Cornelia. Oder die Mutter der Gracchen.

Ich erkläre sofort, daß es nicht in meiner Absicht liegt, den jungen Gelehrten des Gymnasiums eine erbitterte Konkurrenz zu machen. Die Ausführungen die man nun hören wird, wollen keineswegs ein neues Blatt in den Ruhmeskranz der bekannten Römerin winden, für die in unseren Mittelschulen eine so unentgeltliche Reklame gemacht wird.

Mit dem Erziehungswesen hängt dieser Vortrag, den ich die Ehre haben werde u. s. w. (wo ist das Zuckerwasser?) dennoch zusammen. Nur handelt es sich nicht um gewöhnliche Pädagogie, sondern um „Elternagogie“. (Dieses Wort wird man in Heyese’s Fremdwörterbuch vergeblich suchen. Ich habe es mir in diesem Augenblicke geschnitzt, weil ich zu faul bin, nachzusehen, wie „Eltern“ auf Griechisch heißt. Bei der Abiturientenprüfung kann ich ja doch nicht mehr durchfalten. Es soll mich aber freuen, wenn das Wort seinen Weg macht. Damit es gehen könne, versah ich es mit Gänsefüßchen.)


Nun aber genug gescherzt! (Scherze nenne ich das!) Gestatten Sie mir, meine Damen und Herren, Sie auf eine Thatsache aufmerksam zu machen: die Kinder werden manchmal ...von ihren Eltern erzogen - gut oder schlecht - dagegen werden die Eltern immer von ihren Kindern erzogen. Immer! Glauben Sie mir nicht aufs wort? Gut, da sind die Beweise. Das Gesetz präsumiert bekanntlich in gewissen, ich meine in ungewissen Fällen, daß der Gatte Vater des Kindes sei. Es scheint mir viel unanfechtbarer zu sein, wenn ich sage: die junge Frau wir durch ihr Kind zur Mutter gemacht. Die junge Frau wird also durch ihr Kind etwas, das sie früher nicht war. Sie wird ängstlich, behutsam. Ein unbekannter Strom von Zärtlichkeit ist in ihr aufgequollen. Diese zwanzigjährige Person, die noch vor einem Jahre keine größere Sorge kannte, als die Füllung ihrer Tanzkarte, einen neuen koketten Haarputz oder die empörend schöne Toilette ihrer Busenfreundin - diese oberflächliche Person von zwanzig Jahren ist mit Einem Schlage verwandelt. Eine holde Fülle lieblicher und ernster Sorgen um das Wohl der hilflosen kleinen Rothhaut, die vor ihr zappelt, ist über das junge Weib gekommen Eine trockene Windel gilt ihr mehr, als der huldigendste Blick eines Torso-Löwen. Sie ist also etwas Anderes, Höheres, Besseres geworden. Das erste Erziehungsresultat, hervorgerufen von Bébé!

Der Vater - Sie sehen, ich weigere mich auch nicht, vom Vater zu sprechen - der Vater kommt nicht minder in die Dressur. Bisher hatte er eigentlich ein Liebesverhältnis mit seiner Frau. (Ich tue, wie wenn ich nichts von den vermittelten Ehen wüsste, die wir höflich Konvenienz-Ehen betiteln.) Jetzt wird auch er ein Anderer. Abgesehen von der Eitelkeit, mit der er selbst ein ihm ähnliches Kind betrachtet, ist auch in ihm ein neuer Komplex von Pflichten und Sorgen entstanden. Das beginnt mit dem Ammenlohn und endigt - ich weiß nicht wo. Auch sein äußeres Betragen ist ein verschiedenes geworden: ernster, würdiger, gesetzter. Ich glaube, ein junger Vater, der mit Frau, Amme und Bébé spazieren geht oder fährt, sieht nicht mehr nach vorüberkommenden hübschen Gesichtern - oder doch nur verstohlen, damit Bébé nichts bemerke. Ich bin auch überzeugt, daß ein junger Vater den Entschluss fasst, fortab sparsamer mit dem Gelde umzugehen. Jedenfalls dürfte es sich hie und da begeben, daß er mit dem Hinweis auf die Verpflegungskosten des Kindes seiner Frau die Anschaffung eines vierten Hutes, der siebenundvierzig Gulden fünfzig Kreuzer kosten soll, verweigert. Kurz: der Gatte wurde Vater, der Vater wird Hausvater. Das heißt: sorgsam, berechnend, besonnen. Er gewöhnt sich vielleicht sogar die teuren Zigarren ab oder nimmt sich dies wenigstens vor. Wann ward es gesehen, daß ein Vater seinen Sohn dahin gebracht hätte, einen besonneneren Lebenswandel zu führen? Das Umgekehrte geschieht täglich: der Sohn bessert den Vater . . . Ich bitte, sind das Erziehungsresultate oder nicht?

