Die Zarenfamilie. — Nikolaus II.

Wie über Russland selbst herrschen jenseits der Grenzen dieses gewaltigen Reiches, dessen Ausdehnung Humboldt mit der des sichtbaren Teiles der Mondfläche verglich, auch über die Männer, die hier maßgebenden Einfluss ausüben, nicht die richtigen Voraussetzungen. Schon in den ersten Stunden eines Aufenthaltes in Petersburg wird dies bezüglich einer Person auffallend merkbar. Dies ist Nikolaus I., dessen Auffassungen allerdings in starken Abschwächungen und Umformungen noch heute für das kaiserliche Haus maßgebend sind, und dessen hundertjähriges Geburtsfest man eben besonders festlich beging. Man hat ihn häufig als einen „Don Quixote der Reaktion“ dargestellt. Das ist er nicht. Dieser Zögling der Schule Metternichs, der ihrer Frivolität, ihrer Selbstsucht und ihrer Leichtfertigkeit durchaus fernblieb, der das Legitimitäts-Prinzip ernst und das Gottesgnadentum für etwas Selbstverständliches nahm, das den Herrschern hohe und schwere Pflichten auferlegt, hatte neben seiner naiven Überzeugung, daß es einem Menschen von der Höhe des Thrones möglich sei, die Gedankenwelt Europas zu beherrschen, zu regeln und nach Belieben zu formen — auch edlere Züge. Dadurch wird es erklärlich, daß dieser starre Absolutist, dieser Nero honetter Art, wirklich nicht mehr leben wollte, als er sein System und den Glauben an die Richtigkeit seiner Überzeugungen jäh zusammenbrechen sah. Ob er Gift genommen, wie das Volk behauptet, ob er wie die Heldin des bekannten französischen Dramas sich freiwillig der eisigen Luft des Winters aussetzte, um seine angegriffene Lunge vollends zu zerstören, ist für die Beurteilung seines Charakters ohne Belang. Er starb wie der Held einer Tragödie, der die Irrtümer seines Lebens mit dem Tode sühnt. Man beurteilt ihn deshalb jetzt nachsichtiger als zur Zeit, da die Erinnerung an seine Regierungssünden lebendiger war. Man rühmt ihm seine Vaterlandsliebe nach, die ihn häufig mit seinem für Sklaven und nicht für Menschen geschaffenen System in starke Widersprüche brachte. Eine der Folgen derselben war, daß ihm, dem Bildungsfeinde, Russland eine große Kulturförderung dankt. Er hat aus Furcht vor republikanischen Wendungen der alten Klassiker diese und ihre Sprache brutal aus der Studienordnung gestrichen, aber derselbe Fürst hat Petersburg nicht weniger schaffen helfen, als Peter I. und Katharina II., ja das heutige europäische Bild der Stadt ist sein eigentliches Werk — sein Werk auch die Erhöhung der Bedeutung ihrer prachtvollen Sammlungen, mit denen er, der Finsterling, wie mit zahlreichen ähnlichen Institutionen, dem Bildungsbedürfnisse in Russland außerordentlich Vorschub geleistet hat. Genau so hat sich sein Verhältnis zu der damaligen aufstrebenden Literatur gestaltet. Er liebte das gedruckte Wort nicht — auch den Geist nicht, der ihm innewohnte, aber er fühlte sich zu den Schriftstellern hingezogen, deren Erfolg die Bedeutung Russlands nach außen heben half. Er fürchtete Puschkin und förderte ihn, er war erbittert über die satirische Kühnheit Gogols, und doch schützte er ihn vor der Gewaltherrschaft der Zensur. Von solchen Auffassungen geleitet, wählte er seinem Sohne, dem nachmaligen Alexander II, den Erzieher und Lehrer. Er verwarf die Kandidatur eines Generals und Höflings, die man ihm vorgeschlagen, und erhob einen Dichter der romantischen Schule, Schukowski, zu diesem Amte. Dieser hatte die Aufmerksamkeit des Kaisers auf sich gezogen, als er die Geburt des Thronfolgers mit einem Gedichte feierte. „Sei ein Mensch,“ lautete dessen Schlußwort, „und du wirst auf deiner Höhe stehen!“ Man erinnert sich noch wie in Österreich ein ähnliches Wort, bei ähnlichem Anlasse gesprochen, für den Poeten Grillparzer viel weniger glückliche Folgen hatte, als dieser Zuruf in der rauhen Luft des Nordens und am Hofe eines der absolutesten Monarchen, die je das Szepter führten.

