Gesellschaft.

Auf acht Uhr hat die Einladung gelautet. Es ist neun. Noch Niemand da. Der Herr des Hauses geht in gereizter Stimmung auf und ab. Die Frau scheint in die Betrachtung ihrer Fußspitzen versunken zu sein. Heuchelei. Sie will nur jetzt - ausnahmsweise - einem Konflikt mit ihrem Gatten aus dem Wege gehen. Er hat bereits drei Mal, nicht ohne Ironie, die Bemerkung gemacht: heute könnten die lieben Gäste wieder nicht spät genug kommen. Sie lächelt sanft zu seinen Worten - ein Opfer mehr, das sie der Gesellschaft bringt. Denn die Leute können jeden Augenblick eintreffen. Aber es kocht in ihr. Er ahnt nichts von der Gefahr und meint äußerst sarkastisch „Einer will nobler sein als der Andere.“

Sie zeigt ihm in einem milden Lächeln ihre Zähne: „Du kannst es ja gar nicht erwarten.“


Er darauf, tief erbittert: „Oho! Mir wäre lieber, sie blieben ganz weg.“

Sie, noch immer in engelhafter Güte: „Schade, daß ich das nicht früher wusste!“

,,Du hast es gewusst.“

„Ich meine: bevor wir anderswo Einladungen annahmen. Denn ich bin keine Schmarotzerpflanze.“

„Das soll offenbar heißen, daß ich ein Schmarotzer sei.“

„Auf generösen Regungen lässt Du Dich allerdings nicht oft ertappen.“

„Du redest genau so, wie wenn Du mir auch nur einen Heller Mitgift zugebracht hättest ...“

Sie will sich empört erheben, ihr hübscher Mund öffnet sich zu einem hässlichen Worte - da geht die Türe auf. Im Nu ist Alles verwandelt.

Der erste Gast!

Er sieht in zwei angenehm lächelnde, von sonniger Liebenswürdigkeit strahlende Gesichter. Der Hausherr eilt ihm entgegen, schüttelt ihm mit beiden Händen die Rechte, wie einen Brunnenschwengel. Die Gnädige hat sich in ihrem Fauteuil ein wenig aufgerichtet, und während der Gast ihre zarte parfümierte Hand an seinen wohlgebügelten Schurrbart drückt. erwidert sie seine Frage nach ihrem Befinden mit der teilnahmsvollen Gegenfrage: „Und Sie?“ Nichts ist ihnen gleichgültiger, als wie sich der Andere befindet.

Der erste Gast! Er findet eine ziemte kühle Temperatur und gar keine Stimmung vor. Man redet mit ihm von allen möglichen Dingen, tauscht eiligst einige Personalnachrichten aus; Verlobungs- und Ehescheidungsgerüchte haben weitaus den Vorzug. Mit solchen Stoffen ist freilich nicht ein jeglicher Tag gesegnet. In dürftigen Zeiten muss man mit geringerem Klatsch vorlieb nehmen. Dabei gibt es aber tödliche Pausen in der Konversation. Jeden Moment reißt der dünne Faden entzwei. Der Hausherr stiert vor sich hin. Die Gnädige lächelt nervös und zerstreut. Der Gast fühlt sich recht, recht unbehaglich. Er verflucht den Kutscher, der nüchtern gewesen und ihn so schnell hierhergebracht; die Pferde, weil sie gerade heute nicht gestürzt sind, was eine sehr willkommene Verzögerung ergeben hätte. Denn der erste Gast ist immer eine lächerliche Figur.

Es kann im Interesse des geselligen Verkehrs nicht hoch genug angeschlagen werden, daß sich bei jeder Zusammenkunft mindestens Einer findet, der diese undankbare Rolle übernimmt. Merkwürdigerweise sammelt sich gerade auf diesem Ersten aller Hass und alle Verachtung, als wenn er der Unpünktlichste gewesen wäre. Ein kleiner Beitrag zur Erkenntnis menschlicher Gerechtigkeit . . .

