Land und Leute. — Geistige Strömungen. — Die Demonstrationen am Krönungstage. — Alexander II. — Sein Verfassungsprojekt.

Wladimir, einer der Fürsten Russlands, die dessen Größe begründeten, gab seinen Kindern Lehren für das Leben, welche einen Schatz von Erfahrungen bargen. „Empfängt die Fremden gut,“ ermahnte er, „denn die Art, die ihr ihnen zeigt, wird den Ruf bestimmen, welchen ihr genießt.“ Vielleicht ist auf dies Zarenwort die große Gastfreundschaft zurückzuführen, welche in Russland üblich ist, vielleicht hängt mit ihm auch die Haltung der Regierung gegenüber den Vertretern der ausländischen Presse bei den letzten Krönungsfesten zusammen; in jedem Falle muss zugestanden werden, daß ihr Entgegenkommen, ihre Gastlichkeit sich nicht nur auf äußerliche Formen beschränkte, man gestattete vielmehr freimütig, so oft dieses gewünscht wurde, auch durch die Oberfläche der Dinge in ihr Inneres zu blicken. Möglicherweise liegt dem ein gewisser Hochmut zu Grunde oder die Überzeugung, daß Russland durch kein Urteil Schaden nehmen könne und man ließ den Fremden deshalb anstandslos in die Ämter sehen, ihre Einrichtungen genau beobachten, zeigte ihm auch ruhig die Institutionen, welche die Schattenseiten des Lebens verbergen. So eröffnete man uns willig die ausgedehnten Anstalten, die bisher erfolglos versuchen, der erschrecklichen Kindersterblichkeit Einhalt zu tun, und wir konnten in die berühmten Kerker treten, die in den großen Städten und zur Krönungszeit durchaus nichts Auffälliges zeigen.

Nicht nur hier, auch sonst war der Eindruck ein anderer, als der, welchen man nach den gewohnten Schilderungen erwartet, die über Russland im Umlauf sind.


„Das ist natürlich,“ sagen unsere Begleiter, „wir überlassen es den Feinden, das Bild unseres Landes zu malen. Sie haben Russlands Ruf mit ihrer Methode sehr verschlimmert. Voreingenommen kommen fremde Schriftsteller zu uns. Einzelne von ihnen suchen nach den ersten Eindrücken, die sie empfangen, nach allem Schlechten, um die herkömmliche Auffassung zu bestärken. Natürlich finden sie Mangelhaftes, namentlich im Innern des Landes. Diese Eindrücke werden verallgemeinert und erhalten das Gepräge einer Schilderung des russischen Gesamtzustandes. Wer die Dinge nicht aus solchen Gesichtspunkten beobachtet; wer in Rechnung zieht, wie spät dieses Russland in die europäische Gemeinschaft trat, wie viele Unterbrechungen seine Entwicklung durch Fremdherrschaft und innere Unruhen erlitt und wie schwer ihm die Bildung eines Ständewesens wird, auf dem sich der moderne Staat ausbaut — der wird milder richten und zweifellos finden, daß er hier einem im Aufblühen begriffenen Staatswesen begegnet.“

Unleugbar ist es nicht schwer, dieser Urteilsrichtung Rechnung zu tragen; denkt man vollends daran, wie häufig die äußere Politik der europäischen Staaten, durch Unterschätzung dieses und jenes Nachbars unheilvoll beeinflusst wurde, dann möchte man, geleitet von den ersten Eindrücken, die man in Russland von dem imponierenden Auftreten seiner Staatsfunktionäre, von der Haltung seiner Armee, von der Leistungsfähigkeit seiner in normalen Zeiten vortrefflich funktionierenden Eisenbahnen gewinnt, nach eindringlichen Worten suchen, um zu verhüten, daß dieser große Staatsorganismus nicht mit zu geringem Maße bemessen werde. Man braucht deshalb durchaus nicht blind für die Schartenseiten des Bildes zu sein. Gewiss wird der länger hier Weilende Züge entdecken, die eine naivbrutale Gewalttätigkeit und viel unentwickeltes bloßlegen; er wird Dinge wahrnehmen, die selbst an hervorragender Stelle den Mangel an Initiative und einer harmonisch ineinander greifenden Verbindung mit anderen wichtigen Amtsfaktoren verraten, er wird endlich — vielleicht seltener, als er es erwartete — beobachten können, daß der Charakter an verantwortungsvoller Stelle wertvoller sein könne, als das Talent; aber zum Glücke für die Russen leugnen auch sie selbst ähnliche Übelstände nicht.