Den schönen menschlichen Zug, für den ein feingebildeter Erzieher seinen Zögling in der Folge zu begeistern wusste, hat dieser auf dem Throne bewahrt. Alexander II. war der letzte der Zaren, die eine unmittelbare Berührung mit dem Volke liebten. Auf dem Newski-Prospekt, auf den breiten Brücken, die über die Newa-Arme zu dem Zauber der reizenden Inseln führen, welche den Anziehungspunkt des reichen und vornehmen Petersburg bilden. Sah man ihn häufig zu Fuß, gefolgt von einem riesigen Bernhardiner, leutselig den Gruß der Vorübergehenden erwidern. Dies Bild eines patriarchalischen Herrschers mit bürgerlich-biederen Zügen ist mit ihm entschwunden. Der Sohn liebte die ängstlichste Zurückgezogenheit; für das Volk gab es keine Audienzen mehr; es war nicht möglich, in seine Nähe zu gelangen; fuhr er aus, so waren die umfassendsten Vorsichtsmaßregeln getroffen; sein Wagen, von einer schützenden Garde umgeben, raste über das Pflaster — hastig, pfeilschnell, als jagte das Unglück hinter ihm. Den Winterpalast, in dessen Keller die Minen der Nihilisten [Angehörige einer revolutionären Bewegung] gedrungen waren, mied er mit erklärlicher Scheu; er blieb in dem roten, bescheiden zu den goldigen Kuppeln der benachbarten Alexanderkirche aufblickenden Hause, das seit einem Jahrhundert den Thronfolgern zugewiesen ist, nachdem es früher die Kaiserin Elisabeth für den Grafen Rasumowski [Graf Alexei Grigorjewitsch Rasumowski (1709-1771) Sohn eines Kosaken, war russischer Feldmarschall und Liebhaber von Kaiserin Elisabeth Petrowna (1709-1762). 1744 wurde er durch Kaiser Karl VII. (1697-1745) zum deutschen Reichsgrafen ernannt.] erbaut hatte, dessen Sohn durch seine rührige Agitation gegen Napoleon I. in die Weltgeschicke eingriff.
Vor der langen Zeile des Anitschkow-Palais, dessen Fenster nun dicht verhängt, wie blind, in den Newski-Prospekt hineinstarren, kommt mir ein Gespräch mit dem Grafen Andrássy in Erinnerung, das ich vor Jahren, kurz vor dessen Tode, mit diesem führte.


„Alexander III.,“ meinte der ehemalige österreichische Minister des Äußeren, „ist oft in falschem Lichte erschienen. Ich hatte Gelegenheit, seine Charakterzüge zu studieren, ich sah ihn wiederholt, gewiss auf die seltsamste Weise nach einem Hoffeste, wo vor dem Vestibüle im Schlosse große Unordnung bei der Zufahrt der Wagen herrichte. Der Zar, damals noch Kronprinz, der ein wenig ungeduldig ins Freie getreten war, geriet in eine Wagenburg, statt zu seiner Equipage. Ich las in seinen Zügen, wie peinlich ihm diese Situation Sei. Ich trat vor ihn. „Hoheit,“ tagte ich ihm, „ich werde Ihnen Ihren Wagen schaffen.“ Das tat ich auch zu seiner Freude. Einen Tag später hatten wir ein Gespräch. Der Kronprinz gab sich offener als sonst. Ich gewann die Überzeugung, daß er ein Mann starken Willens sei, aber ich glaubte sicher schließen zu dürfen, daß man von ihm keine kriegerische Überraschung zu erwarten hätte, auch wenn man ihn drängen wollte, der Welt eine solche zu bereiten. Er war eine durchaus friedliebe Natur, die ernste Komplikationen fürchtete. Er hatte offenbar genug an den Greueln des Krieges, den er mitgemacht und dessen Erscheinungen ihm als gutem Familienvater ein wahres Entsetzen eingeflößt hatten. Man hielt ihn für apathisch; das war er nicht; sein Charakter entbehrte nicht einer gewissen Lebendigkeit, aber wenn ich entscheiden sollte, welcher Sinn in ihm am meisten entwickelt war, so würde ich sagen, es war der Familiensinn.“

