Die polnische Frage.

In dem Gewühle der Krönungsfeste konnte man wiederholt zwei Gäste auffallend hervortreten sehen, deren Einfachheit dem Glanze des Hofes seltsam widersprach. Beide ähnelten den übrigen Anwesenden in goldgestickten Uniformen, juwelenbesetzten Gewändern und farbigen Trachten sehr wenig, sie waren Priester. Der eine mit einem dunklen, feisten Napoleonskopfe: Monsignore Tarnassi, der andere mit der schärferen Physiognomie des schneidigen Streiters der Kirche: Kardinal Agliardi, der in Moskau, umgeben von einem kleinen Stabe, Hof hielt, wie in Wien, wo seine Hand sich so entgegenkommend den wüsten Politikern von der Straße entgegenstreckte. Das widerspruchvolle Wesen der zwei geistlichen Diplomaten erinnerte an ein Scherzspiel der Reformationszeit, die an der römischen Kurie schärfer Kritik übte, als unsere ruhig-objektive Gegenwart. Dieses stellte einen päpstlichen Legaten durch zwei Personen dar, von denen eine die deftigsten Geberden machte, während die zweite das Wort in süßlich milde Töne kleidete. Etwas von diesem satirischen Kontraste lebt in der Art der Würdenträger, die Rom nach Moskau entsendet.

Monsignore Tarnassi hatte den freundlichsten Wertmesser für Russland, er gewann alles und alle durch seine Art zu fordern, wie durch die Form, den geäußerten Wunsch zu vertreten. Agliardi erschien viel kriegerischer. Er wußte sehr gut daß —wenn die Polizei nur will — in Russland kein Amts-, Familien- und Briefgeheimnis aufrecht steht, und daß deshalb politische Konventikel gefährlicher sind, als in dem stillen Hause am Hof in Wien oder in den Salons der ungarischen Aristokratie, aber die Gewohnheitsagitation ist so lebendig in sein Blut übergegangen, daß er trotzdem vielbemerkte Zusammenkünfte, Beratungen und Konferenzen abhielt.


Der Schauplatz dieser flüsternd geführten Miniatur-Verschwörungen, mehr noch ihr religiös-politischer Charakter lenkt die Aufmerksamkeit auf die bedeutsamste Frage im öffentlichen Leben Russlands, auf die — polnische.

Sie besteht seit Jahrhunderten, seit Russen und Polen aufeinander stießen. Einen Augenblick schien es, als sollten sie vereint den europäischen Osten beherrschen, aber die Versuche einer Annäherung scheiterten rasch. Bei der ersten ernsteren Bestrebung der Russen, die Zivilisation, einen Blick oder, wie sie sagten — „ein Fenster“ nach Europa zu gewinnen, traten die inneren Gegensätze der zwei Völker an die Oberfläche. Diese mußten sich unausgesetzt verschärfen, bis eines Tages beide Nationen vor dem großen Scheidewege standen, an dem ihr Geschick besiegelt wurde.

Das katholische Polen unterwarf sich bedingungslos dem Einflusse Roms, während die orthodoxen Russen die Freiheit ihres Staatsgebildes von fremden Einflüssen ungeschmälert zu erhalten wußten.

Sehr zu ihrem Glücke!

Die neuere russische Geschichtsforschung, welcher die so wenig erschlossenen Archive der Heimat offen stehen, lenkt mit gerechter Befriedigung die Aufmerksamkeit auf längst vergessene Bestrebungen der ersten großen protestantischen Regenten. Elisabeth von England, Gustav Adolph von Schweden fanden einen verwandten Zug in der religiösen Natur des kaum entwickelten russischen Staatswesens, sie suchten es an die Seite jener Mächte zu ziehen, die der finstern Politik Philipps II. und der katholischen Liga im siebzehnten Jahrhundert aus religiösen wie politischen Gründen entgegenwirkten. Aus den Ursachen, welche diese Allianz ermöglichten, ist Russlands Macht emporgestiegen. Es konnte die grausame Willkür tyrannischer Herrscher, die ausschweifenden Sultanslaunen verliebter Fürstinnen, den Druck einer erbärmlichen Günstlingsherrschaft, die mörderische Unfähigkeit schlechter Heerführer, den Übermut einer feilen Beamtenschaft, die nur durch ihre Käuflichkeit erträglich wurde, über sich ergehen lassen und trotz alledem neue Kraft gewinnen — während die Polen, ihrem Nachbar scheinbar überlegen, ähnlich jenen verblendeten Fürsten des Westens, welche die Staatsaufgabe in der Untertänigkeit für die Kirche suchten, von Stufe zu Stufe bis zu der kläglichsten Ohnmacht herabsanken!