„Unsere Administration wie vieles andere bei uns,“ sagen sie, selbst wenn sie in Amt und Würde stehen, „ist sehr besserungsbedürftig. Darüber täuschen wir uns nicht, und in dieser Erkenntnis liegt, wie wir glauben, unsere Zukunft. Sie werden dieser Einsicht an vielen einflussreichen Stellen begegnen; alle unsere besseren Elemente sind erfüllt von der Meinung, daß Russland der Größe seiner Aufgabe noch nicht gewachsen ist, daß seine gewaltige Ausdehnung, seine Lage, sein Klima, seine ganze Vergangenheit ihm den Eindruck des unvollendeten ausdrücken. Die Natur und der Kampf gegen ihre fortwährenden Einwirkungen auf unser Leben werden noch viele Schwierigkeiten machen; auch darüber, wie das Ziel zu erreichen wäre, gehen die Meinungen auseinander, und bei der Langsamkeit, die hier Plan und Ausführung, Gedanken und Tat, Befehl und Vollziehung trennt, sind wir gewiss noch weit von dem Endpunkte unseres Strebens, aber wir glauben schließlich doch die Begabungen finden zu können, die uns dahin führen.“

An Talenten fehlt es in Russland keineswegs. Seine gesamte Intelligenz hat, in fortwährendem Aufsteigen begriffen, den Weg aller echt veranlagten Naturen gemacht. Von der Kunst bloßer Nachahmung gelangte sie zu der des selbständigen Schaffens. Das Vermögen des Russen, an seiner Eigenart beharrlich festzuhalten, hat sie hierbei kräftig gefördert. Schon auf dem Kreml bewunderten wir die Hartnäckigkeit, mit der ungebildete, aber ihrer Volkskraft bewusste Fürsten große Baukünstler aus der Fremde nötigten, einen russischen Stil zu schaffen, der zwischen griechischen, scythischen und slavischen Auffassungen schwankt. Deutsche Ästhetiker spotten über das Auffallendste und Kühnste dieser Baudenkmale, die Wassilikirche, als einen Narrenturm. In Wahrheit ist sie eine merkwürdige Ausgestaltung des bizarrsten Barock, die uns in den Wirkungen ihrer durch Jahrhunderte gleichmäßig erneuerten bunten und vielfarbigen Tünche die kecken polychromischen Effekte der Alten erraten lässt. Der byzantinische Barockstil dieses Baues ist von den modernen russischen Architekten künstlerisch verschönt und ausgestaltet worden. Russische Maler, wie Wereschtschagin und Ssemieradski; Meister, wie Laganowski und Ramasanow, unterstützten sie hierbei; sie alle sind in ihrer Art ebenso eigenartig wie die neueren russischen Schriftsteller, die uns nicht nur die perlende Träne ihres Volksliedes, sondern die ganze Geistesrichtung eines Denkerkreises veranschaulichten, der in rührender Weise zwischen bangem Zweifel, düsterem Pessimismus und selbstzerfleischender Ironie die Wahrheit der Dinge zu ergründen sucht. Es wäre gewiss falsch, aus ihren Charakterbildern Schlüsse auf das ganze russische Volk zu ziehen; es war vielleicht auch nicht angemessen, ihre der deutschen Gemütsrichtung widerstrebende Art einfach in unsere jüngere Poesie zu übertragen; aber die starke individuelle Kraft dieser Literatur ist so wenig zu leugnen als die volle Selbständigkeit des russischen Geistes auf allen Gebieten, die er berührt. Der Ökonom, der Kaufmann, der Vertreter praktischer Wissenschaft, der Journalismus bewährt dieselbe nicht weniger als die neueren Historiker, in deren Schule die russischen Staatsmänner gebildet sind, die in ihren Gesprächen so nachdrücklich auf den innigen Zusammenhang des hellenischen Volksgeistes, der in Byzanz fortlebte, mit den politischen Einrichtungen Russlands hinzuweisen pflegen. Da auf geistigem Gebiete die individuelle Kraft, das Gepräge der Selbständigkeit so ausschlaggebend wirken, darf man wohl annehmen, daß eine Nation, welche so viele eigenartige Talente besitzt. Schließlich auch der politischen Gefahren und Hemmnisse Heer werden muss, die ihre innere Entwicklung aufhielten und so häufig in die Schatten reaktionärer Mächte hüllten.

