Der Hilfsbedürftige ist unselbständig; allein, ohne fremde Hilfe — sei es Geld und Gut, sei es nur sachverständiger Rat und Leitung — kann er nicht durchkommen; dadurch kommt er ja überhaupt erst zum Pfleger. So ist er unvermeidlich von diesem abhängig, er muss sich beraten und führen, muss sich meist Mittel anderer ohne Entgelt schenken lassen. Aus alledem ergibt sich mit Notwendigkeit etwas, das man als eine Art Herrschaft des einen Menschen über den anderen ansprechen kann. Das ist aber im Wesen der Fürsorge mitgegeben. Solcher Abhängigkeitsverhältnisse ist das menschliche Leben voll. Bedenken können daraus erst erwachsen, wenn der Einfluss des Pflegers sich über die Grenzen ausdehnt, die durch das Wesen dieses besonderen Verhältnisses gegeben sind. Sein Wesen ergibt sich aus der wirtschaftlichen Schwäche des Armen; sie soll überwunden werden, oder sie muss dauernd durch die Fürsorge ergänzt werden. In diesem wirtschaftlichen Grunde, in diesem wirtschaftlichen Ziel finde: jenes Abhängigkeitsverhältnis seinen tiefsten Grund und seine klare Umgrenzung; daraus müssen seine Form und seine Schranken abgeleitet werden.

Wie wir es als Unrecht empfinden, wenn der Unternehmer durch sein wirtschaftliches Übergewicht die politische Gesinnung derer beeinflussen will, die von ihm abhängen, so verwerfen wir es unbedingt, wenn die wirtschaftliche Abhängigkeit des Armen als Zwang benutzt wird, um eine bestimmte Gesinnung bei ihm zu erzeugen. Diese Abhängigkeit darf nur benutzt werden, um den Zweck der Fürsorge, der rein wirtschaftlicher Natur ist, zu erreichen. In dieser Richtung allerdings ist der Armenpfleger verpflichtet sie zu verwenden. Die Verwendung der Mittel, die er dem Armen verschafft, muss er auch in der Richtung beeinflussen, dass sie ihrem Zweck dienen und nicht nutzlos vergeudet werden. Die Verantwortung für ihre Verwendung liegt auf ihm, nicht nur auf dem Unterstützten. Wenn der Hilfsbedürftige mit dem Gelde, das er erhält, hingeht und eine Falschmünzerwerkstatt einrichtet — ich nehme irgendein Beispiel aus dem Leben — so ist sein Pfleger, wenn wir von den rechtlichen Folgen auch absehen, doch persönlich für diese Verwendung seiner Gaben verantwortlich. Es ist eine ganz verwerfliche Meinung, als sei es eine gute Handlung, irgendeinem Bittsteller ohne genaue Kenntnis seiner Person zu geben. Das ist meist eine törichte Handlung, oft geradezu ein Unrecht; der Grund ist ja auch keineswegs wirkliches Mitgefühl, sondern meist Bequemlichkeit und Gutmütigkeit, die den Anblick des Elends los sein möchte. Insoweit kann also der Pfleger gar nicht anders, als die Abhängigkeit des Bittstellers zu benutzen, ihn zu befragen, ihn zu beraten und zu leiten und die richtige Art der Hilfe und die zweckmäßige Verwendung zu sichern. Man darf dem Armen nicht ohne weiteres geben was er fordert, sondern was ihn fördert.


Aus diesem Grunde wird der Pfleger es mit der sorgsamen Prüfung der Verhältnisse, mit der persönlichen Fühlung mit den Armen ernst nehmen. Wenn viele Armenordnungen ausdrücklich vorschreiben, dass der Pfleger den Armen in dessen Wohnung aufsuchen und öfters in seine Wohnung kommen muss, so ist das eine ganz natürliche Folge aus dem Verhältnis! in dem beide zueinanderstehen. Die Rücksicht auf die Persönlichkeit des Armen darf den Pfleger nicht abhalten, sich über den Hilfsbedürftigen bei anderen, Nachbarn, Verwandten, Arbeitgebern, in früheren Wohnungen und sonst zu erkundigen; die Verantwortung, die er trägt, wie der Zweck der Fürsorge erfordern diese gleich dringlich. Er wird Erkundigungen gewiss nur einziehen, wo es sachlich geboten ist, und er wird dazu lernen eine Form zu wählen, die weder den Armen bloßstellt noch sein Misstrauen stärken kann.