Dann speit die geöffnete Tür zwei neue Besucher auf einmal aus. Der Hausherr eilt ihnen entgegen, die Gnädige hat ein bestrickendes Lächeln für sie auf den Lippen: „Und Sie?“ Nichts ist ihr gleichgültiger. Der erste Gast lehnt sich beschaulich zurück, stellt Beobachtungen an über die Warze, welche hinter dem rosigen Ohr der Hausfrau im Verborgenen gedeiht. Oder er betrachtet die Einrichtung dieser Parvenus, die sich ihren Geschmack beim Tapezier einkaufen: Alles neu, prunkhaft und canaille . . .

Derweile sind noch ein paar Gäste gekommen. Darunter Damen. Die Damen überfliegen gegenseitig ihre Toiletten mit einem durchbohrenden, blitzschnellen, eisigen Blick, und sie wissen Alles. Den Werth der Brillanten, die neckischen Absichtlichkeiten der Frisur, die Dicke der Veloutineschichte, das heimlichste Bändchen, die Kosten der „Robe“, den Preis des Stoffes, den Namen der Schneiderin - sie erraten, erkennen, wissen sofort Alles. Ein im Taxieren ergrauter beeideter Schätzungskommissär würde Stunden zur Bewältigung der Untersuchung brauchen, die sie mit diesem einen Blick vollziehen. So fabelhaft geschwind ist das geschehen, daß gar kein Intervall zwischen Erscheinen und Begrüßung zu liegen scheint. „Wie befinden Sie sich?“ - „Und Sie?“ Man tauscht abermals Personalnachrichten aus; immer dieselben. Verlobungs- und Ehescheidungsgerüchte haben den Vorzug.

Das Gespräch wird lebhafter. Doch Alle reden das Gleiche. Dann eine kleine Sensation. Ein Herr ist eingetreten. Allgemeine Spannung bewillkommt ihn in der schmeichelhaftesten weise. Es ist der Salon - Courier: er weiß immer das Neueste. Fünf Minuten lang ist er der Held des Abends. Wie der endlose Papierstreifen aus dem Munde des Jahrmarkts-Zauberkünstlers, entflieht dem Gehege seiner Zähne das on dit des Tages. Er würde sich lieber den Bauch ausschlitzen, als ohne eine Neuigkeit zu erscheinen. Wenn es keine gibt, so erfindet er sie. Er kann sie ja morgen widerrufen. Das ist wieder was. Er hat nur einen Fehler: er gibt sich zu schnell aus. Nach fünf Minuten - in dürftigen Zeiten schon nach dreien - ist er fertig. Eine ausgepresste Zitrone. Man wirft ihn dennoch nicht weg. und wenn er an diesem Abend nicht noch etliche andere Gesellschaften zu besuchen hat, bleibt er da. Geht freilich nicht müßig umher, sondern - sammelt für morgen.

Das war wie eine Vorfütterung. Jetzt löst man sich in kleine Gruppen auf, trägt die vom Saloncourier hingeworfenen Stücke zwischen den Zähnen in verschiedene geschützte Ecken und Nischen. Das Verspeisen beginnt. Der Hofrath und noch einige Herren haben sich schon früher in das Spielzimmer gedrückt. Von den Zurückgebliebenen nimmt Jeder die Pose an, die ihn aufs Vorteilhafteste zur Geltung bringt. Die junonische Frau sucht sich einen dunklen Hintergrund für ihr Profil. Der Herr mit der weißen Weste lehnt sich nachdenklich an eine mannshohe japanische Broncevase, weil das Sitzen von den übelsten Folgen für seine Weste begleitet ist; die unteren Enden würden sich nämlich emporsträuben - der ganze Effekt wäre dahin. Ein holdes junges Mädchen mit süßen Augen neigt das märchen-blonde Haupt dicht an die schwarzen Haare einer Dame, die sie nicht ausstehen kann. Sie will Vergleichungen ermöglichen, auch hat sie der Anderen etwas Abscheuliches von einer gemeinsamen Freundin zu erzählen. Der schöne junge Mann lässt sich von einigen jüngeren und älteren Damen anbeten. Ein „bekannter“ Dichter - er gehört nämlich zu den Bekannten des Hauses - sitzt in äußerst elegischer Haltung da, starrt wie traumverloren in die Luft. Sinnt er ein Liebeslied aus? Nein, er hat Hunger.