Der Kampf, der diesen Ausgang herbeiführte, war hart. Zu Beginn desselben waren die Russen im Nachteile. Hunderttausend ihrer Krieger wurden von zehntausend Polen in die Flucht geschlagen; Rom und der Jesuiten-General fanden Mittel, die Nachwirkung dieser kläglichen Niederlage zu erhöhen. Die Patres Possevin und Scarpa wurden nicht müde, zu wühlen und zu schüren, man veranstaltete Aufstände und Empörungen, ließ alle Künste spielen, um falschen und würdelosen Prätendenten der Volksgunst den Glauben der Masse zu gewinnen. Den ersten Demetrius streckte ein Dolchstoß nieder, Rom fand einen zweiten, auch dieser fiel — ein dritter stieg unerwartet aus der Versenkung empor. Jedem dieser Prätendenten folgte auf Eingebung ihres Beichtvaters, unter jauchzender Zustimmung des Adels, eine polnische Dame, jene Marina Mnischek, ins Ehebett, um den Glauben an seine Echtheit zu stärken. Solche Fechterstücke waren siegreich, die nationale Kraft der Russen schien zerbrochen, der Glockenturm Iwans läutete den Triumph der katholischen Priester ein, die auf dem Kreml ihre Messe lasen. In diese Zeit fällt der Sieg des Bauers Minin, dessen Statue heute stolz auf dem größten Platze von Moskau aufsteigt. Dieser kleine, von dem wildesten Hasse gegen Rom erfüllte Mann, dieser Muschik, der nur das Fleischerhandwerk und die armselige Kunst des Bodenbaues erlernt hatte, rettete seinem Volke die Selbständigkeit!

Seit dieser mächtigen Erhebung ist Russland dem immer mehr entkräfteten Nachbar Schritt um Schritt näher gerückt. Es galt bald nur, das Schwache Polenreich wie „einen Ärmel an das Nationalkleid zu heften.“ Eines Morgens standen die Heere Suworows vor den Mauern von Praga, dem Vororte Warschaus.

Nach dreitägigem blutigen Ringen berichtete der siegreiche Führer seiner Kaiserin: „Hurra Praga!“

„Bravo, Feldmarschall!“ antwortete Katharina II. In dieser lapidaren Kürze ruht die Grabschrift Polens; trotz aller Tränen des Volksliedes, trotz aller mannhaften Bemühungen, die alte Unabhängigkeit wieder zu gewinnen, war sie für immer verloren. Die Gläubigen, die ihre Wiederkehr erwarteten, zerstreuten sich durch Europa, unter den mannigfachsten Verkleidungen und Formen: in der Kutte, unter dem Waffen- und Beamtenrocke, im Salon, auf der Tribüne, in Wort und Schrift, sind sie für ihr ersehntes Ziel eingetreten; in den dreißiger Jahren förderten sie scheinbar enthusiastisch den erwachenden Liberalismus, nach zwei Jahrzehnten halfen sie, seine jungen Erfolge erdrücken; wir haben sie später in den fortgesetzten Reibungen und Kämpfen des öffentlichen Lebens ihr Feldzeichen chamäleonartig wechseln sehen; treu und unentwegt hielten sie nur zu der politisch-religiösen Tradition ihrer Ahnen; es war schwer zu entscheiden, ob sie mehr Polen, mehr ultramontane seien, ob sie eigenen Eingebungen gehorchen oder wie Puppen von einer mächtigen fremden Hand geleitet werden?

In Russland glaubt man das letztere.

„Was uns zu den Polen in einen so scharfen Gegensatz gebracht hat,“ hörte ich den Leiter des Synod, Herrn Pobedonoszew, sagen, „ist nicht ihre Nation, auch nicht ihr Glaube, sondern die Heeresfolge, die sie den Führern der Ecclesia militans und den Jesuiten leisten, welche mit allen Mitteln ihrer Kirche verlorene Gebiete wiedererobern wollen.“

Diese Auffassung beherrscht nicht nur die extremen Vertreter der russischen Staatspolitik. Ganz in demselben Sinne äußerte sich in einem Gespräche der Polizeipräfekt von Petersburg, General v. Kleigels zu mir, ein Vertreter der vornehmsten und besten russischen Beamtenschule, die auch politische Fragen milde und aufgeklärt beurteilt.