Die Richtigkeit der Hauptzüge dieser Zeichnung bestätigen hier Personen, die in der Umgebung Alexanders III. gewirkt. Er war in der Tat durch die Folgen des letzten türkischen Krieges dermaßen abgeschreckt, daß sein Regierungssystem hierdurch wesentlich beeinflusst war. Er war noch durch ein zweites Furchtgefühl bestimmt — durch das, welches die Nihilisten in ihm weckten. Das Auftreten derselben, die Ursachen ihrer Macht beurteilte er nicht mit staatsmännischem Auge, es war ihm nicht gegeben, die Dinge von einem höheren Standpunkte zu betrachten. Schon die Entwicklung, die sein Geist genommen, hinderte ihn daran; Alexander II., dem sein Vater Nikolaus einen so trefflichen Berater der Jugend gab, hatte die Heranbildung seines jüngeren Sohnes, des späteren Zars, viel weniger ernst genommen, als die des Erstgeborenen. All seine Liebe, all seine Fürsorge galt diesem Frühverstorbenen, dessen Bild noch heute überall in der Wohnung des ermordeten Kaisers an bevorzugter Stelle hängt. Der zweite Sohn, Alexander, in seiner Jugend vielfach zurückgesetzt, und wegen seiner geringen Befähigung weniger als der begabte Bruder geschätzt. Schien selbst durchaus nicht gewillt, eine höhere Stufe der Bildung zu gewinnen. „Lasst mich in Ruhe,“ bat er lachend „ich hab's nicht nötig, ich werde doch nicht regieren müssen.“

Das Schicksal hat es anders gewollt. Der lernscheue Großfürst stieg die Stufen des Thrones empor.

Er zeigte hier das Bestreben, seinen Mann zu stellen.

Seine Regierung hatte drei Phasen: in der ersten gebot die Furcht vor dem Nihilismus Vorsicht, in der zweiten, wo man größere Sicherheit fühlte, war die Reaktion am stärksten, in der dritten, wo die Schrecken der Hungersnot die Schwächen dieses. Systems enthüllten, begann eine Reaktion von unten gegen die von oben. In all diesen Zeitläufen ist sich der Zar treu geblieben, er wußte, daß der Stellung des autokratischen Zars vielfach enge Grenzen gezogen sind, er kannte ein spitzes, treffendes Wort des ihm so wenig Sympathischen Battenbergers: „Der kleinste deutsche Fürst vermag mehr in seinem Kreise, als der russische Kaiser in dem seinen.“ Er fühlte wohl, wie aus den Bräuchen, die zur Zeit launenhafter und doch leicht lenkbarer Fürstinnen herrschten, sich nach und nach eine Tradition der kaiserlichen Umgebung gebildet hatte, die auch gegen den fürstlichen Willen regierte. „Der Kaiser kann bei uns,“ hörte ich hier sagen, „viel Gutes tun, aber er kann ungleich weniger, als die Welt glaubt.“ Der Zar in Russland ist der Inbegriff der Macht, diese selbst besitzt er nicht, sie ist in den Händen Anderer. In seiner Gottähnlichkeit erinnert er auch darin an das höchste Wesen, daß die, welche ihn am meisten anzubeten scheinen, sich die Attribute seiner Gewalt aneignen. Einem solchen Zustande entgegenzuwirken, arbeitete Alexander III. mit der ganzen Zähigkeit seiner Natur. Ihm fehlte Talent oder Genie seiner großen Vorgänger, deren Eingebungen dem Reiche den Stempel ihrer geistigen Bedeutung aufdrückten — für die Erweiterung der persönlichen Macht des Zars hat er so energisch wie sie gewirkt. Er bekämpfte jeden Einfluß, den er neben sich zu fühlen begann, ob dieser von einem Minister, von einem Mitgliede feiner Familie, ob er von seiner Frau kam, welcher er ein so treuer Gatte war. Natürlich fand das Walten eines so starken persönlichen Übergewichtes, das jeden Widerstand vernichtete, in dem autokratischen Russland Seine Anhänger. Die Liberalen aber, die sehr zahlreich sind und die Gedankenströmungen im Reiche kräftig beeinflussen, haben für den verstorbenen Zar nur ein abfälliges Urteil; während die Kirche, die Konservativen, die Franzosen Seinen Sarkophag in der Peter- und Pauls-Kathedrale mit zahllosen Erinnerungszeichen schmücken, gegen die alles verschwindet, was auf den Nachbargräbern fromme Pietät gestiftet hat, verurteilen sie die Negierung Alexanders III. auf das schärfste.

