Unfern der kleinen französischen Stadt Clermont

Unfern der kleinen französischen Stadt Clermont lebte zu Anfang des Jahres 1789 der Notar Charles Lorent, ein Mann, der vom Himmel mit allen Gütern reichlich gesegnet war. Er hatte seine Jugend in Armut und Verkümmerung zugebracht, bis ihn ein entfernter Verwandter zum Erben eines großen Vermögens einsetzte, das er als umsichtiger Geschäftsmann zu benutzen verstand. Die herrlichsten Schätze aber, die Lorent besaß, waren eine Frau mit allen Reizen und Tugenden geschmückt, und zwei Kinder, von denen der damals 17jährige Sohn, Heinrich, den starken Geist des Vaters, die 15jährige Tochter die Liebenswürdigkeit der Mutter zu entfalten versprach. Mitten in das glückliche Leben dieser Familie, die ein freundliches Landhaus bewohnte, traf der Ausbruch der französischen Revolution. Wie die meisten Leute, die viel zu verlieren hatten, fühlte sich Lorent von der politischen Bewegung abgestoßen, zumal dieselbe mit Aufruhr verbunden war, der sich schon im Sommer 1789 auch in den Provinzen erhob. Um diese Zeit wurde Lorent durch eine Amtsversetzung nach der größeren Stadt Verdun überrascht. Da das Leben auf dem Lande mit jedem Tage unsicherer ward und die Zukunft mit Schrecken drohte, so nahm der Notar den Antrag an und bewirkte schon im November den Umzug mit seiner Familie an den neuen Bestimmungsort. Zu Verdun war die Mehrzahl der Einwohner königlich gesinnt, sodass man einer ziemlichen Ruhe genoss, wenn man auch mit Beklommenheit dem Gange der Ereignisse zuschaute. Im August 1792 überschritt das mit den Österreichern verbündete preußische Heer die französischen Grenzen, um den König in seine ehemals besessene Macht wieder einzusetzen. Alle königlich Gesinnten wünschten diesen Fremden den Sieg und betrachteten sie in Verdun wie in ganz Frankreich als ihre Erretter. Schon war Longwy gefallen, in wenigen Tagen konnten die Preußen vor Verdun stehen, als Lorent durch ein Familienereignis an den Rhein nach Mühlhausen gerufen wurde. Sein Schwager Franz Remy, ein wohlhabender Fabrikant, war dort gestorben und hatte als einzige Erbin eines ausgebreiteten Geschäfts eine 15jährige Tochter, Marie, hinterlassen, die seinen Schutz und seine Hilfe bei Regulierung des Nachlasses in Anspruch nahm. Lorent verließ seine Familie mit schwerem Herzen, reiste nach Mühlhausen und ward dort durch die Schwierigkeiten bei Abwickelung des Geschäfts lange und anhaltend in Anspruch genommen. Seine Familie schrieb ihm freudig von der Einnahme Verduns durch die Preußen, und ein anderes Schreiben berichtete, wie der König von Preußen von den Bürgern mit Ehren empfangen worden, wie ihm die Töchter der vornehmsten Bürger Blumen gestreut und Kränze überreicht, wie der König die jungen Mädchen huldvoll empfangen und beschenkt, endlich wie sich der Monarch ganz besonders mit Lorents Tochter freundlich unterhalten hätte. Die üble Lage, in welche die Preußen beim Vorrücken in die Champagne gerieten, sollte jedoch die Freude und Hoffnungen der königlich Gesinnten sehr bald vernichten. Nach der sogenannten Kanonade von Valmy schlossen die Preußen mit den Franzosen Waffenstillstand und traten den Rückzug nach Deutschland an. Die Briefe, die Lorent seitdem von seiner Familie erhielt, sprachen zwar keine bestimmte Besorgnis aus, verrieten jedoch Niedergeschlagenheit und Entmutigung. Noch handelte es sich zu Mühlhausen um den Verkauf der Fabrik. Als endlich auch dies glücklich vollbracht, eilte Lorent mit seiner Nichte Marie nach Verdun zurück. Aber welches Schreckliche sollte er hier erfahren! Seine Gattin und seine liebliche Tochter waren mit vielen Andern nach dem Abzuge der Preußen jener Huldigungen wegen verhaftet und als Landesverräter durch die Guillotine hingerichtet worden. Sein Sohn lag anscheinend hoffnungslos an einem hitzigen Fieber danieder.