„Ich kenne die Polen“, meinte er. „Ein großer Teil meiner Dienstzeit wurde in Warschau verbracht, wo ich Polizeimeister war. Ich bin gut mit ihnen ausgekommen, sie sind persönlich achtungswert, aber ihre politische Haltung ist einfach eine Krankheit. Sie allein tragen Schuld, daß Russland im Auslande so falsch beurteilt wird. In Lemberg und Krakau bestehen Fabriken, um lügnerische, maßlos böswillige Erfindungen über uns zu verbreiten und die öffentliche Meinung der Fremde systematisch zu unseren Ungunsten zu beeinflussen. Über die Person der Leiter dieser Tätigkeit ist hier Niemand im Zweifel, Russland wird ihre Kampfesart aushalten, ich wünsche nur, daß Österreich nie bedauere, ihr so viel freien Spielraum gewährt zu haben.“

Ähnliche Anschauungen beherrschen das gesamte russische Volk. Nicht seit heute und gestern. Alexander Herzen, dessen Sturmglocke eine neue Epoche anzukündigen schien, mußte plötzlich verstummen, weil seine Parteinahme für Polen verdächtig erschien; umgekehrt hat Katkow, der Liberale, seinen Übertritt zur Reaktion ungestraft vollziehen können, weil er vorgab, nur den Missbrauch des Freiheitsprinzips durch die Polen verhindern zu wollen. Auch die politischen Versuche, Russland eine freie Entwicklung zu gewähren, waren von denselben Stimmungen beherrscht.

Als Loris-Melikow sein Verfassungswerk ausarbeitete, war die erste Sorge, den Einfluß der Polen einzudämmen. Die Zahl ihrer Abgeordneten für das geplante Reichsparlament, das „Semstwo“, bestimmte er, sollte die Regierung feststellen, ihr blieb es vorbehalten, diese Deputierten zu ernennen und zu den Sitzungen, an denen sie teilzunehmen hatten, einzuladen.

Loris-Melikow hat heute noch Anhänger, sie halten seit an diesen Tendenzen, sie treten für Erleichterungen in der polnischen Verwaltungspraxis ein. Den politischen Wünschen der alten Feinde Russlands stehen sie kalt, teilnahmslos und ablehnend gegenüber.

Die Hand Alexanders III., die so schwer auf Russland lastete, offenbarte sich auch den Polen. Sie fühlten, wie reizbar sein Regime zu sein vermöge. Die Obrigkeit in Warschau hatte Befehl, den „polnischen Götzen“ zu zerschlagen; mit eisiger Kälte suchte sie diese Aufgabe zu erfüllen. Eigentümlich genug, mit der Zeit fanden sich Bedrücker und Bedrückte ineinander. In der Prosa des Alltagslebens war wenig von der Schwüle der politischen Atmosphäre zu verspüren. Nicht nur in ihrer eigenen Provinz, überall in Russland, vornehmlich in den großen Städten, begegnete man den Polen in hervorragender Stellung. In den Gilden, in Schule und Amt kam ihr Talent zur Geltung, in dem letzteren so auffallend, daß der russische Argwohn erwachte und fürchtete, die Polen wollen auf diesem Wege zur politischen Herrschaft gelangen. Der Zar verordnete, die polnischen Beamten im Staatsdienste nur bis zu einer gewissen Ranghöhe aufsteigen zu lassen.