„Er hat,“ erklärte mir einer ihrer hervorragendsten Vertreter, „seinem Sohne ein schlechtes Erbe hinterlassen, denn alle besseren Prinzipien unserer Gesetzgebung und unserer Verwaltungsgrundlage wurden durch ihn vernichtet; er beschränkte die Rechte des Reichs- und Staatsrates, ja selbst die herkömmliche Macht der Minister; er stimmte regelmäßig, unbekümmert um die Entscheidungen und Ansichten des Regierungskonseils, mit demjenigen seiner Räte, der die reaktionärste Forderung erhob; auch wenn nur ein Minister in diesem Sinne gegen alle anderen Kollegen stand, trat der Kaiser auf seine Seite und entschied hierdurch zu seinen Gunsten; er hat der Justiz in politischen Dingen das Öffentlichkeitsrecht, das sie bereits besaß, genommen; die Folge war, daß die Kerker sich mit politischen Verbrechern bevölkerten; er hat, weil er unablässig Furcht und Schrecken fühlte, beides dem Volke einstoßen wollen; er hat mich in der äußern Politik rücksichtslos seinen Eingebungen und persönlichen Stimmungen nachgegeben; das zeigte er nicht nur den Bulgaren gegenüber, auch zu dem populären französischen Bündnisse griff er erst, nachdem ihn der Kampf Deutschlands gegen die russischen Werte durch die Zeit und die Form, in der er geführt wurde, in seinen persönlichen Empfindungen tief verletzt hatte; er hat der Kirche die nach russischer Auffassung ganz falsche Stellung einer kriegerischen Macht gewinnen wollen.

Der „fromme General“ in Russland ist eine Schöpfung Alexanders III.; in Moskau haben jüngst die Truppen es als ein Glück empfunden, daß der bekannteste von diesen messe- und weihrauchsüchtigen Offizieren, Apostol Kostanda, von seiner hohen Stelle durch die Ernennung des Großfürsten Sergius zum Kommandierenden entfernt wurde. Man hat Alexander III. im Auslande den Friedensfürsten genannt — in Wahrheit hatte er Krieg mit aller Welt: Krieg mit den Bulgaren, Krieg mit den Liberalen und der Presse, Krieg mit den Deutschen in den baltischen Provinzen, Krieg mit den Polen, Protestanten und Juden, Krieg mit dem Andenken seines Vaters, dem er schon bei Lebzeiten unfreundlich gegenüberstand, Krieg mit der Schule, die er künstlich und mit allen Mitteln herabzudrücken suchte, — zuguterletzt den Zollkrieg, der als eine Gefahr für unsere materiellen Verhältnisse auflebte. Von all seinen Kämpfen hat die öffentliche Meinung nur Einen mit Sympathien begleitet, den, welchen er gegen die Korruption geführt. Ehrlich und voll Begeisterung für anständige Moralprinzipien tönte ihm fortwährend ein Wort seines Vaters im Ohre. ,Weißt du', hat ihm dieser während des Krieges, angeekelt von dem Treiben der Lieferanten und der Generale, gesagt, ,daß ich fürchte, wir zwei sind hier die einzigen ehrlichen Leute!' Er begann, in Erinnerung daran, die energischsten Schritte gegen das Erbübel der russischen Verwaltung; da er aber häufig sich von persönlichen Stimmungen ,für die politisch Verlässlichen' beherrschen ließ, ist er der Krankheit nicht Herr geworden. Sie wucherte ist seiner nächsten Nähe. Nach seinem Tode war man genötigt, einen seiner Ratgeber, den Minister Kriwoschem, zu entlassen, weil seine Hände nicht rein und schon bereit waren, in Russland ein Panamino zu schaffen. Es war nur natürlich, daß die Reihen der Bewunderer Alexanders III. sich immer mehr lichteten. Intime Kreise wissen von einem Briefe Aksakows, desselben, der als Mitarbeiter Alexanders in. den Parlamentarismus in Russland zunichte machte, indem er ihn als das Vorspiel der Kommune erklärte. „Ich habe mich getäuscht in Alexander III.,“ schrieb dieser Aksakow unmittelbar vor Seinem Tode einem Freunde. „Er hat unsere Verwaltung verdorben, die Schule in ihren Keimen bedroht, er hat Russland um fünfzig Jahre zurückgeworfen.“

