Im Frühling des Jahres 1797

Unter solchen Drangsalen war der Frühling des Jahres 1797 herangekommen. Schon begannen die Wangen Mariens zu bleichen, und ihrem Gemüte entging die Kraft, sich gegen das Unglück länger zu wahren. Da endlich, in der Nacht vom 30. Juni, wurde ihr Dränger, der unselige Lorent, durch den Tod von den Erdenqualen erlöst und den Seinen die Freiheit wiedergegeben. Weder der Sohn noch die Nichte, sondern Warnfeld, der mitleidige Fremde, hatte an seinem Sterbebett gestanden und ihm die letzten Dienste geleistet. Am Tage nach dem Hinscheiden erschien das Gericht und versiegelte den Nachlass. Man brachte den Toten in seinem Bett aus dem Wohnzimmer, in dem er gestorben, in sein eigentliches Schlafzimmer, und begnügte sich damit, nur an das erstere die Siegel anzulegen, da man vermutete, dass das darin befindliche Schreibepult Alles enthalten werde, was der Verstorbene an Geld und Dokumenten hinterlassen. Die seltsame Aufregung, der unstäte Blick Mariens, ihre zerstreuten, ja verkehrten Antworten, die sie gab, fielen Allen auf: man schob es aber auf den Schmerz. Am dritten Tage wurde der Tote beerdigt; auch jetzt zeigte Marie weder Trauer noch Tränen, sondern sie benahm sich scheu, zitterte und verriet Angst in jedem ihrer Worte. So trieb sie es zum Erstaunen für Jedermann 14 Tage, bis sie endlich heimlich nach Trier ging und sich dort in einem kleinen Gasthofe einmietete. Ihre Entfernung öffnete den Dienstleuten des Verstorbenen den Mund, und bald lief durch Tavern das Gerücht, dass Marie ihren Oheim vergiftet habe. Der Zufall brachte das Gerücht schon nach einigen Tagen zur Kenntnis der Gerichte. Die Köchin des Verstorbenen, Namens Katharine, fuhr nach Trier zu Markte und trat in der Hofapotheke ab, um im Auftrage des Kutschers Duelos Wachholderbeeren zu kaufen. In der Apotheke nun, wo die Lorent'schen Leute sämtlich bekannt waren, gab ein Wort das andere, und die geschwätzige Katharine vertraute dem Provisor, dass man glaube, der Notar sei an Gift gestorben. Diese Mitteilung hatte zur Folge, dass eine Stunde darauf der Apothekenbesitzer dem Gerichte die Aussagen der Katharine und den Umstand anzeigte, dass am 29. Juni Fräulein Marie Remy auf einen Schein ihres Oheims, angeblich zur Vertilgung von Ratten, vier Drachmen weißes, gepulvertes Arsenik in seiner Apotheke gekauft hatte. Eine aus Richtern und Ärzten zusammengesetzte Commission verfügte sich hierauf nach Tavern in das Haus des Notars, wo man mit Befremden von der Entfernung des Fräuleins nach Trier hörte und sogleich eine Vernehmung der Hausgenossen und Warnfelds begann. Es ergab sich nach diesen Verhören, dass Lorent seit Jahren schon an Magen- und Unterleibskrämpfen gelitten und dagegen ein damals gewöhnliches Mittel, ein allgemein gebrauchtes Magenelixir, nach Vorschrift gebraucht hatte. In den letzten Tagen war er besonders leidend gewesen und hatte sehr über innere Krämpfe, Hitze und Brennen im Halse geklagt, wobei er, wie er zu tun pflegte, Limonade getrunken, die ihm von der Nichte bereitet und gereicht worden war. Nach der Aussage der Köchin Katharine brachte sie ihrem Herrn um 8 Uhr am Abende des 30. Juni eine Flasche frisches Wasser, wobei Lorent über bittern Geschmack und Brennen im Munde klagte und rasch nacheinander einige Gläser Wasser trank. Eine Stunde später klingelte er und verlangte Limonade, welche die Nichle bereitete und dem Kranken zutrug. Um 10 Uhr wurde Katharine durch lautes Stöhnen und Jammern ins Krankenzimmer gerufen, wo sie den Notar sehr leidend und Französisch sprechend fand, das sie nicht verstand. Durch Zeichen deutete er seine Schmerzen im Halse und Leibe an und sprach, sich krümmend, einmal über das andere das deutsche Wort: Gift! aus. Die erschrockene Katharine eilte die Treppe hinab und rief dem Kutscher Duclos über den Hof zu, der Herr sei sehr schlecht, er möge doch sogleich den in der Nähe wohnenden Warnfeld holen. Während Duclos ging, suchten die Köchin und das Stubenmädchen Gertrud vergeblich nach dem Fräulein Marie. Als Warnfeld und Duclos eine Viertelstunde später das Krankenzimmer betraten, rief ihnen der Notar in großer Aufregung zu: Das ist mein altes Übel nicht, ich leide fürchterlich, es will mir die Eingeweide zerreißen, ich habe Gift und muss ersticken. Warnfeld suchte den Kranken zu beruhigen und wollte nach einem Arzte schicken, aber Lorent untersagte es mit den Worten: Es ist zu spät, ich sterbe, Luft, Luft! Wirklich verfiel er nach vergeblichen Versuchen sich zu übergeben in Convulsionen und dann in Ohnmacht. Warnfeld eilte in die Küche, wo er, da er die Nichte nicht fand, Tee bereiten ließ und mit demselben zum Kranken zurückkehrte. Lorent war aus der Ohnmacht erwacht, gab Zeichen eines brennenden Durstes und schluckte den gereichten Tee begierig hinunter, worauf sich Würgen und Brechen einstellte. Nach einigen Minuten verfiel er in fürchterliche Zuckungen und in eine abermalige Ohnmacht. Doch erholte sich der Unglückliche nochmals, und erst, als diese Zufälle zum dritten Mal eintraten, erfolgte gegen 11 Uhr des Nachts der Tod.