Luft und Licht, Klima und geographische Lage ließen sich nicht ähnlich eindämmen. Die materielle Leistungsfähigkeit Polens, seine Steuerkraft wuchs, es wurde für Russland, was Böhmen für Österreich ist. In Russland führte die Befreiung der Leibeigenen zu einer Krise der Landwirtschaft, in Polen war von ihr kaum etwas zu spüren. Seine Intelligenz verstand es, alle Bedingungen der Produktion, jeglichen Wechsel der Handelspolitik, die Billigkeit der Arbeitslöhne, die Schwerfälligkeit der Konkurrenz zu ihrem Vorteile auszunützen. Der Schutzzoll, der wirtschaftliche Kampf mit Deutschland haben Polen bereichert, nirgends stiegen so zahlreiche Fabrikschlote in die Höhe als hier, einzelne Städte, wie Lodz, entwickelten sich mit amerikanischer Geschwindigkeit, sie überschwemmten mit ihren Erzeugnissen von Leinwand, Tuch, Zucker, Wollwaren, Seifen und Beleuchtungskörpern das große russische Absatzgebiet, in dem die Sonne nicht untergeht — freilich auch — wie die Polen sagen — nicht aufgehen will.

Nikolaus II., humanen Regungen zugänglicher als sein Vater, scheint gewillt, die Regierungsform, die sich in Polen einwurzelte, menschenfreundlich umzugestalten, unmittelbar nach seinem Regierungsantritte zeigte er, daß er Wert darauf lege, die wichtigsten der polnischen Beschwerden zu prüfen. Was konnte einer gerechten Würdigung ihres Inhaltes entgegenstehen, nachdem selbst der Gouverneur von Polen, Graf Schuwalow, die alten drakonischen Mittel für verbraucht ansieht? Die Milde des Kaisers ist auf Widerstand gestoßen. Man fürchtete, sie könnte missdeutet und für Schwäche gehalten werden. Sicher war es kein Zufall, daß der Zar eines Abends in den Historischen Verein geladen wurde, um einen Vortrag anzuhören. Gegenstand desselben: Polen; der Vortragsmeister: der Chef des Heiligen Synod.

In seiner eindringlich-rauen Weise zerzupfte dieser Polemiker von erbarmungsloser Schärfe die Romantik, welche Feuer und Wasser, die polnische Staatspartei der Ezartoryski mit dem Zar vereinigen wollte und naturgemäß nur Enttäuschungen und Übles statt des erwarteten Guten erntete.

„Alexander I.“, rief Pobedonoszew höhnisch im Angesichte seines Urenkels, „dachte an die Wiederherstellung Polens, weil er den Geist der Geschichte nicht kannte, der einen Gegensatz zwischen dem staatlichen Polen- und Russentum schuf. Mit dem Siege des einen ist der Untergang des andern entschieden!“

Dieser Vortrag spiegelte nur die Meinung eines Teiles der Regierung wieder. Wie der weitere Verlauf der Ereignisse zeigte, waren die Minister bemüht, die Lage der Polen zu verbessern.

„Was man will,“ sagte mir ein Gewährsmann, der zu den leitenden Kreisen in enger Fühlung ist, „war, zunächst den Eindruck gewinnen, daß man den polnischen Wünschen nicht völlige Gleichgültigkeit zeigt. Man hat in Russland die Annexion Polens oft bedauert. Sie hat einen Herd der Unzufriedenheit, eine Wunde an unserer Grenze geschaffen, die es jedem Gegner ermöglicht, dieselbe im Kriegsfalle noch empfindlicher zu machen. Nun ist der Irrtum einmal begangen. Man kann nicht mehr zurück. Man müsste daher alles aufbieten, die Lage zu bessern. Vielleicht kommt man mit Klugheit zum Ziele. Ernst wird die Frage immer bleiben. Wie töricht ist es, unter solchen Umständen uns Annexionsabsichten auf neue polnische Gebietsteile zuzuschreiben. Wir haben genug an unseren alten Polen. Möchte die nächste Zukunft eine Annäherung an dieselben ermöglichen und sie mit dem Gedanken befreunden, ihr Wohl in unserem Staate zu Suchen, ohne dessen Grundlagen zu bedrohen.“

Es wird Anstrengung kosten, einer Politik in diesem Geiste russische Sympathien zu schaffen, trotzdem hält man an derselben fest. Die Deputation des polnischen Adels wurde in Moskau nach der Krönung vom Zar mit großer Huld empfangen.