Laurent vernahm das grausige Schicksal der Seinen, verbarg aber stark und klug den Schmerz und die Verzweiflung in seiner Brust, da ein unbedachtes Klagewort, ja ein Blick ihm selbst gefährlich werden konnte. Nur der Verfall seiner Züge und ein häufiges Zucken seines Gesichts verrieten sein tiefes Leiden. Während sein Sohn unter der Pflege Mariens langsam genas, benutzte Lorent den Winter von 1792 auf 1793, um unter dem Vorwande eines Gutskaufs sein Vermögen flüssig zu machen. Als aber der Frühling gekommen, fuhr er eines Tages mit Sohn und Nichte und dem Kutscher Duelos statt nach Thionville, in dessen Nähe das angeblich gekaufte Gut gelegen sein sollte, der deutschen Grenze zu, die er zu Altwies bei Remich überschritt. Bisher hatte Lorent sein Inneres selbst den Angehörigen verborgen. Wie er sich jedoch in Sicherheit sah, brach er in wilde Verwünschungen und heftige Wehklagen aus, welche an Wahnsinn grenzten und die Seinigen in Schrecken setzten. Er schwur, sein Leben in Rachehandlungen gegen die gegenwärtigen Machthaber in Frankreich zu verbringen. Sein Plan war, sich in dem Städtchen Saarburg, im Gebiete des Kurfürsten von Trier, niederzulassen. Allein bei der Unbekanntschaft mit der Gegend verfuhr sich der Kutscher, und Lorent musste auf den Rat eines jungen Deutschen, Namens Warnfeld, der ihm auf der Straße begegnete, sein erstes Nachtquartier im Wirtshause zu Tavern nehmen, woselbst dieser die Mühle gepachtet hatte. Der Ort gefiel dem Notar so, dass er sogleich am nachsten Morgen beschloss, hier mit seiner Familie einen bleibenden Aufenthalt zu nehmen. Er kaufte bald ein Haus und richtete sich behäbig ein, wobei ihm der junge Warnfeld, dessen Bekanntschaft er pflegte, sehr uneigennützig an die Hand ging. Fortan gab sich aber auch der Notar seinen Verschwörungsplänen gegen die französische Republik hin, trat mit den Ausgewanderten in Verbindung und scheute weder Kosten noch Mühe, um seinem Vaterlande Feinde zu erwecken. Dieses Treiben versenkte indessen schnell sein Inneres in trostlose Selbstsucht und untergrub gänzlich seine an sich schwache physische Natur. Sohn und Nichte unterlagen den zügellosen Ergüssen seiner Laune, oder mussten bald ein tagelanges Schweigen, bald eine argwöhnische Beobachtung ertragen. Da der Sohn des Vaters Treiben misbilligte, die verhassten Aufträge säumig vollzog und den Wunsch einer Rückkehr nach Frankreich aussprach, so kam es zwischen Beiden zu heftigen Auftritten. Auch die Nichte sah sich unausgesetzt von dem Oheim auf das feindseligste behandelt. Nicht Schönheit, nicht Unschuld vermochten den Hass zu dämpfen, den Lorent gegen sie, die schuldlose Ursache seines Unglücks, gefasst hatte. Desgleichen war ihm ihr häufiger Kirchenbesuch, ihr Verkehr mit den Pfarrern von Tavern und Conz und ihre schwärmerische Religiosität zuwider. Der lieblosen Behandlung müde, wünschte sie nach Mühlhausen zurückzukehren, allein der quälerische Oheim verbot ihr dies und erklärte, dass sie nur ihre Verheiratung oder sein Tod von ihm befreien könne. In dieser peinlichen Lage schlossen sich Heinrich und Marie nur um so fester aneinander, und der geistreiche, gebildete, heitere, in allen Lebensrichtungen gewandte Warnfeld gesellte sich ihnen mit Wärme bei. Warnfeld hatte sich indes auch das Vertrauen des Notars erworben und wurde demselben allmählich als Gesellschafter und hilfreicher Freund unentbehrlich.