Dies Ziel wird allerdings nur mit Mühe zu erreichen sein, wiewohl einer der entscheidendsten Schritte zu demselben gemacht ist. Trotz seiner Unermesslichkeit hat Russland durch ein oft gewalttätiges, aber häufig von genialen Eingebungen geleitetes System seine volle Einigkeit gewonnen. Die Polen ausgenommen, will niemand, der politisch ernst denkt, in diesem Reiche eine Schwächung des Staatsganzen und seiner Kraft; föderalistische, partikularistische Wünsche leben nicht einmal in den Köpfen. Aber dies Reich wird von einem Volke bewohnt, das vorläufig die staatsfördernde Kraft nicht in genügendem Maße besitzt. Der Adel hat durch gewaltsame Erschütterungen, durch selbstverschuldete Übel, durch die Bodenkrisis, die augenblicklich die ganze Welt berührt, seine Bedeutung verloren — der Klerus macht wohl keine Kulturkämpfe in Russland, er hat auch nicht die Verfolgungswut der Priester anderer Religionen, die Torquemadas und Lamormains haben hier keinen Boden; aber die russische Kirche dient dem Staate um einen hohen Preis, sie will, dass er das Bildungsniveau nicht erhöhe, damit ihre Macht — „die Macht der Finsternis“, sagt der Dichter — leichter und länger fortdauere — die Bureaukratie der Tschinowniks, vielfach vortrefflich wirkend, gilt doch mit als Ursache der Übel, die in Russland reformbedürftig erscheinen — der Mittelstand, der an Stelle des Adels treten könnte, ist erst im Werden begriffen. — das eigentliche Volk in seiner untersten Schichte, zum Teil gut veranlagt, anstellig und gewandt, auch bereit, wie die Geschichte wiederholt gezeigt, die höchsten geistigen Güter des Menschen zu verteidigen, ist leider überreich an Elementen, die eine politisch träge und unbewegliche Masse bilden. Das fatalistische „Nitschewo“ und „Choroscho“, „Es wird schon gehen“ und „Es ist gut“, ist, wie schon Bismarck in Petersburg bemerkte, sein Alpha und Omega.

In diesem Geiste riefen die Ahnen der so leicht zu lenkenden Bevölkerung nach den kräftigen Varägern, um eine starke Regierungshand zu gewinnen. Man will sie fühlen hierzulande; wiederholt sind es die Russen selbst gewesen, die ihre Fürsten baten, in ihrer Strenge nicht nachzulassen. „Wir brauchen einen Herrn,“ dieser Ruf tönte in der alten Vjetsche, der Volksversammlung, von Pskow und Nowgorod, die das Recht hatte, Landesherren einzusetzen. Er ist seither in den verschiedensten Variationen lebendig geblieben.

Aus ähnlichen Volkszügen, ans der Begeisterung für das orientalische Imperatorentum in Byzanz, aus dem kräftigen Walten mächtiger Herrscher oder einer die willenlosen Fürsten tyrannisch lenkenden Umgebung ist das autoritative Zarentum entstanden. Russische Schriftsteller sagen, „auch das hellenische Volksgefühl mit seinen demokratischen Wallungen sei neben demselben lebendig und der oberflächliche Beobachter übersehe diese Erscheinung nur zu häufig,“ aber diese Behauptung ist nur bis zu einem gewissen Grade richtig. Das Volk, gewohnt immer nach oben zu blicken, bleibt zufrieden und ruhig, so lange keine Wolken am Himmel stehen; erst im Unglücke fühlt es seine Kraft. Das weiß jeder Zar. Selbst eine so rücksichtslos dämonische Natur wie der Große Peter, dessen zahllose Stöcke, die auf dem Rücken seiner Ratgeber zu tanzen pflegten, man heute noch in den Schlössern von Petersburg sehen kann, mußte dieser Erscheinung Rechnung tragen. Man fand jüngst einen Brief von ihm, den er an den Senat gerichtet, als er in dem Netze eines schlauen türkischen Paschas so stark festgehalten wurde, dass ihn nur die Klugheit der ersten Katharina retten konnte.