„Ich kenne,“ sagte er ihren Mitgliedern, „keinen Unterschied meiner Untertanen, vor meinem Throne sind alle gleich, jeder Russe darf auf mich rechnen.“

Die Einleitung dieser Worte hat in Warschau gewiß befriedigt, sie deutete nur in unbestimmten Linien an, was spätere Verordnungen ausführten, daß man den Polen gewisse Reformen gewähren wolle. In Petersburg machte diese Richtung die alte polnische Frage wieder lebendig, sie wurde wie in den Tagen der Poesie und Romantik an allen Orten öffentlich behandelt. Als Verteidiger der neuen Richtung trat Fürst Uchtomski, der Petersburger Kaiserjournalist, in die Schranken, an der Spitze seiner Gegner erschien mit den populärsten Argumenten und mit dem vollen Selbstgefühle des Altrussen General Komarow.

„Wir haben,“ sagt dieser, „einen Staat unter einem Kaiser; auch in dem Bereiche des alten Polen gehorcht das Volk willig der Obrigkeit, denn es dankt Russland die Befreiung von seinen schlimmsten Gegnern, von den — Römlingen. Alle staatlichen Funktionen in Westrussland vollziehen sich regelmäßig. Wo ist also die polnische Frage? Wo die Nötigung, sie auszuwerfen? Polen ist mit Russland auf denselben Grundlagen verschmolzen wie Nowgorod, Wladimir, Twer und Moskau. Aus der großen Ebene des Westens ist kein Raum für zwei Reiche; nur die russische Krone darf über dem einen, das möglich ist, als Wahrzeichen der Macht schweben. Dagegen erheben sich nun zwei Elemente: der polnische Adel und die Jesuiten. Die ,Versöhnlichen‘ bei uns vergessen, daß diese beiden unversöhnlich sind. Zerstörungslust und Ordnung sind nicht zu einigen, zwischen ihnen gibt es nur eines — den Kampf! Darf ein Staat, der sich erhalten will, ihn scheuen? Der Katholizismus in Russland hat Schutz und Schirm, er wurde hier reich, feist und mächtig, deshalb will der Papst den Frieden mit uns, den Krieg wollen nur die ultramontanen; es sind dieselben, die dem alten Polen den Stein um den Hals geschlungen haben und nach seinem Untergange ihre freventliche Herrschsucht neu betätigten. Seien wir auf der Hut? Was man von uns als nationale und religiöse Konzession verlangt, hat mit der Nation und Religion nichts gemein, es soll nur Aufstand und Empörung vorbereiten!“

Fürst Uchtomski, der seinen Ruf als Begleiter des Zars auf dessen Reise nach Japan gewann, schreibt sein Blatt, die Petersburgskija Wjedomosti, selbst. Wie alle jüngeren Journalisten, liebt er den Kamps, nur ist er ein Gegner von Meinungen, welche den stärksten Anhang haben. Er trat gegen das französische Bündnis auf, das ihm der Natur Russlands zuwider scheint, er ist für eine Auseinandersetzung mit Deutschland, er ficht für die Polen. Ich finde ihn in seiner entlegenen Redaktionsstube am Schreibtische. Ein Bild Nikolaus' II. mit dessen eigenhändiger Unterschrift steht aufmunternd ihm gegenüber, auf dem goldigen Rahmen schimmert die Kaiserkrone. Der schmächtige Mann von zierlichem Wuchs, mit breiter Stirne und männlich angenehmen Zügen erhebt sich rasch.

„Sie sehen mich mitten im Kampfe,“ ruft er mir zu, „im Kampfe für die Polen. Meine Bemühungen werden leider missdeutet, man hält mich für einen Anhänger der polnischen Staatspartei. Das bin ich nicht. Ich halte die Wiederherstellung Polens für eine Utopie. Wie? Man soll nach hundert Jahren versuchen, ein Reich in seinen alten Grenzen aufzurichten? Haben sich innerhalb desselben seither die Lebensgewohnheiten, die materiellen Interessen, die Bedürfnisse der Bevölkerung nicht wesentlich verschoben? Zudem ist die Bildung kleiner Staaten von zehn bis fünfzehn Millionen Einwohnern ein Unding in unserer Zeit. Selbst die christlichen Staatsgründungen auf dem Balkan scheinen mir deshalb verfehlt. Ich bin überzeugt, sie werden in einem großen Gebilde oder in einer Union aufgehen. Man sagt, ihre Bevölkerung sei national ungleichartig, aber kann man von den Polen in Preußen, Österreich und Russland heute noch behaupten, daß sie eine zusammenstimmende Volksnatur aufweisen? Sie sind drei verschiedene Nationen geworden. Aber eben deshalb ist es ein Fehler und des mächtigen Russlands unwürdig, wenn es wie jüngst in Wilna die Gewissensfreiheit seiner polnischen Untertanen bedroht. Ein Volk, das eine Kultur, eine Literatur hat, darf man nicht hindern wollen, seine Sprache zu sprechen. Meine Ahnen standen auf den Schlachtfeldern wider die Polen. Mein Vater war Adjutant des Großfürsten Konstantin Pawlowitsch. Ich habe noch seine von polnischen Kugeln durchlöcherten Uniformen. Im Besitze solcher Reliquien begeistert man sich nicht für die polnische Staatsidee, aber als Mensch und Russe wünsche ich, daß es den Polen möglich sei, ihrem Stammesgefühle Genüge zu tun. Können sie das, so verhalte man sie dann, wenn es sein muß, mit Strenge, russische Staatsbürger zu sein.“

