Erstes Kapitel. - »Nur noch Augenblicke Geduld! dort winkt ein Mann, der mitfahren will, ...

»Nur noch Augenblicke Geduld! dort winkt ein Mann, der mitfahren will,« sagte der Ferge. Im Kahne saß ein Mann mit Frau und Tochter.

Der Mann war von kleiner Gestalt, mit grauen Haaren und röthlich funkelnder Gesichtsfarbe, blaue Augen schauten gutmüthig aber träumerisch müde drein; ein die Oberlippe ganz bedeckender struppiger Schnurrbart schien sich in dies harmlose Gesicht verirrt zu haben; er trug ein graues Sommergewand von jenem neumodischen Stoff, der überall derart weiß besprenkelt ist, als hätte sich der Träger in einem Federbett gewälzt; eine zierliche, mit blauen und rothen Perlen gestickte Bügeltasche hing an einem Riemen über der rechten Schulter.


Die Frau, groß und stattlich, mit unruhigen Augen und scharfen Zügen, die einstmals wol einnehmend gewesen waren, trug ein Kleid von mattgelber Seide; der weiße Schleier am grauen Hut war wie eine Binde am Turban um die Rundung gewunden. Sie warf den Kopf rasch zurück, sah dann vor sich nieder, als wollte sie sich nicht um den Fremden kümmern, und bohrte die Zwinge ihres großen Sonnenschirms in das Bord des Kahns.

Neben dem Manne saß eine schlanke blonde Mädchengestalt in blauem Sommergewand; den kleinen, mit einem Vogelflügel verzierten braunen Hut hielt sie am Gummiband in der Hand. Der Kopf war groß und schwer, die mächtige Stirn durch reichüberquellendes, in Flechten gelegtes Haar noch gewaltiger, und zwei dicke Locken legten sich rechts und links auf Schulter und Brust. Das Antlitz des Mädchens war heiter und unbefangen, klar wie der helle Tag, der über der Landschaft leuchtete.

Jetzt setzte sie den Hut auf, und die Mutter rückte ihr denselben noch etwas zurecht. Dann wechselte sie schnell die rauhledernen Stulpenhandschuhe mit glanzigen, die sie aus der Tasche nahm, und während sie mit Behendigkeit das Leder über die Hand zog, schaute sie nach dem Ankömmling.

Ein großer und schöner junger Mann von markigem Körperbau, mit vollem, braunem Bart, einen Plaid über der Schulter und einen breitkrämpigen grauen Hut mit schwarzem Flor auf dem Haupte, kam rüstigen Schrittes den Zickzackweg am steilen Ufer herab. Er stieg in den Kahn, grüßte stumm, indem er den Hut abzog; eine edle weiße Stirn, von tief braunem Haar beschattet, zeigte sich; Kühnheit und Entschlossenheit sprach aus seinem Gesicht, das zugleich einen Vertrauen erweckenden Ausdruck hatte.

Das Mädchen schaute vor sich nieder, die Mutter knöpfte ihr das Hutband nochmals auf und zu und wußte dabei scheinbar unabsichtlich eine lange Locke auf die Brust, die andere auf die Schulter rückwärts zu legen.

Der Fremde setzte sich fern von den Anderen nieder und schaute in den Strom, während der Kahn rasch dahinfuhr.

Der Kahn landete an der Insel, auf welcher das weitläufige Kloster, das nunmehr eine von Nonnen geleitete Erziehungsanstalt für Mädchen ist.

Man stieg aus.

»O wie schön!« rief das Mädchen und deutete auf eine am Ufer stehende hochstämmige Gruppe von Bäumen, die in der Runde und so nahe an einander standen, als ob die Stämme aus Einer Wurzel erwachsen wären; ringsum innerhalb der Baumgruppe waren niedrige Bänke angebracht.

»Geh voran!« sagte die Frau mit einem verweisenden Blicke und gab schnell ihrem Manne den Arm. Das Mädchen ging voran, der Fremde hinterdrein.

In den Büschen sangen die Nachtigallen, die Amseln, Finken, Plattmönche [Fußnote][Grasmücken], als wollten sie laut verkünden: Hier ist Paradiesesruhe und Niemand stört uns. Die dunklen Kiefern am Ufer mit ihrem breiten Schirmdach und die lange Reihe hellfarbiger Lärchenbäume landeinwärts waren von keinem Lüftchen bewegt, und in den blühenden Kastanienbäumen summten die Bienen.

Man kam an das Kloster.