Liebliche Frauen, angenehme Herren rings. Ein anmutiges und elegantes Bild. In dem Hause jenseits der Straße, knapp unter dem Dache, wohnt vielleicht ein armer Student, der zu den strahlenden Fenstern hereinsehen kann. Er muss das für eine Märchenwelt halten . . .

Zu Tisch!

Einige kleine Unglücksfälle. Der Dichter ist zu weit unten platziert worden. Er wird diese Missachtung, diese Hintansetzung in seinem ganzen Leben nicht vergessen. Die junonische Frau wird durch ein großes Blumenbouquet maskiert. (Wenn das nicht in böswilliger Absicht geschehen ist?) Der Saloncourier ist zwischen zwei jungen Mädchen eingepfercht, von denen er nichts erfahren kann, was sie nicht wissen dürfen. Ja, wenn sie ihm sagen dürften, was sie wissen! . . . Der Hofrath sitzt an der Seite der Hausfrau. Er ist tief verstimmt, weil ihm ihr Mann im Whist elf Gulden fünfzig Kreuzer abgenommen hat. Für dieses Geld konnte er dreimal gut soupieren. Dem Herrn mit der weißen Weste schüttet seine Nachbarin unversehens einige Tropfen der grünen Fischsauce auf die weiße Weste. Sie entschuldigt sich vielmals.

Er, mit zerfleischtem Gemüt, aber heroischem Lächeln: „O, meine Gnädige, das hat ja gar nichts zu bedeuten ...“

Nichts? Es ist ganz einfach ein verdorbener Abend für ihn . . . und so jagt ein kleines Unglück das andere um den ganzen Tisch herum. Man amüsiert sich prächtig. Der Herr mit der weißen weite, der Hofrath, die junonische Frau, und noch ein oder zwei Leute nehmen sich fest vor, nie mehr einen Fuß in dieses Haus zu setzen.

Allmälig wird man dennoch warm, weil - weil es warm wird. Essen und Trinken, die Gasflammen, der Duft der Weine, die Parfums der Frauen, die Worte, die man selber spricht, all das heizt ein. Die Konversation wird tumultuarisch. Man redet nur eine Nuance lauter als schicklich, weil auch die Nachbarn nicht mehr flüstern. Die Damen kichern, die Herren lachen, die Gesichter röten sich, man schwatzt dummes Zeug, hält sich für geistreich, wird dafür gehalten.

Dann Ende der Tafel. Die Damen puffen ein wenig an ihren Kleidern herum, werfen im Vorüberstreifen einen prüfenden Blick in den Spiegel, ziehen sich in die Salons zurück. Die Mehrzahl der Herren steht in Gruppen da, ergötzt sich während der Dauer einer Zigarre an unsauberen Anekdoten.

Später vereinigt man sich wieder, nimmt die anmutigen Posen wieder auf, aber ermüdet. Das blonde junge Mädchen singt auf allgemeines Verlangen ein paar schmachtende Lieder miserabel vor. Der Dichter lässt sich erweichen, etwas Lyrisches, das von ihm ist, von sich zu geben. Es wird sogar getanzt.

Und endlich, jählings ist die Erschlaffung da. Oder ist nur der Souperrausch verflogen? Die Stimmung wird wieder grau wie zu Anfang. Einer gibt das Zeichen zum Aufbruch; die anderen folgen ihm hastig, wie in eine Erlösung. Herr und Frau vom Hause haben noch für Jeden ein schmeichelndes Wort, einen treuen Händedruck, einen lächelnden Blick.

Wie aber der Letzte hinaus ist, schwindet plötzlich die angenehme Grimasse von Beider Zügen. Er ist erschöpft und schläfrig. Sie jedoch, sie nimmt bösartig das Thema wieder auf, das sie verlassen mussten, als der erste Gast seinen Einzug hielt.

Einen ganzen Abend lang hatte sie sanft und liebenswürdig dreingesehen, während es in ihr zischte und grollte. Lang hatte sie die wütende Replik hinunterwürgen müssen. Jetzt endlich kann sie losbrechen: „Wenn ich auch nur einen Heller Mitgift gehabt hätte, würde ich Dich nicht genommen haben! . . .“

Und das nennen die Leute ein Vergnügen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Buch der Narrheit.