„Das Unglück war gegen mich,“ schrieb der Allmächtige. „Ich habe Russland ungenügend vertreten. Ich beuge mich eurem Urteile. Wollt ihr mein Leben? Es ist zu eurer Verfügung.“

Viel stärker haben die meisten Herrscher nach ihm die traurige Wirkung des Missgeschickes erfahren. Selbst in der jüngsten Zeit konnte man nach dem Chodinkafeste auf dem Friedhofe, der die Leichen der Verunglückten barg und den Schmerz in Shakespearischen Accenten lebendig werden sah, einen Vorgeschmack der Stimmungen ernster Zeiten gewinnen. Das Totenfeld war von Truppenmassen cerniert, auf den schmalen Kieswegen des Friedhofes sprengten geräuschvoll berittene Wachen umher, zwischen den Grabsteinen blitzten überall Bajonette. Das hinderte die Menge nicht, schimpfend und drohend ihren Gefühlen Luft zu machen.

„Ihr habt uns gestern,“ rief sie den Truppen höhnisch zu, „nicht bewacht, warum bewacht ihr heute die Toten, die nicht aufstehen und nichts mehr tun können?!“

Trotz solcher Erscheinungen hat es in Russland nicht an Versuchen gefehlt, eine Art von Freiheitsrecht zu begründen. Es war vor Peter dem Großen in dem Statut der Zemstwos [russische Landschaftsämter] aller Gebiete, aus denen sich Russland nach und nach zusammensetzte, lebendig. Der Zar hob es auf, weil er mit Recht eine Gefahr für sein gewaltiges Kulturwerk darin sah. Nach einigen Jahren suchte der Adel unter der Kaiserin Anna eine Habeas-Corpus-Akte [Die englische Habeas-Corpus-Akte (lat. habeas corpus – „du mögest einen Körper haben“) wurde im Jahr 1679 durch König Karl II. erlassen. Sie soll die Bürger vor grundloser Verhaftung schützen und gilt als eines der modernen Freiheitsrechte und ist in jeder demokratischen Verfassung verwirklicht.] zu gewinnen, die vielleicht das autokratische Russland in eine oligarchische Republik mit dem Schicksale Polens verwandelt hätte. Die Zarin mit dem hübschen Knabenknopf von ungewöhnlich kräftigen Zügen zerriss unmittelbar nach der Krönung die eben unterzeichnete Charte, die den Preis ihrer Wahl gebildet hatte, unter dem Jubel des Heeres und der Geistlichkeit. Ein Kammermädchen — die Umwälzungen vollzogen sich damals im Geiste der Komödie Scribes [Augustin Eugène Scribe (* 24. Dezember 1791 in Paris; † 20. Februar 1861 ebenda) war ein französischer Dramatiker und Librettist.] — hatte ihr heimlich den Plan zugesteckt, wie den kühnen Anschlägen des Adels zu begegnen sei. Die ersten Mutigen, die es versucht hatten, Russland die Freiheit zu geben — ein Günstling der Kaiserin unter ihnen — wanderten zum Schafott, in den Kerker, nach Sibirien. Die große Zarin Katharina II. versuchte trotzdem, das alte Volksrecht neu aufleben zu lassen. Als sie ein neues Gesetzbuch einführen wollte, berief sie auf dem Boden der alten Zemstwos eine Ständeversammlung nach Moskau; Beamte, Adelige, Bürger, Bauern, Russen, Tataren, Lappen, Kalmücken tagten hier vereint. Sie hatten das Recht der Indemnität [(lat. indemn?tio, -?nis, f. = die Schadloshaltung), bezeichnet die Freistellung von strafrechtlicher (u. U. auch zivilrechtlicher) Verfolgung]. Sie berieten unter dem Schlagwort: „Diese Versammlung will das Wohl Aller und jedes Einzelnen.“ Man stellte Anträge auf Abschaffung der Leibeigenschaft, der Prügelstrafe; der Folter; man beriet die Grundlinien einer Verfassung — leider machte der Krieg all diesen schönen Träumen ein Ende. Wieder nach fünfzig Jahren plante Napoleon in den eisigen Schrecken Moskaus eine verfassungsmäßige Regierung für Russland und nur kurze Zeit hierauf suchten — abermals erfolglos — die Minister Alexanders I., Adam Czartoryski, Novossiltsow und Strogonow, eine Konstitution „nach den Principien und den Herzenswünschen Katharinas II.“ zu entwerfen.