Das Gebäude war verschlossen, nirgends ein menschliches Wesen zu sehen.

Der alte Herr zog die Klingel, die Pförtnerin öffnete ein kleines Fenster und fragte nach dem Begehr. Es wurde um Einlaß gebeten, aber die Pförtnerin erwiderte, das sei heute nicht mehr möglich.

»Geben Sie meine Karte ab,« sagte der ältere Herr, »und sagen Sie der würdigen Mutter, daß ich mit Frau und Tochter da sei.«

»Erlauben Sie, daß auch ich meine Karte hinzufüge,« sagte der Fremde; die Drei schauten um beim Wohlklang dieser Stimme. Der Fremde gab der Pförtnerin seine Karte, indem er hinzufügte: »Wollen Sie der würdigen Frau Oberin sagen, daß ich Grüße von meiner Mutter bringe.«

Auf der Karte stand: Erich Dournay.

Die Pförtnerin schloß das Schiebfenster schnell.

»Ich hatte Sie für einen Franzosen gehalten,« sagte der alte Herr in freundlichem Ton zu dem jungen Manne.

»Ich bin ein Deutscher,« erwiderte dieser.

»Sie haben wol eine Verwandte im Kloster und kennen die würdige Mutter auch?«

»Ich kenne hier Niemand.«

Die Antworten Erichs waren rund und knapp, es gab keinerlei Anhalt zu Fortsetzung des Gesprächs. Der alte Herr ging mit den Frauen nach einem schönen Blumenbeet und setzte sich mit ihnen auf die dort angebrachte Bank. Das Mädchen mochte aber keine Ruhe haben, es ging am Rande der Wiese auf und ab und pflückte Veilchen.

Der junge Mann war wie eingewurzelt stehen geblieben und betrachtete die steinernen Stufen, die zur Klosterthüre führten, als müßte er erkunden, welcherlei Schicksale bereits über diese Stufen aus- und eingegangen waren.

Nach einer Weile winkte die Pförtnerin; die Klosterthüre wurde geöffnet, die Fremden traten ein. Hinter der zweiten Gitterthüre standen zwei Nonnen in langen schwarzen Kleidern, mit dem hänfenen Knotenstrick um die Hüfte. Die Größere, eine ältere Dame mit auffallend großer Nase, sagte: Die Frau Oberin bedaure, heute Niemand empfangen zu können; es sei der Vorabend ihrer Namensheiligen und da bleibe sie bis zu Sonnenuntergang immer allein. Ueberhaupt sei heute kaum thunlich, Fremde zuzulassen, denn die Kinder – so wurden die Zöglinge genannt – hätten ein Festspiel angeordnet, mit welchem die Oberin nach Sonnenuntergang begrüßt werden solle. Darum sei heute Alles in Unordnung; im großen Speisesaal sei ein Theater aufgeschlagen; indeß habe die Oberin befohlen, daß man den Fremden die Einrichtung des Klosters zeige.

Man ging nun im Geleite der beiden Nonnen durch den großen Kreuzgang. Der Schritt der Nonnen war laut und hart, denn sie trugen dicke hölzerne Sohlen, sogenannte Trippen, die mit zwei über die Strümpfe gezogenen Riemen am Fuße befestigt waren. Die kleinere, zierliche Nonne, deren feines Antlitz wie gepreßt und gefangen in der enganliegenden Capuze war, hielt sich scheu zurück und ließ der Andern das Wort. Jetzt sprach sie indeß mit dem Mädchen in französischer Sprache. Die Mutter nickte dem Vater zu mit dem vergnügten Ausdrucke: Da siehst Du nun, wie gut es war, das Kind etwas Rechtes lernen zu lassen.

Der Vater sagte der deutschen Nonne, daß seine Tochter Lina erst vor einem halben Jahre aus dem Kloster zu Aachen zurückgekehrt sei.

Auch der junge Mann sagte einige Worte in französischer Sprache zu der zierlichen Nonne. Aber jetzt, und so oft er sie noch ansprach, zog sie sich immer wie verscheucht zurück, auffällig lächelnd und in sich zusammenkauernd, als ob sie fürchte, berührt zu werden.

Der Frühstücksaal, Lehrzimmer, Musikzimmer, die großen Schlafsäle wurden den Fremden gezeigt und überall mußte man Sauberkeit und Ordnung bewundern. In den Schlafgemächern der Kinder war es, als ob nicht wirkliche Menschen und nun gar unruhige Kinder hier wohnten, sondern als wäre Alles nur bereit, um Märchengestalten zu erwarten. Nur in einem Bettchen war es unruhig. Lina zog den Vorhang zurück und ein Kind mit großen braunen Augen schaute um. Auch der junge Mann war hinzugetreten.