Wie das Reich auf die Dauer dieses System ertragen hätte, darüber gehen die Meinungen stark auseinander, genug an dem, daß Alexander III. nicht fähig war, es zu ändern. Er konnte, wie sein Großvater, vom Platze weichen, nicht nachgeben. Der Tod ersparte ihm, hierüber schlüssig zu werden. Das Ereignis kam unerwartet. Man hielt seine kräftige Natur für widerstandsfähiger, er hatte sein Übel durch Übertreibung einer Bewegungskur verschärft. Wie alle Menschen seiner durch politische Verurteile beschränkten Denkweise ein Gegner ärztlichen Rates, hatte er, sehr zu seinem Schaden, „die Mediziner“ sich fern gehalten, so lange dies irgend möglich war. Ein kleiner Marinedoktor machte während eines Aufenthaltes des Kaisers in Finnland auf die Natur seines Leidens aufmerksam. Es war zu spät. Sein Sohn Nikolaus, der eben der Härte und Strenge einer nach veralteten und simplen Auffassungen geleiteten Erziehung entzogen wurde, mußte den Thron besteigen. Man hatte ihm erst kurz vorher gestattet, im Umgange mit Offizieren „Kameraden“ zu suchen und in einem rückhaltlosen Zusammensein mit ihnen die Freuden der Jugend zu genießen.

Nikolaus II. ist in seinem Äußern wie in seinem Wesen stark unterschieden von seinem Vater; allerdings seine bleichen Gesichtszüge erinnern an Alexander III., aber sie sind in eine freundliche Gutmütigkeit umgeprägt, ihr Ausdruck ist ein gewinnender. Der Vater war robust, der Sohn ist schmächtig, klein wie die Mutter; der Vater blickte scheu, das Auge des Sohnes sieht frei und offen in die Welt; der Vater legte sein Gesicht — der Öffentlichkeit gegenüber — regelmäßig in düster-ernste Falten, Nikolaus II. ist freundlich, ein fast kindliches Lächeln umspielt seine Lippen. Das Mahnwort, das Alexander II. begleitete, stets menschlicher Empfindungen eingedenk zu bleiben, umschwebt auch ihn, er liebt offenbar die ernste, stolze Attitüde nicht, die ihm Zeremoniell und Etikette aufnötigen. Man erzählt, er hätte den Vater gebeten, ihn ganz seinen Neigungen leben und das Glück stiller Zurückgezogenheit fern vom Throne genießen zu lassen. Das ist ein Märchen; es ist auch unwahr, daß er dem Militär abhold ist. Am russischen Hofe gilt in dieser Richtung die Tradition, die einer seiner ersten Fürsten begründen half. Dieser erschien am liebsten im Kreise „Seiner Krieger“. Eines Tages beklagten dieselben, daß man sie mit Holzbesteck und nicht mit Silber speisen lasse wie die Höflinge.

„Ihr sollt Silber und Gold haben, Jungens,“ rief der Zar, „denn mit Soldaten kann man beides, für Gold und Silber nicht immer Soldaten haben!“

Der junge Zar betätigt unausgesetzt seine Vorliebe für das Militär, er ist mehr für die Schauspiele der Armee, für Revuen, Paraden, Lagerbesuche eingenommen als sein Vater, dem jede Repräsentation und jede vorgezeichnete Arbeit in die Seele verhaßt gewesen. Der Sohn ist gewissenhafter, voll Pflichttreue, er liest alle Aktenstücke, erledigt alles pünktlich, hört seine Räte, so oft es nötig erscheint; an genügendem Fleiße hat er es bisher gewiß nicht fehlen lassen. Im übrigen herrscht über ihn, seine Auffassung und Denkrichtung das größte Geheimnis. Der junge Zar ist das Rätsel Russlands. Wie wird er sich entwickeln? Von Natur zurückhaltend, ist er es jetzt noch mehr. Er spricht auffallend wenig, seine Antworten, meist in unverfängliche Worte gekleidet, beschränken sich auf das Allernotwendigste; die Mauer, die zur Zeit Alexanders III. zwischen Zar und Volk aufgestiegen war, besteht noch; einen Augenblick konnte man glauben, der neue Heer wolle sie durchbrechen; man hatte ihn offenbar rasch überzeugt, daß dies nicht wohlgetan sei. Die alte Gewohnheit blieb aufrecht. Er läßt seine Minister walten, fast nie durchkreuzt er ihre Entscheidungen.