Das Vorrücken der französischen Moselarmee im Sommer 1794 nötigte Lorent, wenigstens auf einige Zeit Tavern zu verlassen. Er bestimmte Warnfeld, die gepachtete Mühle einem Andern zu übergeben und ihm in das Innere von Deutschland als Gesellschafter zu folgen. Im Juli trat demnach die Familie mit Warnfeld die Reise nach Koblenz an, von wo aus sie später vor dem andringenden französischen Heere bald hier bald dort einen vorübergehenden Aufenthalt nahm. Während so einige Jahre verflossen, stieg bei dem jungen Heinrich die Sehnsucht nach Frankreich, und die Erfolge der Franzosen im Jahre 1796 begeisterten ihn so, dass er eines Tages den Vater heimlich verließ und in die siegreiche Armee Moreaus eintrat. Nur einmal brach die Wut des Notars über den Schritt seines Sohnes furchtbar aus, dann kam der Name Heinrichs nie mehr über seine Lippen. An Geist und Leib gebrochen, wurde Lorent endlich das unstäte Leben sehr beschwerlich, und sehnlichst wünschte er sich in seine anmutige Wohnung nach Tavern zurück, welcher Ort freilich mit dem ganzen linken Rheinufer der verhassten französischen Republik zugefallen war. Auf Warnfelds Anfrage bei dem Pfarrer zu Tavern erhielt der Notar zur Antwort, dass sich Niemand mehr um die Ausgewanderten kümmere und dass er ohne alle Gefahr zurückkehren könne. Lorent eilte nun nach Tavern, wo sich alsbald sein körperliches Befinden sehr besserte. Statt die gewonnenen Kräfte für ein neues Leben zu benutzen, hing er den politischen Umtrieben und häuslichen Zänkereien nach. Am meisten jedoch hatte die sanfte, liebliche Marie von der Wildheit des Oheims zu leiden, zumal er ihr die Entweichung Heinrichs zur Last legte. So mochten zwei Monate nach der Rückkehr vergangen sein, als die Siege des Erzherzogs Karl am Rhein bei dem Notar neue Hoffnungen erweckten. In dieser günstigen Stimmung machte er der Nichte und Warnfeld den Vorschlag, dem würdigen Pfarrer Canaris zu Conz, den er auf der Pfarre zu Tavern kennen gelernt, einen Besuch abzustatten. Man fuhr nach dem eine halbe Meile von Tavern gelegenen Conz und schickte das Geschirr mit dem Kutscher Duelos sogleich wieder nach Tavern zurück, indem man den Weg nach Hause durch die prangende Herbstlandschaft zu Fuß zurückzulegen gedachte. Als man nun gegen Abend den Rückweg in Begleitung des Pfarrers von Conz antrat, wollte Lorent den nähern, durch eine feuchte Niederung und durch Sand führenden Fuhrweg einschlagen, während die Nichte dringend bat, den zwar längern, aber sehr reizenden Fußpfad an den Berghöhen hin über den Rosenberg zu wählen. Mit Unwillen gab endlich Lorent dem Verlangen nach. Marie schritt nun mit untergeschlagenen Armen, anscheinend in tiefe Gedanken versunken, den Fußpfad voraus; ihr folgte der Oheim mit dem Pfarrer, und Warnfeld schloss den Zug. Eben hatte Marie eine Berghöhe erreicht und war stehen geblieben, um die Übrigen zu erwarten, als aus dem am Wege liegenden Laubholze ein Schuss fiel und eine matte, pfeifende Kugel dem Notar den Hut vom Kopfe riss. Während Warnfeld den wankenden Lorent stützte, blieb Marie unbeweglich in das Gehölz starrend stehen und bedeckte dann die Augen mit beiden Händen. Dieses Benehmen erweckte den Verdacht Lorents, und nachdem er sich erholt, fuhr er sie mit den Worten an: Was machst Du da? Wen verfolgen Deine Blicke? Du kanntest ihn?

Wen, erwiderte sie, ich kannte Niemand, wen hätte ich auch sehen sollen?

Der Oheim heftete einen durchbohrenden Blick auf sie und fuhr fort: Für mich hattest Du keinen Blick; warst Du meiner Tötung so gewiss? Darf ich fragen, was Deine Augen mit dämonischer Gewalt in entgegengesetzter Richtung festhielt?

Der Schreck, die entsetzliche Tat, stammelte Marie, und nach langem Hin- und Herreden drang Warnfeld darauf, nun eine andere Richtung einzuschlagen, aber der Notar weigerte sich mit den Worten: Das Verbrechen ist feig und Todesfurcht mir fremd. Das also war's, fügte er noch im bittersten Tone hinzu, warum ich fast gezwungen wurde, den Fußpfad zu gehen? Vortrefflich!

Man setzte den Weg schweigend fort und erreichte bald die Wohnung. Lorent verbot von dem Attentat zu sprechen, erwähnte auch nie mehr das Vorgefallene, zeigte aber von Stund an eine noch größere Verachtung gegen Welt und Menschen und schonte selbst Warnfeld nicht mehr. Letzterer wollte ihn deshalb verlassen; allein Lorent demütigte sich vor diesem jungen Mann bis zum Bitten und Warnfeld blieb. Auch Marias Geduld wurde endlich durch die ausgesucht kränkende Behandlung von Seiten des Oheims gänzlich erschöpft; sie schilderte gegen Jeden ihre Lage als unerträglich. Vergeblich aber bat sie ihren Peiniger, er möge sie nach Mühlhausen reisen lassen und seine Vormundschaft niederlegen. Ein Fluchtversuch scheiterte an der Wachsamkeit des dem Notar treu ergebenen Kutschers Duelos,
(Fortsetzung folgt.)