»Was fehlt dem Kinde?« fragte Lina.

»Weiter nichts, es hat nur Heimweh.«

»Wie heilen Sie das Heimweh?« fragte die Frau.

»Ein Kind, das über Heimweh klagt, wird krank erklärt und muß zu Bette bleiben; wenn es dann aufstehen darf, fühlt es sich befreit und zu Hause.«

»Geht Alle fort! Alle fort! Manna soll kommen! Manna soll kommen!« rief das Kind.

»Sie kommt noch zu dir,« beschwichtigte die Nonne und erklärte, daß das Kind eine Amerikanerin meine, von der allein es sich beruhigen lasse.

»Das ist unsere Manna,« sagte Lina zu ihrer Mutter.

Die Dämmerung war eingebrochen, und über die Corridore, durch den goldenen Duft der Abendsonne huschten in langen grünen, blauen und rothen Gewändern seltsame Gestalten, die in den Zellen verschwanden.

Man kam in den Speisesaal, wo im Hintergrund eine Waldlandschaft mit Einsiedlerhütte aufgestellt war, und da lag mit rothem Bande angebunden ein junges Reh, das die Fremden mit seinen glänzenden Augen wundersam anblickte, jetzt sich aufraffte, am Bande zerrte und davonrennen wollte.

Die Französin erklärte, daß die Kinder in Gemeinschaft mit einer Schwester, die sehr viel Geschick dazu habe, die Decorationen selbst gemacht und große Chöre eingeübt hätten; eine Schülerin, ein vorzügliches Kind, habe das Stück verfaßt, das eine Scene aus dem Leben der Tagesheiligen behandelt.

Die deutsche Nonne mit der großen Nase bedauerte, daß Niemand Fremdes zusehen dürfe.

Als man den Speisesaal verließ, sagte Lina zu der zierlichen Französin, wie leid es ihr thue, ihre Jugendfreundin Hermanna Sonnenkamp nicht sehen zu können, denn sie müßte mit ihren Eltern schon heute Abend wieder zurückreisen.

Man ging wieder durch lange Corridore, und als man die Treppe hinabstieg, kam dieselbe herauf eine schneeweiße Gestalt mit Flügeln an den Schultern und einem schimmernden Diadem auf dem Haupte, von dem lange schwarze Locken auf Brust und Nacken herniederflossen. Ein dunkles, schwarzes Auge mit langen Wimpern und dichten Brauen glänzte aus dem blassen Antlitze heraus.

»Manna!« rief Lina laut, und »Manna!« tönte der Widerhall von der Wölbung.

Die Angeredete faßte ihre Hand, führte sie die Treppe hinauf, von den Anderen weg und sagte:

»Du, Lina? Ach, ich war nur bei dem armen Kinde, das sich in Heimweh verzehrt. Ich dürfte sonst heut mit keiner Menschenseele sprechen.«

»O, wie wunderbar siehst Du aus, wie herrlich! Du mußt dem Kinde ja wie ein lebendiger Engel erschienen sein! O und wie werden sich daheim Alle freuen, wenn ich ihnen erzähle . . .«

»Sprich nicht davon. Entschuldige mich bei Deinen Eltern, daß ich so an ihnen vorbeiflog, und wer . . . wer ist der junge Mann da bei Euch?«

Erich schien zu fühlen, daß von ihm die Rede sei; er schaute aus nach der wundersamen Erscheinung, konnte aber nichts von den Formen des Antlitzes erkennen; er sah nur die märchenhafte Gestalt und zwei hellleuchtende Augen.

»Wir kennen ihn auch nicht,« erwiderte Lina, »wir haben ihn erst im Kahn gesehen. Aber ja,« setzte sie lachend hinzu, »Du kannst erfahren, wer er ist, er hat einen Gruß von seiner Mutter an die Oberin; da frag' einmal. Nicht wahr, er ist schön?«

»O Lina, wie sprichst Du! Möge die heilige Genovefa beim lieben Gott Dir Verzeihung erbitten, daß Du das gesagt, und mir . . .« sie bedeckte das Gesicht mit der Hand . . . »daß ich es gehört. Leb' wohl, Lina, grüße Alle draußen.«

Wie schwebend huschte die geflügelte Erscheinung den langen Corridor dahin, sie verschwand und hörte nicht mehr, daß Lina ihr nachrief, sie werde morgen bei der Gräfin Wolfsgarten erzählen, wie sie sie gesehen.