Während nun Duclos wehklagend zu den Hausmädchen hinabstürzte und denselben das Unglück verkündigte, deckte Warnfeld ein Tuch über das verzerrte Antlitz des Toten und zog sich, nachdem er noch einige Zeit vergeblich auf das Fräulein gewartet, in seine Wohnung zurück. So die übereinstimmenden Aussagen Warnfelds und Duclos. Nach dem Zeugnis der beiden Mägde, welche die Nacht hindurch wach blieben, war das Fräulein erst um drei Uhr des Morgens bleich und verstört nach Hause gekommen. Als ihr Katharine die Mitteilung machte, dass ihr Oheim gestorben, und zwar, wie er selbst geklagt, an vergifteter Limonade gestorben sei, erschrack sie.heftig, sagte aber dann:


„Was sprecht ihr von Gift, dessen bedurfte es nicht, ein so elendes Leben zu enden. Schweigt davon, es ist kein Gift im Hause.“

Nach diesem Verhör schritt die Gerichtskommission zur Entsiegelung des Sterbezimmers. Alles ward unverletzt und unverändert befunden. Auf dem Tischchen, das neben dem Bett seinen Platz gehabt, bemerkte man das Deckelglas mir goldenem Rande, in welchem Marie die Limonade bereitet und gereicht hatte. Flüssigkeit befand sich nicht mehr darin; dagegen klebte am Boden und am Rande eine getrocknete, weißkörnige Substanz, welche weder Zucker noch Cremor Tartari zu fem schien. Man versiegelte das Glas zur genauern Untersuchung und öffnete dann den Wandschrank, in dem sich fünf noch versiegelte Flaschen des Magenelixirs und eine sechste befand, die zur Hälfte verbraucht war. Die letztere, angebrochene Flasche wurde ebenfalls gerichtlich versiegelt. Vergeblich durchsuchte man nun alle Räume des Hauses nach Gift. Dieses Suchen regte endlich die Katharine zur Mitteilung eines Umstandes an, der ihr jetzt erst von Bedeutung erschien. Als sie am zweiten Morgen nach Lorent's Tode früh aufgestanden, war ihr Blick zufällig in den Garten gefallen, wo sie das Fräulein Marie an einem Haselnussstrauch stehend und einen Spaten in der Hand haltend sah. Die Kommission verfügte sich sogleich an die bezeichnete Stelle und fand in die Erde verscharrt ein Papier, in welches zwei Schächtelchen gewickelt waren, die ihren Etiketten nach beide aus der Hofapotheke zu Trier herstammten. Das eine, rot von Farbe, führte die Aufschrift: Cremor Tartari, das zweite, kleinere, mit schwarzem Papier beklebte, die Aufschrift: Arsenik zur Vertilgung von Ratten. In beiden nur zur Hälfte gefüllten Schachteln befand sich bei der Eröffnung ein weißes Pulver. Der Fund wurde abermals behufs der chemischen Prüfung unter Gerichtssiegel gelegt. Nachdem dies geschehen, begab sich die Kommission auf den Kirchhof, wo der Sarg Lorent's ausgegraben und geöffnet wurde. Die Leiche befand sich indes schon in einem so hohen Grade der Verwesung und Auflösung, dass an eine förmliche Sektion nicht mehr zu denken war. Doch hob man den Magen heraus, der allein unversehrt geblieben, und versiegelte denselben in einem Porzellangefäß.