Die Polendebatte, die augenblicklich das politische Russland in zwei Lager teilt, weckt auch die Erinnerungen an die revolutionären Bewegungen im Weichselgebiete, die oft plötzlich und unerwartet wie eine zerstörende Sturmflut hereinbrachen.

„Wollen Sie wissenswerte Reminiszenzen aus dieser Zeit, dann müssen Sie nochmals zu General Kirejew,“ meint ein russischer Kollege von Orts- und Personenkenntnis.

Solch ein Vorschlag hat nichts Auffallendes in einem Lande, in dem man nach dem Worte eines geistvollen Beobachters „Visiten reist“. So fahre ich denn wieder an der Fabrikvorstadt und den letzten kleinen ebenerdigen Häuschen von Petersburg, an den schmucken hölzernen Sommervillen der Reichen, an einer endlosen Acker- und Wiesenebene, an den hohen Baumgruppen vorüber, die Zarskoje-Selo umschließen, und bin zum zweiten Male in der grünen Poesie des Schlosses Pawlowsk. Mein freundlicher Gönner empfängt mich gütig wie das letzte Mal.

„Also die Polen führen Sie zu mir?“ fragt er, und ein leises, melancholisches Lächeln spielt über seine Lippen und seinen grau melierten Schnurbart.

„Polen, das ist ein Wort,“ fährt er fort, „das ein Stück meines jüngeren Lebens wiedererweckt und meinen Zorn aufrührt! Wenn die Polen niedergehalten sind in Russland, ist es nur ihre Schuld. Wir hatten nie die Tendenz, sie zu unterdrücken. Wir waren oft bereit, ihre Ansprüche möglichst zu befriedigen. Alexander I. wollte dies und ebenso sein Bruder Nikolaus, den seine absolute Herrschernatur nicht hinderte, ein Mann von Wort zu sein; den Polen war eine Ausnahmestellung, eine Konsumtion zugesagt, er wollte dies Versprechen ehrlich einlösen. Nur die Polen haben dies vereitelt. Sie waren kühne Spieler! Alles oder nichts!' war ihr Wahlspruch. Erst die Zeit hat sie so gefügig gemacht, daß sie sich jetzt selbst mit Geringerem wie mit einer Abschlagszahlung begnügen würden, der später ,Alles‘, das heißt die staatliche Unabhängigkeit, folgen sollte. Aber diese Forderung ist ein Unding.“

„Die Zeit der Existenzberechtigung eines selbständigen Polens ist vorüber. Sie berufen sich auf ihr historisches Recht. Was ist historisches Recht? In dem Sinne, in dem es zeitweilig von Volksstämmen angerufen wird, die große politische Erinnerungen haben, ist es nicht mehr als die Konstatierung einer geschichtlichen Tatsache ? aber nun hat die Geschichte eine andere Tatsache an die Stelle der ersten gesetzt; wo ist dann das historische Recht? Nach dieser unhaltbaren Auffassung, die unbekümmert um Gegenwart and Halbvergangenheit in eine entfernte Zeit willkürlich zurückgreift, um dieses oder jenes verlorene Recht herauszuholen, könnte das ganze europäische Staatswesen fortwährend in Frage gestellt werden. Der deutsche Kaiser wäre nicht nur König von Jerusalem, Deutschland hätte nach dieser absurden Theorie auch Rechtsansprüche auf sehr wichtige europäische Gebietsteile. Soll auch hier dieses historische Recht geltend gemacht werden? Nein! Mit einer so flachen, aller natürlichen politischen Logik widerstreitenden Beweisführung darf man nicht kommen. Die Polen wollen — weil sie es eben wollen — die Wiederherstellung ihres Reiches in dem vollständigen Umfange seines alten Grenzgebietes, das heißt sie fordern, daß ein paar Millionen Russen ihrer Unterjochung preisgegeben werden. Kann darein ein Staat wie Russland willigen? Nur Polen halten dies für möglich. O, ich habe sie studiert und kenne sie, seit ich in der Nähe des Großfürsten Konstantin weilen durfte. Er war lange Gouverneur von Polen, immer von den besten Absichten für sie beseelt. Als Dank dafür hatte er ein Attentat zu bestehen.