„Ich fühle die Unerfahrenheit meiner Jugend,“ meinte er bescheiden zu seiner Umgebung, „ich will nicht vorgreifen.“

Er zeigt sichtlich das Bemühen, nicht in den Fehler zu geraten, der andere Monarchen erprobte Ratgeber rasch entfernen ließ; er war genötigt, manchen der Wege Alexanders III. zu verlassen, dessen Ministern wie seinem Andenken bezeigt er ostentativ fast übereifrig die höchste Achtung.

„So war es unter dem seligen Kaiser!“

Das ist eine Zauberformel derer, welche die alte Richtung vollständig erhalten wollen.

Der Kaiser ist voll Liebe für seine Mutter. Auch sie ist streng konservativ, das erwähnte Zauberwort fällt häufig von ihren Lippen, und den Eindruck desselben verstärkt der Ton der Mutterliebe. Zweifellos, die Kaiserin-Witwe hat heute mehr Einfluß als zur Zeit, da ihr Gatte lebte. Wie lange diese Macht währen wird — das ist die zweite Frage, die sich das politische Russland stellt.

Jedenfalls beginnen scharfblickende Augen schon das Keimen der Gegensätze zweier Höfe zu erkennen. Der Hof von gestern steht nicht neben dem von heute, er steht ihm gegenüber. Zu beiden drängen Ehrgeizige, Stellensüchtige, Minister, Diplomaten — dennoch zeigt der jüngere den frischeren Glanz; er ist voll Frühlingsstimmung, voll frohgemuter Hoffnung — der alte Hof ist ernst, trocken, von grauen Tönen des Herbstes berührt; dem jungen fehlt vorläufig noch die nagende Langweile der vernehmen Welt. Der Kaiser liebt seine Frau. Inmitten eines Glanzes, der förmlich bestimmt scheint, alle wahren und warmen Empfindungen zu dämpfen, herabzudrücken und zu fälschen, hat er sich die volle Herzensneigung für seine schöne Lebensgefährtin erhalten. Ein echter Gemütszug beherrscht die nächste Umgebung des Zars. Man hört vorläufig nicht, daß die Kaiserin politischen Einfluß übe. Sie ist eine Deutsche und hat viele Vorurteile zu besiegen. Gatte und Gattin sind jedoch viel — fast unausgesetzt beisammen. Man sieht die Kaiserin selbst im Arbeitskabinett ihres Gemahls, sie stickt lautlos, um ihn nicht zu stören, und bleibt still in seiner Nähe. Öfters kommen die Minister. Die Kaiserin will sich erheben.

„Bleib' doch, Sascha. Du störst uns nicht.“

Die Kaiserin stickt ruhig weiter, während die Excellenz Vortrag hält.

Nikolaus IL hat bisher nur im mildesten Sinne seiner Herrscherpflicht genügt. Den Verweis, den er der Deputation des Semstwo von Twer [Semstwo oder auch Zemstvo bedeutet Landstand oder Landschaftsvertretung und bezeichnet lokale Selbstverwaltungseinheiten auf Kreis- und Gouvernementebene, die 1864 im Zuge liberaler Reformen im damaligen Kaiserreich Russland eingeführt wurden] erteilt, war nur souffliert. Man hatte irrtümlich eine „Umsturzadresse“ von demselben erwartet. Die Rede des Kaisers und der huldigenden Eheleute stimmten durchaus nicht zusammen. Soweit die Etikette dies gestattet, hat der Kaiser den Irrtum gutgemacht. Es liegt nicht in seinem Naturell, die Peitsche zu schwingen und Drohworte auszustoßen. Er hat auch den Bittstellern die Möglichkeit, sich dem Throne zu nähern, erleichtert. Die zahllosen Glückwünsche, die er zu seiner Thronbesteigung erhielt, beantwortete er persönlich; einzelne derselben enthielten Verschläge, Regierungsprogramme, die gegen die bisher herrschende Richtung polemisierten.

„Welche Kühnheit!“ meinte man in der Umgebung des Zars.

„Man lasse die Leute,“ erwiderte dieser, „ich will nicht, daß Sie behindert werden.“