Schön. Gehen wir weiter! Das Kind wächst. (Ich verheimliche vorderhand noch, ob es ein Bub oder ein Mädel ist.) Es wird in die Schule geschickt oder kriegt Hauslehrer. Für unsere Untersuchung ist das gleichgültig, weil unter allen Umständen nicht viel gelernt wird. Aber in den Eltern entbrennt ein edler Bildungsdrang. Alles, was sie selber nicht gelernt haben, soll dem Kinde beigebracht werden - und das ist viel! Es gibt Väter, die es zeitlebens als eine bittere Demütigung empfunden haben, daß sie die unregelmäßigen lateinischen Zeitwörter nicht zu konjugieren vermögen. Sie fordern es vom Schicksal als einen schuldigen Ausgleich, daß für ihre Söhne selbst die Verba auf mi kein Geheimnis mehr enthalten sollen. Es gibt Mütter, die der eleganten Heranziehung ihrer Töchter zuliebe wieder anfangen, französisch zu sprechen, um ihre Gedanken zu verbergen. Und Geographie, Physik, Chemie, Algebra, Trigonometrie, Stenographie, Turnen, Religion, Tanzen, Literatur, Kunstgeschichte, Statistik, Philosophie, Schönschreibekunst, Musik - weiß ich was noch? Kurz: Bildung. Bildung! . . . Nun, meine Damen und Herren, ist dieser schöne Drang nach Bildung, der den Eltern, und nur den Eltern innewohnt, etwa kein Erziehungsresultat, welches den Kindern zugeschrieben werden müsste?

Wir sind aber noch nicht fertig. O, noch lange nicht! Die letzten mit jungfräulichem Schnee bedeckten Spitzen meiner These erklimmen wir erst jetzt . . . Die ausgebreitete Unwissenheit, welche wir „allgemeine Bildung“ nennen, bekommt eines Tages Löcher. Es entstehen Lücken in der Ignoranz und für dieselbe ist die Bezeichnung „Spezialfach“ im Schwange. Der junge Mann wählt irgend einen Beruf, den gewählt zu haben er späterhin unbedingt bereuen wird. (Einen Augenblick, meine Damen, Sie kommen gleich wieder an die Reihe.) Der Jüngling wird also Fachmann. Er entschließt sich, mit Rechtsbegriffen, Hasenhäuten oder Idealen zu handeln. Der Vater folgt ihm in den neuen Beruf blindlings nach. Alterdings nicht mittätig, aber doch als wahrhaft fachverständiger Beurteiler. Der Vater eines Advokaten wird immer ein großer Jurist. Der eines Händlers mit Hasenhäuten wird ein Kenner von Hasenhäuten, selbst wenn er vorher die Erzeugung von Unterhosen als seinen eigentlichen Lebenszweck angesehen hatte. Der Urheber eines Künstlers wird ein gefährlicher Kritiker. Der stolze Vater eines Berufssoldaten wichst sich unwillkürlich den Schnurrbart steifer, seit sein Sohn das Porte-épée trägt . . . Hin gegen kommt es viel seltener vor , daß der Sprössling seinem Erzeuger im Berufe nachfolgt. Es trifft sich wohl, dass ein Virtuose der Weinbranche seinen Erben in der Kunst, echte Getränke herzustellen, unterweist. Oder daß ein Fabrikant von Romanen seinem Sohne die Kundschaft hinterlässt. Aber in der Regel will das Söhnchen höher hinaus, als Väterchen. Die einzige Ausnahme ist vielleicht, wenn Papa an einer Hanfschlinge gestorben ist . . . Also auch in der Gestaltung der Carrière wird der Vater vom Kinde stark beeinflusst. Das ist doch ein wichtiges Erziehungsmoment. Nicht?