Gegen Abend langte die Commission in Trier wieder an, wo sich der Gerichtsbeamte sogleich in den Gasthof begab, in welchem Fräulein Remy abgestiegen war. Hier fand er jedoch die Gesuchte nicht mehr; sie war vor etwa einer halben Stunde in einem Mietwagen angeblich nach Tavern abgereist. Marie nämlich hatte, wie später offenbar wurde, auf dem Tische ihres Zimmers im Gasthofe von unbekannter Hand einen Zettel gefunden mit den Worten: Nur augenblickliche Flucht vermag Sie zu retten, und sogleich hatte sie auch Anstalten zur Abreise getroffen. Während der Gerichtsbeamte unter der Haustür des Gasthofes die Befehle zur Verfolgung des Fräuleins gab, trat zufällig der Fuhrmann Werner über die Schwelle, der, als er erfuhr, um was es sich handelte, dem Beamten sagte, dass sein eigener Knecht die Dame gefahren. Er berichtete ferner, dass ihm soeben dieser Knecht durch einen Burschen, der dem Wagen begegnet, die Nachricht gegeben, man möge ihn nicht sogleich zurückerwarten, da ihn die Dame auf der Brücke gegen gutes Lohn zur Fahrt nicht nach Tavern, sondern nach Koblenz gemietet habe. Auf diese Eröffnung hin ließ der Beamte dem Wagen nachsetzen, den man auch eine halbe Meile von Trier schon einholte. Es war 11 Uhr des Abends, als Marie Remy als Gefangene in das Kriminalgefängnis zu Trier abgeliefert wurde. Nach einer halbstündigen Erholung wurde sie schon vor den Untersuchungsrichter geführt. Sie befand sich in einem beklagenswerten Zustande, wollte aber auf die Mitteilung von dem Verdachte, in dem sie stehe, weder von der Möglichkeit einer Vergiftung noch vom Vorhandensein von Gift im Hause am Todestage des Oheims wissen. Der Richter hielt die Fortsetzung des Verhörs für nicht rätlich und ließ Marie ins Gefängnis zurückführen, wo sie nun eine geraume Zeit sich selbst überlassen blieb.

Man schritt unterdessen zu weitern Vernehmungen und ermittelte, wie Marie in der letztern Zeit zu verschiedenen Personen geäußert, dass sie ihr Schicksal nicht länger ertragen könne; auch hatte sie ausgerufen: Wird sich denn der Himmel nicht meiner erbarmen und ihn zu sich nehmen! Mit Recht hegte der Untersuchungsrichter große Erwartungen von den Aussagen Warnfelds, der dem Lorent'schen Hause so nahe gestanden. Derselbe machte ein abschreckendes Bild von den häuslichen Verhältnissen, zeigte übrigens große Zurückhaltung, ließ sich die Dinge einzeln abfragen, schilderte das weiche, großmütige Herz Mariens und hielt sie trotz der schweren Verdachtsgründe für unschuldig. Erst die Vernehmung des Pfarrers Gläserer zu Tavern brachte das Attentat gegen Lorent auf dem Rosenberge an den Tag, und als man Warnfeld vorhielt, warum er diesen wichtigen Fall nicht berührt, erklärte er, dass er sich nicht berufen fühle, als Ankläger einer Dame aufzutreten, die er hochachte. Jetzt hatten auch die Sachverständigen ihre Prüfungen beendet. Sie erklärten, dass die halbvollen, beim Verkauf ganz gefüllten Schachteln, die eine Cremor Tartari, die andere, kleinere, weißen Arsenik aus der Hofapotheke enthielten; dass die an den Wänden des Limonadenglases befindliche Substanz Arsenik mit Zucker und Weinsteinsäure (Cremor Tartari) vermischt wäre; dass man in dem Magen des Verstorbenen neben Spuren von Weinsteinsäure und Zucker eine große Menge weißes Arsenik gefunden, hinreichend, um den Tod mehrer Menschen zu bewirken. Da sich die Magenwände, wenigstens mäßig, entzündet befunden, der Verstorbene nach der Zeugenaussage über brennenden Schmerz im Magen und Schlunde, überheftigen Durst, Übelkeit und Reißen im Unterleibe geklagt, auch unter schmerzhaftem Würgen mehrmals sich übergeben hätte; da er ferner von konvulsivischen Bewegungen, Krampf und Zittern der Extremitäten und wiederholten Ohnmachten befallen worden; da endlich diese Symptome die einer Arsenikvergiftung wären, so erachteten die Sachverständigen, dass der Tod des Notar Lorent in Folge einer Arsenikvergiftung nicht zu bezweifeln sei. Den ungewöhnlich raschen Tod des Notars aber hielten die Ärzte bedingt durch die große Quantität des verschluckten Giftes. Die Aufsaugung des Giftes durch den Organismus, sagten sie, der Übergang ins Blut, sei bei dieser Quantität so rasch erfolgt, dass tötliche Nervenlähmung eingetreten, bevor das Arsenik Zeit gehabt, seine volle ätzende Wirksamkeit zu äußern, und der Magen habe deshalb auch nicht Zeit gehabt, sich in einem höhern Grade, wie dies sonst bei Arsenikvergiftungen gewöhnlich, zu entzünden. Auch die schnellen Fortschritte der Verwesung trotz der Arsenikvergiftung dürften nicht überraschen, da die Sommerhitze ganz ungewöhnlich stark und die Leiche zwei und einen halben Tag über der Erde gewesen. Zwar verzögere das Vorhandensein von Arsenik oft die Verwesung und verleihe sogar in einzelnen Fällen dem Körper ein mumienartiges Gepräge; doch sei dies nicht durchaus notwendig, vielmehr habe man Beispiele, wie der Arsenik auch das Gegenteil bewirkt. Hier genüge es schon, dass sich die erhaltende Wirkung des Arseniks auf den Magen der Leiche erstreckt habe.
(Fortsetzung folgt.)