„Eines trüben Herbsttages überreichte ihm ein Individuum, Namens Jaroschinski, eine Bittschrift. Er bückte sich, sie entgegenzunehmen. Das rettete sein Leben. Die Kugel, die ihm zugedacht war, prallte an seiner Epaulette [Achsel- oder Schulterstück an Uniformen] ab. Trotzdem ist der Großfürst polenfreundlich gebliebem. Wer war nun edler, der russische Barbar oder die Polen, die diesen Mörder gedungen haben?

„Einer der bekanntesten polnischen Agitatoren, mit denen ich in Berührung trat, war der Erzbischof Felinski. Er hatte einmal eine wilde Hetzrede gegen uns gehalten. Zar Nikolaus I. ließ ihn ad audiendum verburn nach Petersburg kommen. Ich hatte die Ehre, ihn auf dieser Reise zu begleiten. Wir begannen unterwegs ein politisches Gespräch.

,Was die Polen wollen,‘ sagte ich ihm ,ist unerreichbar, ohne daß sie einen Krieg mit Russland, Preußen und Österreich führen. Glauben Sie, daß sie die Kraft hierzu haben?‘

,La Pologne ne raisonne pas, elle sent.‘

,Mais la politique n'est pas une affaire des sentiments.‘

,Der polnische Charakter,‘ erwiderte der Erzbischof, ,ist der der Frau, nicht der des Mannes. Der Pole strebt ohne Überlegung, ohne vor Gefahren zurückzuweichen, seinem Ziele zu. ,Niemals,‘ rief er, und sein Auge blitzte zornig und seine Hand erhob sich drohend, ,niemals werden wir die Gefühle aufgeben, die dem Boden entströmen, auf dem das Polenreich gestanden! So lange ein Pole auf demselben lebt, seid ihr Russen nicht sicher und ihr werdet nicht Ruhe und Frieden haben!‘

„In diesem Geiste erörtern heute die russischen Polen mit Vorliebe die Stellung ihrer nationalen Brüder in Österreich. Es gibt Tollköpfe unter ihnen, welche die abenteuerlichsten Pläne ernst nehmen. Sie träumen von der Wiederbelebung der alten jagellonischen Idee, von der Errichtung eines großen katholischen Slawenstaates mit der Spitze gegen Russland. Das slawisierte Österreich hätte sich ihm anzugliedern, unsere polnischen Phantasten vergessen, daß, wenn ein so kühner Gedanke Leben gewänne, der Geist Minius in Russland wieder erwachen würde. Alle unsere Kriege trugen religiösen Charakter, aber zur Vernichtung dieses tollen polnisch-jesuitischen Planes würde man sich, begeistert bis zum letzten Manne, wie zu einem Kreuzzuge rüsten!

„Und Österreich? Glauben diese polnischen Thoren wirklich, es könne sich auf so abschüssige Bahnen begeben, seine Stellung in der europäischen Mächtegruppe opfern und ruhig in jenes gefährliche Fahrwasser steuern, in welchem, Dank der Kaiserin Eugenie, das Schiff Napoleons III. zerschellte? Doch wozu solche Hirngespinste erörtern. Wir leben nicht mehr in der Zeit Ferdinands II. Die Staatsweisheit der österreichischen Herrscher wird den hitzköpfigen polnischen Ungestüm hoffentlich nach seinem richtigen Werte bemessen, und was immer die Feinde Österreichs über die Zukunft dieses Staates sagen mögen, auch der Nachfolger Franz Josephs wird nicht ein Condottiere der Jesuiten sein wollen.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland - Momentaufnahmen