Die merkwürdigste Wirkung übt jedoch das Geschlecht des Kindes auf den Charakter der Eltern aus. Und dies ist der Punkt, meine Damen und Herren, an welchem Sie einsehen werden, daß ich nicht ohne triftige Gründe den Namen der römischen Matrone meinen ernsthaften Ausführungen vorausgesetzt habe. -Was war Cornelia? Eine Mutter, eine geprüfte und beeidete Mutter. Ich habe alle Anerkennung für diese Wirksamkeit, ja ich bewundere sie sogar, wie jede Leistung, die ich nicht nachahmen kann - aber schließlich wird nicht einmal ein Gymnasialprofessor leugnen daß es noch eine Anzahl anderer Damen in und außerhalb der Geschichte gegeben hat, die Mütter waren. Auch daß ihre Söhne das Metier der Popularität geschickt betrieben, kann nicht zur Erklärung von Corneliens Berühmtheit ausreichen. Es waren viele große Männer da, deren Mütter man uns nicht auswendig lernen ließ. Wissen Sie zum Beispiel etwas von der Mama des Homer oder des Epaminondas oder des Cromwell? Ja? Ich auch nicht . . . Von Madame Cornelia jedoch wird allen aufeinanderfolgenden Generationen Mitteilung gemacht. Und die unsterbliche Anekdote wird immer wieder vorgetragen: wie eine putzsüchtige Römerin zu Cornelia auf eine Tasse Kaffee kam (ich erwarte die Berichtigungen der Gelehrten) und mit ihren Schmucksachen prahlte. „Und wo haben Sie Ihre Juwelen, Frau von Cornelia?“ fragte sie zum Schluss mit leichter Ironie. Cornelia verschwand für einen Augenblick und holte ihre Bübchen Cajus und Tiberius, die sich gerade brüderlich geprügelt, herein, nachdem sie ihnen vorher die römischen Näschen geputzt hatte. Und sie sprach: „Das sind meine Juwelen!“

An den Wortlaut erinnere ich mich nicht mehr, denn es ist lange her, aber so war’s beiläufig. Sie werden zugeben, meine Herrschaften: als Bonmot betrachtet ist das ein mäßiger Gedankenblitz. Ich glaube nicht, daß die „Fliegenden Blätter“ dafür fünf Mark Honorar bezahlen würden. Sollten sich die Unterweiser der Jugend so und so viele Jahrhunderte hindurch über den Wert dieses Ausspruchs getäuscht haben?
Nein, sie haben sich nicht getäuscht. Wissen Sie, was die schalkhafte Cornelia eigentlich meinte? Söhne sind Kostbarkeiten, denn man bekommt für sie viel Geld - wenn sie heiraten. Cornelia sprach von der Mitgift. Ich weiß im Augenblick nicht, wie Tribunen an der Heiratsbörse in Rom notiert waren, aber jedenfalls hatten sie Anspruch auf eine größere Dos - wie das Schmerzensgeld des Ehemannes auf Lateinisch heißt - als ein noch so fleißiger kleiner Beamter. Begreifen Sie nun? . . . Cornelia ist tatsächlich in einer günstigeren Lage, als die arme Frau mit den Pretiosen, in der wir offenbar eine Mama von Töchtern sehen müssen. Der albernste Junge heiratet (er heiratet) , und das reizendste Mädel wird geheiratet (sie wird geheiratet). Ich beklage das mit Ihnen, meine verehrten Damen, aber ich fühle leider nicht die Kraft in mir, ein so festgewurzeltes Übel mit einem Axthieb zu fällen.