Die Notwendigkeit der Prüfung nach diesen verschiedenen Richtungen ergibt sich aus dem Wesen der Fürsorge selbst. Sie wird meist anschaulich gemacht durch den Hinweis, dass nur dadurch ein Missbrauch der Fürsorge verhütet werden könne. Es erscheint dann manchmal, als sei der erste Zweck der armenpflegerischen Tätigkeit sozusagen, dass niemand unnütz Unterstützung erhalte. Gewiss ist es ein Unrecht leichtherzig Geschenke zu geben, die entweder vergeudet werden, oder den Schwankenden, wirtschaftlich unsicheren Armen erst recht dazu verleiten, sich auf den Bettel und die Unterstützung zu verlassen. Aber die Abwehr solcher Missbräuche, die reichlich vorkommen, ist nicht der Zweck pflegerischer Arbeit; sie ist nur ein Nebenergebnis jeder richtigen Fürsorge. Eine Fürsorge, die die Erziehung des Armen als erstes Ziel ansieht, wird nicht leicht von Bettlern missbraucht werden können; natürlich jeder Pfleger erlebt immer wieder Enttäuschungen aller Art; aber je mehr er von vornherein bemüht ist, in jenes nahe ernste persönliche Verhältnis zu dem Armen zu gelangen, um so seltener wird das vorkommen.

Dieser Einfluss findet aber seine natürliche Grenze in dem Zweck, dem er dient: dem anderen wirtschaftlich zu helfen. Nur dazu darf er verwandt werden; alles, was darüber hinausgeht, empfinden wir mit Recht als einen Missbrauch. Es ist aber auch zweckwidrig. Der ganze persönliche Einfluss beruht auf dem Vertrauen seines Schützlings. Dieses muss aber aufs tiefste erschüttert werden, wenn er merkt, dass der Pfleger andere Zwecke ausschließlich oder nebenbei verfolgt, als die ihm zu helfen. Dabei ist es gleichgültig für diese hemmende Wirkung, ob dies selbstsüchtige Zwecke eigenen Vorteils sind, oder ob die Hilfe allgemeinen fremden Zwecken der Verbreitung von Weltanschauung irgend einer Art dienen soll. Der Bedürftige muss das Gefühl haben, dass jener seine Persönlichkeit, seine Anschauung genauso achtet und ehrt als ob er wirtschaftlich selbständig wäre; nur dann kann jenes Vertrauen zum Pfleger wirklich gedeihen.

Wenn trotzdem dieser wesentliche Grundsatz aller Fürsorge so leicht verletzt wird — kann doch in den Vereinigten Staaten sich eine öffentliche Hausarmenpflege nicht entwickeln, weil man als selbstverständlich ansieht, dass sie zu politischen Zwecken missbraucht werde — so muss das triftige Gründe haben. Einer tiefen religiösen Auffassung wird der menschliche Trieb zur Fürsorge, zum Helfen, zur gegenseitigen Hilfe, gleich allen anderen Seiten menschlichen Wesens religiös bedingt erscheinen, und je wärmer das religiöse Gefühl im Armenpfleger ist, umso leichter wird ihm, wie der Grundtrieb zur Armenpflege auch ihr Ziel religiös gefärbt erscheinen. Das führt dann zu der Gefahr, dass Armenpflege und Seelsorge vermengt werden. Dazu führt auch noch eine verwandte Erwägung. Ist die Fürsorge aus religiösen Trieben hervorgegangen, so empfindet man als ihre Aufgabe, dass sie ein praktischer Beweis für die Wahrheit dieser religiösen Empfindungen, ein Beweis des Geistes und der Kraft sein soll. Das legt wieder jene Verwechslung nahe, obwohl darin ebenso gut ein starker Anreiz zur sorgsamen Scheidung der Ziele liegen wird. Jenen Beweis religiöser Stärke soll die Fürsorge der Welt gegenüber liefern. Sie soll nicht den einzelnen Armen, sondern alle, die es sehen und hören, von der Leben weckenden Kraft dieses Glaubens überzeugen. Das wird sie umso besser, je besser diese Fürsorge als Fürsorge ist. Die religiöse Begründung aller Armenpflege fordert, notwendig gute Fürsorge zu üben, die allen anderen gewachsen ist; sie muss es erweisen, dass der Fromme genauso Fürsorge im wahren Sinne als Hilfe aus wirtschaftlicher Not ohne irgendwelche Nebenzwecke zu leisten vermag wie andere Menschen, ja, dass er wo möglich noch mehr als andere dieser höchsten Hingabe für andere fähig ist. Ja der religiöse Mensch wird diese wirtschaftliche Hilfe als Voraussetzung der Seelsorge empfinden; denn die wirtschaftliche Unselbständigkeit des Bedürftigen bedroht sein religiöses Leben; ihre Beseitigung schafft erst die Sicherheit, dass sich seine Weltanschauung, sein persönliches Leben wirklich frei entwickeln könne. Die wirtschaftliche Hilfe, die Fürsorge soll ihn nicht für diesen oder jenen Glauben gewinnen, sondern sie soll nur ein Hindernis wegräumen, damit sich die Persönlichkeit von falschem Druck frei gestalten könne. Dem würde es widersprechen, wenn man an die Hilfe von vornherein die Bedingung einer bestimmten Weltanschauung anknüpfen, zu dieser zu bekehren als ihr Ziel ansehen würde. Gerade von der religiösen Begründung aus muss man zu einer scharfen Betonung der wirtschaftlichen Begrenzung der Fürsorge gelangen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Fürsorgetätigkeit.