Man verließ das Kloster. Vor dem Thore sagte der ältere Herr zu dem jungen Manne:

»Es ist ein Glück für die Mädchen, von aller Welt entfernt auf einer Insel im Kloster erzogen zu werden.«

»Die Mädchen im Kloster und die Jünglinge in der Kaserne! Schöne Welt das!« entgegnete Erich in scharfem Ton.

Ohne ein Wort der Erwiderung wandte sich der ältere Herr ab und ging mit den Frauen einige Schritte davon; er schien keine fernere Gemeinschaft mit einem Fremden von solcher revolutionären Gesinnung haben zu wollen.

Erich eilte zu dem Kahne und ließ sich rasch übersetzen. Der Strom war wie lauter glühendes Gold; Erich tauchte die Hand in den Strom und wusch sich Stirn und Auge.

Er sprang behend ans Land und schaute hinüber nach dem Inselkloster; da sah er den Mann mit Frau und Tochter ebenfalls zum Kahn herabsteigen; er grüßte von ferne mit dem Hute und ging den jenseitigen Berg hinan nach der Burgruine, von wo man das Kloster überschauen konnte. Lange saß er hier oben und starrte hinüber nach dem Kloster auf der Insel. Er hörte Gesänge von Mädchenstimmen, er sah die lange Fensterreihe hell erleuchtet.

Die Nachtigall in den Büschen sang unablässig und Erich horchte hin nach dem Gesange des Vogels und dem Gesang der Kinder im Kloster, die sich ein Stück vom Ewigkeitstraume in die Wirklichkeit zauberten und eine Stunde zu singenden Engelchören wurden.

Er stieg den Berg hinab, und als er eben an den Gasthof kam, traf er den Mann mit den beiden Frauen, die sich zur Abreise auf den Bahnhof begaben.

Die Gaststube war leer. Während er aß, nahm er unwillkürlich ein Zeitungsblatt, das auf dem Tische lag. Was sind Klöster? Was sind Burgruinen? Da ist die Welt, die bewegte, die heutige, die wirkliche.

Du kommst von einer Ausschau auf der Bergeshöhe ermüdet in der Gaststube an, unwillkürlich greifst Du nach der Zeitung – warum das? Vielleicht weil das ermüdete Schauen und Denken, das auf die unbewegte Erscheinung der Natur gerichtet war, nun sich erfrischt, indem es sich auf die bewegte Erscheinung der Zeitgeschichte wendet; und Du bist allein, Du bedarfst eines anrufenden Wortes – da ist ein solches, das Jemand an Alle gerichtet hat; es erzählt Dir von der Welt, die ihren Gang fortsetzt, derweil Du träumtest und in weiter Ausschau Dich verloren und Dich gefunden hast.

Wir können uns kaum mehr denken, wie es zu anderen Zeiten war, da man ein Begegniß still austräumen konnte. Zu allen Stunden, sei es in schwerer Bedrängniß, wo uns das eigene Leben zur Last und die Welt gleichgiltig geworden, sei es in gehobener Empfindung, wo wir uns wie hinausversetzt aus aller Wirklichkeit fühlen – da kommt die Zeitung und fordert unsere Aufmerksamkeit und ruft uns an, als sollten wir in Gestaltung der Weltverhältnisse überall mitwirken.

Was ist dem jungen Manne jetzt Amerika? Und doch las er aufmerksam einen Bericht über die dortigen Zustände, worin der unausbleibliche, in Frieden vielleicht nicht zu schlichtende Kampf zwischen den südstaatlichen Sklavenhaltern, den sogenannten Feuerfressern, und den nordstaatlichen Abolitionisten dargestellt war. Die Französin hatte gesagt, daß eine Amerikanerin das an Heimweih leidende Kind tröste und sie agirt nun auch in dem heiligen Feststück. Da spielt ein Kind mit der frommen Mythe, während es in seinem Heimatlande gährt!

Wieder waren die Gedanken Erichs im Kloster und bei der wundersamen Erscheinung.

Als er eben das Blatt weglegen wollte, fiel sein Auge auf eine Anzeige. Er las sie wiederholt, dann bat er den Kellner, daß er das Blatt behalten dürfe, und begab sich mit demselben auf sein Zimmer.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Landhaus am Rhein, Band 1