Es ist klar, daß unter diesen Umständen das Geschlecht des Kindes charakterbildend auf die Eltern wirkt. Der Vater von Söhnen hat es viel leichter, als der von Töchtern. Man wird den Erstern ungleich häufiger in Vergnügungslokalen sehen, als den Letzteren. Ich meine da nicht die Ballsäle, die ja für den Ballpapa nicht als Erlustigungsorte gelten können. Der Eine ist guter Dinge, der Andere besorgt. Jener ein Springinsfeld, dieser ein Hockzuhaus. Welch’ ein Erziehungsresultat der Kinder! . . . und die Mutter! Sie haben den selbstbewussten, ja sogar arroganten Ton der Cornelia gehört. So sind sie Alle, die Cornelien. Viel liebenswürdiger, urbaner, zuvorkommender, gewinnender benimmt sich die Tochtermutter. Das kleine Geflunker mit den Edelsteinen ist vielleicht nicht vom geklärtesten Geschmack, aber der Weltkundige wird es ihr verzeihen. Im Allgemeinen ist die Frau mit den Pretiosen ein umgänglicheres Weib, als die mit den Söhnen. In den Häusern, wo ledige Töchter sind, herrscht ein viel zierlicherer Ton, als in den anderen. Die Tochter mildert die Sitten, der Sohn macht sie rauer. Der Fall kann sich komplizieren: in einer Familie sind Söhne und Töchter. Da werden jedenfalls die Letzteren die Oberdominante bilden, die Ersteren nur die Subdominante - wenn ich mich im Volapük der Musikgelehrten ausdrücken darf . . . wie überwältigend die ,,elternagogische“ Macht der Kinder ist, das können Sie an vielen merkwürdigen Beispielen gewahren. Ich begnüge mich mit einem einzigen, das Sie gewiss schon oft in der Welt gesehen haben. Bekanntlich hat die Vorsehung dem Menschen die Wahl nicht gestattet, ob er Knaben oder Mädchen als Nachkommen wolle. So begibt es sich denn zuweilen, daß eine Dame, die sich zur Mutter von sechs Dragonern viel besser geeignet haben würde, blos mit zwei allerliebsten Töchtern den Kampfplatz beiritt. Nun, selbst in diesem gewiss schwierigen Falle wird man ein freilich nicht immer von Erfolg gekröntes Bestreben, liebenswürdig zu sein, bei ihr entdecken. Mich ergreift ein solcher Anblick stets mit inniger Rührung, weil ich bedenke, wie mühsam dieses gequälte Weib die unaussprechlichen Grobheiten hinunterwürgen muss. Immer ist die Erziehungsgewalt der Kinder siegreich.

Nachdem ich dies festgestellt, sollte ich mich eigentlich mit einem hinreißenden Lächeln zurückziehen. Noch einen Augenblick! Ich befürchte, einen Stachel im Gemüte der Nicht-Cornelien zu hinterlassen... Meine Damen und Herren! Ich würde mich für verpflichtet halten, Ihnen mit blutendem Herzen das Eintrittsgeld zurückzugeben, wenn ich mich außer Stande fühlte, am Schluss dieser Betrachtungen den Weg nach einem schöneren Utopien zu zeigen. Noch jeder sonderbare Weltverbesserer hat dies getan. Und ein solcher Thomas Morus bin auch ich. Mein Vorschlag gründet sich auf einen der wenigen unbestrittenen Sätze der Volkswirtschaftslehre: von Angebot und Nachfrage! wenn Cornelia hochmütig und rücksichtslos sein kann, so geschieht es, weil die Gracchen spärlich gesät sind. Es gilt also, die Anzahl der Gracchen, das heißt: Musterbilder männlicher Tugenden, zu vermehren. Geht denn das auf künstliche Weise? Jawohl. Was in der Literatur möglich ist, kann im Heiratswesen nicht undurchführbar bleiben. Die Herstellung von großen Männern ist heutzutage das Geheimnis des marktschreierischen Polichinell’s. Ich bitte also um Calmi-Gracchen zur Drückung der Preise. Nur so ist Cornelien beizukommen. Wenn eine Überproduktion an bedeutenden Männern eintritt, dann wird sich die Situation wesentlich ändern, ich wage zu behaupten: verbessern! Cornelia wird genötigt sein, viel weniger für ihre Juwelen zu verlangen, ja, endlich dieselben tief unter dem Schätzungswerte hinzugeben. Der erlösende Gedanke ist, mit einem Worte: Ein Krach in Gracchen!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Buch der Narrheit.