In neuerer Zeit war nur einer von den Nachfolgern des ersten Alexander mit ähnlichen Plänen beschäftigt — Alexander II.
Dieser Monarch, der Russland unleugbar eine große Strecke auf der Bahn des Forsschrittes vorwärts führte, die Leibeigenschaft aufhob, eine Justizreform einführte, welche das Gerichtswesen auf eine moderne Grundlage hob, hat nur Undank für seine Bestrebungen geerntet. Das Monument, das man ihm im Kreml, wo er geboren wurde, aufrichtet, bleibt — nicht zur Ehre des Landes — unvollendet; auch die Kirche, die bestimmt ist, den Platz zu weihen, wo die Mörderhand den unglücklichen Fürsten traf, steigt in ihrem engen Gerüste nur langsam in die Höhe. In der Bauhütte, die auf dem Boden eines abgelenkten Newaarmes steht, scheinen sich die Arbeiter für ewige Zeiten einrichten zu wollen. Alexander II, der jahrelang in Russland eine ähnliche Beurteilung in offiziellen Kreisen erfahren hat wie in Österreich der Volkskaiser Joseph bei den Finsterlingen, ist auch bei den Liberalen seines Volkes nicht populär. Man wirst ihm die Leichtigkeit, mit der er sich durch oberflächliche Ratgeber wie Ignatiew in den Krieg treiben ließ, ebensoheftig wie das unstete seines Charakters vor, das ihn — er ähnelt darin seinem Oheim, dem ersten Alexander — aus einem Äußersten in das andere führte. Jener begann als Schüler [Frédéric-César de la Harpe (*6. April 1754; † 30. März)] eines französischen Revolutionärs, zum Teile in dessen freisinnigen Auffassungen — vor seinem Lebensende war er mit Metternichs Hilfe zu einem eigenwilligen Gewalthaber herabgesunken, der ganz in den Händen des verhassten Volksfeindes Araktschejew [Alexej Andrejewitsch Graf, russischer General und Politiker, *4. 10. 1769, †3. 5. 1834; errichtete als enger Vertrauter Alexanders I. seit 1817 einen brutalen Militärdespotismus.] lag. Sehr zu seinem Schaden machte Alexander II. ähnliche Schwankungen durch; sein grausamer Versuch, die geistige Strömung des Landes einzudämmen. Schuf den erschreckend revolutionären Dilettantismus der Nihilisten. Er führte einen gewaltigen Umschwung in den Auffassungen des Kaisers herbei.

Im Winterpalais sind seine Wohngemächer in ihrer vornehmen Einfachheit unverändert erhalten, in seinem Arbeitszimmer wurde kein Möbelstück von der Stelle gerückt, an der es am letzten Lebenstage des Zars stand. Stil und Charakter der Einrichtung blieben völlig unberührt: die Farben der Tapete, hoffnungsvoll grün, Tische, Stühle von Mahagoniholz, an den Wänden Bilder der europäischen Potentaten, das Porträt des Kaisers Franz Ioseph in russischer Uniform zu ihren Häupten — eine der wenigen österreichischen Erinnerungen, denen man in den Petersburger Schlössern begegnet. Auch auf dem Schreibtische herrscht die alte Ordnung, nur gestört durch einige feine Batist-Taschentücher, die starke Blutflecken zeigen, wie das Bett dicht neben der Arbeitsstätte des Kaisers, auf dem er sein Leben aushauchte. Von dieser Stelle fällt der Blick unwillkürlich auf die alten, auf dem Schreibtische ruhenden Notizblätter, Federn, Stifte, Briefbeschwerer und grauen Mappen, in denen Alexander die wichtigsten Regierungsakte aufzubewahren pflegte. In einer von ihnen lag der Entwurf der Verfassung für Russland. Der Blick des Kaisers ruhte auf ihm, ehe er in den Tod ging. Mit ihm war auch dies Werk verloren.

Der Verfassungsentwurf Alexanders II. ist seinem Inhalte nach außerhalb Russlands nicht gekannt, auch hier spricht man nicht viel von demselben und seinem eigentlichen Urheber, dem Minister Loris-Melikow. Außer von der Partei des Rückschrittes wird der Gedanke, Russland zu einem verfassungsmäßigen Staate umzugestalten, von vielen gebildeten und patriotischen Staatsmännern bekämpft, die aus den gegenwärtigen Zerrbildern der parlamentarischen Verhältnisse einzelner westeuropäischer Länder die schärfste Opposition gegen eine Repräsentativ-Verfassung in Russland und die politischen Auffassungen der modernen Welt ableiten. Alexander II. hatte nicht die Absicht, die Grenzen des Parlamentarismus zu weit zu ziehen.