Ähnlich pflegt er hie und da auch seine Minister zu beeinflussen. „Über diesen Vorfall soll man mir in Zukunft berichten, wenn neue Entscheidungen nötig werden“, oder: „Darüber will ich alles lesen“; solch ein Befehl genügt, um ein feindseliges Vorgehen gegen diese und jene Person hintanzuhalten. Der Kaiser sucht sich über alles zu orientieren, er liest die Petersburger Zeitungen; dadurch ist er besser unterrichtet, als sein Vater es war, obwohl der russische Brauch, viele Fragen der öffentlichen Diskussion vollständig zu entrücken, manches Wissenswerte seinem Auge entzieht. So war es — anfangs wenigstens — nach dem Unglücke auf dem Chodinkafelde. Der Kaiser zeigte sich damals nachgiebig; gegen seine Auffassung gestattete er die Fortdauer der Festlichleiten; schließlich hat er doch der persönlichen Stimmung Ausdruck gegeben; er lehnte alle Ordensverleihungen, alle Beförderungen aus Anlaß der Krönungsfeste ab. Das traf nicht nur einen der indirekten Urheber der Katastrophe, den Polizeimeister Wlassowski, sondern auch den Bürgermeister von Moskau, die Würdenträger dieser Stadt und zahlreiche Privatpersonen; Selbst ein Dankbrief des Kaisers an den Großfürsten Sergius, den Gouverneur, der bereits ausgefertigt und den Amtsblättern zur Veröffentlichung zugestellt war, wurde, wie Eingeweihte wissen, durch telephonischen Befehl im letzten Augenblicke unterdrückt.

Nikolaus II. ist eine stille Natur. Er macht nicht viel Worte, dankt mit einem Lächeln, mit einem freundlichen Winke, mit einem Händedrucke. Gelang es wirklich, ihn anzuregen, dann öffnet sich sein Auge groß und voll, und über seinen gelblichen Teint stiegt ein rosiger Hauch. Er ist am dankbarsten für intimere Genüsse; davon wissen die rassischen Maler zu erzählen, deren Riesenbilder auf gewaltigen Staffeleien in die Pracht des Winterpalastes gerollt werden, wo der Kaiser lange bewundernd vor ihnen weilt. Er genießt ihren Reiz schweigend, seine Empfindungen kommen gedämpft und mit leiser Stimme zum Ausdrucke. Das Hofleben hat wenig Reiz für ihn. Er fühlte sich am glücklichsten, wenn er als Kronprinz in Dänemark auf den königlichen Schlössern wohnen durfte, wo der zukünftige Zar wie ein Student aus wohlhabender Familie in engem Raume einquartiert war. Eine chinesische Blende verdeckte das Bett, Arbeits-Schlaf-. Ankleide- und Empfangszimmer waren in ein Gemach gedrängt — aber sein Bewohner durfte in herrlicher Natur die Freiheit genießen, als ein Mensch unter Menschen heiteres Leben atmen.

Die Kaiserfamilie liebte seit jeher bürgerliche Zurückgezogenheit. Der russische Zug mit seiner Schwärmerei für einfach ländliches Wesen berührte auch sie. In Peterhof, dem Versailles der Zaren, gibt es vornehme Schlösser, der Hof meidet sie, er zieht die kleinen Cottages vor, von deren Schwelle jeder Zwang gebannt ist. Ihr Speisezimmer hat nur Raum für sechs bis acht Personen; kommen Gäste, dann öffnen sich die prächtigen Schlosssäle, vor deren Fenstern goldige Tritonen [Wassergötter mit menschlichen Leibern und Fischschwänzen] und Götterfiguren im Stile Ludwigs XIV. mit überraschenden Wasserkünsten Spielen. Sonst sind hier zur schönen Sommerzeit alle Sporte lebendig. Ein hübsches für den Kaiser gefertigtes Bild zeigt seine Schwestern, die das Fahrrad meistern; der Zar selbst hat das Veloziped nie gemocht, er spielt mit Vorliebe hinter dichten aus Stäben geformten und von jungem Grün umsponnenen Wänden Lawn-Tennis. In so froher Umgebung wandelt sich sein Wesen, der junge Offizier, der nichts — auch kein beobachtendes Auge — fürchtet, wird lebendig und alle Erinnerung an Bürde und Würde der Krone ist abgestreift. Die Einsamkeit, in der dies allein möglich scheint, sucht der Kaiser, so oft dies angeht. Auf der Fahrt zu der Ausstellung nach Nischninowgorod [Nischni Nowgorod, 1932 bis 1990 Gorki, liegt an der Einmündung der Oka in die Wolga] erweckte im Hofwaggon der Knopf, den man drückt, um das Notsignal zu geben, seine Aufmerksamkeit.

„Könnten wir nicht eine Probe damit machen?“ fragte er lächelnd.

„Gewiß,“ meint sein Adjutant.

Der Kaiser drückt auf den Apparat. Seine Nachbarschaft in den nächsten Coupees bebt erschreckt zusammen — ein Notsignal im Hofwaggon weckt trübe Erinnerungen — der Zug hält.

