungen gemacht; aber was wir dort gewannen, büßten wir im Westen ein. Das alte Deutschland reichte kaum bis zur Elbe, da bis an die Saale sorbische Völker saßen und noch jetzt in Böhmen, selbst diesseits der Elbe, unsere Sprache nicht herrscht, ob sie gleich nördlich und südlich von diesem Lande mehr als hundert Meilen weiter vorgedrungen ist. Man könnte mittels der Redensart ,,dort im Reich“, womit man in den später erworbenen Provinzen das alte Deutschland zu bezeichnen pflegt, dessen Grenzen ziemlich genau feststellen. Wer aber sein Gebiet auf der Karte überblickt, dem kann nicht entgehen, dass es gerade in seiner Mitte vom Rhein durchflossen wird. Dies zur Rechtfertigung unserer obigen Andeutung, dass der Rhein durch das Herz Deutschlands fließe. An das politische Deutschland, dessen Grenzen wandelbar sind, dachten wir dabei nicht; auch kümmert uns hier nur das malerische und romantische.

Der Rhein ist also die Mitte Deutschlands. Die entgegengesetzte Ansicht konnte sich nur bilden, als die in jenen avarischen und slavischen Ländern entstandenen Staaten große Teile des alten Deutschlands zu beherrschen anfingen. Von dort aus angesehen mag sich freilich das geräumige überrheinische Deutschland so verkürzen, dass es als eine mathematische Linie dem Blick verschwindet. Erinnere ich mich doch, dass ein Königsberger gesprächsweise äußerte, Frankfurt a. M. liege hart an der italienischen Grenze. Solchen optischen Täuschungen, welchen sich akustische zugesellen mögen, ist es ähnlich, wenn in jenen östlichen Provinzen die Meinung verbreitet ist, als ob in den Rheinlanden französische Sprache, Sitte und Gesinnung vorwalte, ja als ob ihre Bevölkerung aus deutschen und gallischen Elementen gemischt sei. Nichts kann irriger sein als diese Ansicht. Zwar ist Gallien von den Rheinlanden aus germanisiert worden, aber daraus folgt nur, dass in den Franzosen rheinländisches Blut fließt, nicht in den Rheinländern französisches. Wenn es auf die Reinheit der deutschen Abstammung ankäme, so wäre diese bei den Rheinländern geringerem Zweifel unterworfen, als bei den östlich wohnenden Deutschen, die der Vermischung mit Wenden, Sorben, Czechen und Avaren weit verdächtiger sind. Deutsche Art, Sprache und Sitte kann sich nirgends in so lebendiger Eigentümlichkeit ausgeprägt finden, als in dem Lande, das als ihre ursprüngliche Heimat zu betrachten ist, von der aus sie erst durch Kolonisation in die östlichen Marken verpflanzt wurde, wo sie sich, in einigen wenigstens, sogar noch heutzutage nur dünne aufgetragen findet. Seltsam wäre es, wenn die Anschuldigung wegen französischer Gesinnung auf besseren Gründen beruhte. Es scheint aber hier freie Gesinnung mit französischer verwechselt zu werden. Freigesinnt ist der Rheinländer durchaus, aber eben das bürgt dafür, dass er die Fremdherrschaft wie jede andere Knechtschaft verabscheue. Was er an seinen westlichen Nachbarn ehrt und schätzt, ist vor Allem ihre Freiheilsliebe und Nationalität. Wie sollte er vor Bewunderung jener Tugenden an dem Fremden sie an sich selber verleugnen? Die Anhänglichkeit an das französische Recht, das der Rheinländer als sein Palladium betrachtet, und sich ungern entreißen und verderben lässt, gilt nicht seinem Namen, sondern der Sache, die dem Wesen nach deutscher ist, als sich irgend eine andere Gesetzgebung rühmen darf. In der Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens, in dem Geschworenengericht erkennt der Rheinländer ursprünglich deutsche Institute, die durch fremdes Recht aus der Heimat verdrängt, jetzt unter fremdem Namen wieder dahin zurückgekehrt sind. Heil ihm, wenn es ihm diesmal gelingt, sie zu bewahren!

Der nachstehende Versuch über das malerische und romantische Rheinland hat zunächst die Strecke zwischen Mainz und Köln, mit Einschluss von Frankfurt und Aachen, zum Gegenstande, welche als die malerischste, das heißt reichste an Naturschönheiten, zugleich in romantischer Beziehung, durch historische und mythische Erinnerungen, die sich überall aufdrängen, das meiste Interesse bietet. Weil wir aber nicht gern etwas Unvollständiges liefern, und auch wohl voraussetzen dürfen, dass dem Leser ein Ganzes willkommener ist, als ein Fragment, so schicken wir eine gedrängte Übersicht des Rheinlaufs von den Quellen bis Mainz voraus und gedenken auch späterhin den Strom nicht zu entlassen, bis wir ihn seinem Vater Ocean ans Herz gelegt haben. Diese Rücksicht glauben wir ihm um so eher schuldig zu sein, als wir ja auch in jedes sich rechts oder links öffnende reizende Seitental einen Blick werfen und uns nach dem Ursprunge und den Schicksalen der sie durchströmenden Flüsse oder Bäche erkundigen wollen. Dürften wir dem Rhein, dem Hauptgegenstand unserer Darstellung gleiche Aufmerksamkeit versagen? Bei der zunächst folgenden Übersicht bitten wir aber den Leser, der vielleicht bemerken wird, dass wir Manchem absichtlich vorübergehen, zu bedenken, dass es unsere Pflicht war, Kollisionen sowohl mit der Sektion Schwaben, als einem eigenen Buche (Rheinsagen, Bonn bei Weber) zu vermeiden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das malerische und romantische Deutschland