„Es lohnt vielleicht nicht,“ sagte mir Graf Tolstoi; einer der Wenigen, die Kenntnis von dem Entwurfe erhielten, „allzu eifrig nach dem Inhalte zu forschen. Die Verfassung, die man damals plante, sollte eine parlamentarische Beratung nur von Fall zu Fall, nur wenn dies in dem Belieben der Regierung lag, ermöglichen; auch das Wahlrecht war beschränkt wie das Beratungsrecht; wie sollte man dabei viel gewinnen?“

Loris-Melikow beabsichtigte wirklich nicht viel mehr, er dachte nur einen Schritt nach links zu thun.

„Seine Lage war eine ungemein Schwierige,“ erzählt einer seiner Vertrauensmänner. „Er strebte deshalb nur ängstlich und tastend nach seinem Ziele. Wenn wir ihn drängten, pflegte er abwehrend zu sagen: „Laßt mich machen, vertraut mir. Vergesst nicht, dass ich kein geborener Russe bin und dass ich deshalb nicht so energisch vorgehen kann, als ich möchte.“ Loris-Melikow knüpfte nach dem Beispiele der Ratgeber. Alexanders I. an die Vergangenheit an. Was er wollte, war ein großes erweitertes „Semstwo“.“ [Landstand oder Landschaftsvertretung und bezeichnet lokale Selbstverwaltungeinheiten] In Russland sind starke Grundlagen für eine repräsentative Verfassung. Das Dorf hat sein „Mir“, das sich ganz parlamentarisch verwaltet, die Städte haben ein Selfgovernment und wieder ihre Beratungskörper; die Provinz, der Kreis haben ihre Semstwos, nur dem Gesamtgebiete des Staates fehlt die Möglichkeit zur Äußerung eines Volkswunsches. Loris-Melikow wollte ein Semstwo für das Reich. Die Wahl für dasselbe sollte unter ähnlichen Bedingungen geschehen wie für die Kreisvertretungen, die wir besitzen; einzelne von diesen hatten nur Vertreter zu dem Centrum zu entsenden in ähnlicher Art, wie dies die ersten Verfassungsverfügungen Schmerlings normierten — nach österreichischem Muster also, das man hier häufiger in der Gesetzgebung nachahmt als das deutsche und französische. Dort, wo Semstwos nicht bestanden, würde bis zur Schaffung eines neuen Wahlrechtes die Regierung die Deputierten bestimmt, haben, sie konnte auch sonst durch Ernennungen von Abgeordneten ihre Position sichern. Was in den Kreis der Beratung dieser Körperschaften zu ziehen sei, hatte das Ministerium festzustellen; natürlich dachte man zunächst an eine Vorberatung der Gesetze, die jetzt an den Staatsrat gelangen. Alle diese Absichten machte der Tod Alexanders II. zunichte. Man glaubte damals vor weiteren Gefahren zu stehen. Den Truppenleitern, die man beim Regierungswechsel in Eid nahm, wurde bedeutet, daß, falls auch Alexander III. von dem Schicksale seines Vaters ereilt würde, sein jüngerer Bruder Wladimir als Vormund des Thronfolgers die Regierung weiterführen werde, und daß ihm zu gehorchen sei. In solchen Stimmungen mussten die konstitutionellen Pläne untergehen. Man wusste sehr bald, woran man sei. Eines Abends erschien Aksakow im Vorstande des Slavischen Vereines, dessen Präsident heute General Ignatiew, der Minister von damals, ist. Aksakow hielt eine Rede über Russland. Was er forderte, war Besserung der Verwaltung, Kampf gegen die Korruption, aber auch Kampf gegen die modern-politischen Schlagworte einer falschen Freiheit und einer staatsgefährlichen Parlamentsmacht. „Wir wollen keinen Parlamentarismus!“ rief er heftig, „brächte man ihn zu uns, unsere braven Dworniks [Hausportiere] würden ihn mit ihren Hausbesen herauskehren!“ Man kannte nach diesen Worten die neue Richtung des neuen Herren, der ihr zeitlebens streng, hart und rücksichtslos treu blieb“........

Seither ist eine geraume Zeit verstrichen. Alexander III. ist tot, Nikolaus II. ist sein Nachfolger.

„Es wird sich nicht viel ändern unter ihm,“ hört man hier vielfach sagen. Das scheint in Bezug auf die Verfassungsfrage richtig zu sein — im übrigen ist eine teilweise Wandlung doch erfolgt: das Regierungssystem ist milder und gerechter, das Wort ist freier, manche Schranke fällt, die Meinung regt sich selbstbewußter, ein Frühlingshauch zieht durch das Land, ein neuer Geist regt seine Schwingen — sehen und hören wir, ob er siegreich bleiben wird.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland - Momentaufnahmen