„Bleiben wir doch eine Zeit,“ befiehlt der Kaiser.

Er steigt ans, tritt in die Morgenlandschaft, die im schönsten Herbstlichte erstrahlt. Rasch schlendert er, während über ihm die Lerchen schmieren und jubeln, weiter; plötzlich kommt er auf dem Rückwege an eine lebendige Hecke, eine endlose Linie von Soldaten, welche die Geleise bis Nowgorod zu bewachen haben.

„Halt!“ ruft man dem Kaiser zu, „Halt!“

Zar und Gefolge müssen gehorchen.

„Halt!“ tönt es zum drittenmal.

Ein Offizier eilt herbei, welcher der Gesellschaft erklärt, daß niemand hier passieren dürfte.

„Diese Wache schützt den Zaren!“

„Also mich?“

Der Kaiser tritt näher, belobt lachend den Führer wie die Soldaten, und gibt jenem, was er an Zigarren und kleinen Erinnerungen bei sich trägt.

„Dies für Sie zum Andenken,“ sagt er heiter, „die Barschaft, die ich in der Tasche habe, wollen wir an die Mannschaft verteilen lassen.“

Sonstige persönliche Züge des Kaisers, markante Aussprüche desselben sind nicht bekannt. Man weiß, daß er Anstrengungen machte, nachzuholen, was sein Vater in seiner Erziehung durch die Abneigung gegen das klassische Studium versäumte. Der Zar spricht viele Sprachen, besonders fertig Englisch, und hat eine Vorliebe für die britische Literatur, namentlich für Shakespeare. Die Anglophoben von Petersburg haben hieraus und aus der großen Teilnahme, die der Kaiser anfangs für seinen Onkel, den Prinzen von Wales zeigte, mit unrecht politische Konsequenzen abgeleitet.

„Nikolaus II,“ sagte mir Fürst Uchtomski, der den Zar auf seiner Orientreise begleitet hat und deshalb — ohne Grund — als sein geheimer Pressagent gilt — ,,ist ein offener Charakter, dessen Züge leicht erkenntlich werden. Er möchte Gutes wirken nach allen Seiten hin, er würde gerne jedes Unglück mildern, alles Drückende erleichtern. Man könnte das aus vielen, an sich belanglos erscheinenden Vorfällen erweisen; vielleicht ist es am deutlichsten hervorgetreten, als er sein Abenteuer mit dem Attentäter in Japan hatte. Blutüberströmt dachte er nur an andere, er beschwichtigte seine Umgebung und die Japaner, die natürlich erschreckt und voll Angst waren. Er hörte nicht auf, während die Ärzte ihm Hilfe leisteten zu versichern, daß er selbst alles tun wolle, um das Peinliche des Vorfalls zu verwischen. Wenige Fürstensöhne, wenige Leute überhaupt würden in solcher Lage eine so große Herzensgüte zeigen. ...“

Ist eine solche Natur die richtige für einen Boden, wie den Russlands? Stimmt sie zu den Aufgaben des Thrones?

Für den Augenblick genügt der Grundzug ihres Wesens, um von Millionen Menschen einen schweren Druck zu nehmen; für die Zukunft wird Nikolaus II. stärkerer Kräfte und der Anspannung all seiner geistigen Fähigkeiten bedürfen.

„Ermanne dich, mein Fürst! Erhebe dich! Eine beispiellose Macht ist dir verliehen! Du bist wie ein irdischer Gott! Nütze deine Kraft für dein Vaterland!“

So apostrophierte einer der größten russischen Tagesschriftsteller Alexander II., als dieser den Thron bestieg.

Ähnliches möchte man dem jungen Zar zurufen.

Nicht, daß er diesem oder jenem politischen Schlagworte nachgebe — auch nicht, daß er die staatsrechtliche Grundlage des Reiches wesentlich verändere, ist Wunsch und Sehnsucht der gebildeten russischen Vaterlandsfreunde — was sie wollen, ist, daß der Kaiser zum Wohle des Landes, welches seiner Obsorge vertraut ist, das edle Streben, die guten Absichten, die ihm innewohnen, mutig betätige — wenn es sein muß, im Kampfe mit der intriguierenden alten und doch niemals von ihrer Altersschwäche überzeugten Hofmacht, die zu allen Zeiten versuchte, sich zwischen Fürst und Volk zu drängen.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland - Momentaufnahmen