Tolstois Geschwister

Tolstoi hatte drei Brüder: Nikolai (geboren 1823), Sergej (geboren 1826), Dimitri (geboren 1827) und eine Schwester: Marie (geboren 1830), bei deren Geburt die Mutter starb.

Das Verhältnis der Geschwister zueinander war ein äußerst zärtliches. Auch ist Tolstoi bis an sein Lebensende der liebevollste Bruder gewesen: galt doch auch seine letzte verhängnisvolle Fahrt, zunächst wenigstens, dem Besuche der im Kloster lebenden greisen Schwester.


„Mein ältester Bruder Nikolai“, so berichtet Tolstoi in seinen „Erinnerungen“, „war sechs Jahre älter als ich. Er war ein ganz erstaunlicher Knabe und später ein erstaunlicher Mensch. Turgenjeff sagte von ihm sehr richtig, er habe nur nicht die Fehler besessen, die man haben muss, um ein großer Schriftsteller zu werden. Er besaß nicht den hauptsächlichsten Fehler hierfür: er hatte keine Spur von Eitelkeit, ihm war es völlig gleichgültig, was man von ihm dachte. Die Eigenschaften aber zum Schriftsteller, die er besaß, waren vor allem: ein feines künstlerisches Empfinden, ein äußerstes Gefühl für Maßhalten, ein gutmütiger, fröhlicher Witz, eine außerordentliche, schier unerschöpfliche Vorstellungskraft und eine gerechte, hochsittliche Weltanschauung. Und bei alledem war er ohne die geringste Selbstzufriedenheit! Seine Vorstellungskraft war aber dabei eine solche, dass er Märchen, Gespenstergeschichten oder lustige Erzählungen stundenlang ohne aufzuhören erzählen konnte und dabei derart von der Wirklichkeit des Erzählten zu überzeugen vermochte, dass man völlig vergaß, dass das alles nur ausgedacht war.“

Während aber Tolstoi seinen Bruder Nikolai vor allem hochachtete, während er seinem Bruder Dimitri Kamerad war, war sein Bruder Sergej sein ausgesprochener Liebling: „Von ihm war ich entzückt, ihn ahmte ich nach, ihn liebte ich, er wollte ich sein. Ich war immer begeistert von seiner Schönheit, von seinem Gesang — er sang immer — von seinem Zeichnen, von seiner Heiterkeit, und besonders — wie seltsam das auch erscheinen mag — von der Unmittelbarkeit seiner Selbstsucht. Ich hatte mich selber immer in der Erinnerung, war stets meiner bewusst, und fühlte immer instinktiv, ob wahr oder falsch war das, was andere über mich dachten, und wie sie mir gesinnt waren, — und das verdarb mir die Freuden des Lebens. Wahrscheinlich habe ich deshalb bei anderen das Entgegengesetzte geliebt: eben die Unmittelbarkeit der Selbstsucht, Deshalb wohl liebte ich besonders den Sergej. Das Wort ,liebte‘ ist eigentlich unrichtig. Den Nikolai liebte ich. Von Sergej war ich begeistert als von etwas mir völlig Fremdem, Unbegreiflichem. Das war ein Menschenleben, ein sehr schönes, mir aber völlig unverständliches, geheimnisvolles und darum besonders anziehendes. Dieser Tage ist Sergej gestorben. (Tolstoi schreibt das 1905.) Und in seiner letzten Krankheit und auf dem Sterbebette war er mir ebenso unerreichbar und ebenso teuer wie in den fernen Kindheitstagen. Im Alter, besonders in der letzten Zeit, liebte er mich mehr, schätzte er meine Anhänglichkeit höher, war er stolz auf mich, wollte er mit mir einverstanden sein, konnte es aber nicht und blieb der, der er war: ein ganz besonderer Mensch, völlig für sich, ein schöner, rasseechter, stolzer, und was die Hauptsache ist, ein derart gerechter und aufrichtiger Mensch, dessengleichen ich nie begegnet bin. Er war, was er war. Er verbarg nichts und wollte nichts scheinen!“

Seines Bruders Dimitri, Mitja genannt, der nur um ein Jahr älter war als er, entsinnt sich Tolstoi als Knaben kaum. Er habe große, dunkle, strenge Augen gehabt und sei ein seltsam launisches Kind gewesen. Oft sei er zornig geworden und habe geweint, bald deswegen, dass die Wärterin nicht auf ihn sah, bald deswegen, weil sie es tat. Seiner Mutter habe er viel zu schaffen gemacht. Tolstoi meint, er habe Mitja wohl nicht so geliebt wie die beiden anderen Brüder, er entsinne sich aber auch nicht, dass sie je miteinander gestritten hätten, obgleich sie immer zusammen spielten. „Wahrscheinlich haben wir uns wohl gestritten und wohl auch miteinander gerauft, aber, wie das bei Kindern so geht, diese Streitigkeiten hinterließen nicht die geringste Spur, und ich liebte ihn mit einfacher, gleichmassiger, natürlicher Liebe, und deshalb bemerkte ich diese Liebe nicht und vermag mich nicht ihrer zu entsinnen. Ich glaube (fügt Tolstoi bei dieser Gelegenheit noch hinzu), ja ich weiß es, weil ich das erfahren habe, besonders in der Kindheit, dass die Liebe zu den Menschen der natürliche Zustand der Seele ist, oder besser noch, das natürliche Verhalten zu allen Menschen; und wenn sie so ist, so bemerkt man sie nicht.“

Tolstoi entsinnt sich seines Bruders Mitja erst, als die Familie nach Kasan übersiedelte, und Mitja bereits dreizehn Jahre alt war. Bis dahin war ihm bloß aufgefallen, dass Mitja sich nicht verliebte, wie die anderen Brüder, und auch weder Tänzereien noch militärische Schauspiele bevorzugte, wohl aber gut und mit Eifer lernte. (Tolstois damaliger Hauslehrer soll gesagt haben — und Tolstoi gibt ihm völlig recht —: „Sergej kann und will lernen, Dimitri will und kann nicht, Leo will nicht und kann nicht!“) In Kasan nun fing Mitja an, sich von den anderen Brüdern abzusondern. Er war außer in Augenblicken des Zornes — wo er freilich seinen kleinen leibeigenen Diener zu prügeln pflegte, um ihn hinterher demütig um Verzeihung zu bitten — immer ruhig, ernst, mit gedankenvollen, großen, strengen Augen. Über Mitja wird noch besonders zu reden sein, wenn wir auf Tolstois Studentenzeit zu sprechen kommen.

Außer den Geschwistern lebte noch eine Pflegetochter in der Tolstoischen Familie, das Kind einer Leibeigenen und eines Gutsnachbarn und Freundes von Tolstois Vater, Dunetschka Temjaschowa.

„Dunetschka wohnte bei uns und war ein liebes, einfaches, ruhiges, aber nicht sehr kluges Kind und eine große Flennerin. Ich erinnere mich, wie ich, der ich bereits französische Buchstaben verstand, sie diese lehren sollte. Im Anfang ging die Sache gut. (Wir waren beide fünf Jahre alt.) Aber nachher, wahrscheinlich war sie müde geworden, hörte sie auf, die Buchstaben, die ich ihr zeigte, richtig zu benennen. Ich bestand darauf. Sie fing an zu weinen, ich auch. Als man zu uns kam, konnten wir beide nichts sprechen vor verzweifelten Tränen! Dunetschka war, wie gesagt, nicht sehr gescheit, aber ein gutes, einfaches Mädchen, und derart vernünftig, dass zwischen uns Knaben und ihr niemals andere als brüderliche Beziehungen bestanden.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi