An Lina Duncker - Gattin des Berliner Verlegers Franz Duncker. - Zürich-Hottingen, Gemeindegasse, den 13. Januar 1856.

Liebe Frau Duncker!

Da ich das Buch für Herrn Duncker noch nicht fertig habe, so will ich einstweilen noch an Sie schreiben und zu Händen Ihres werten Hauses Ihnen anzeigen, daß ich mich schon seit vier Wochen zu Hause befinde und meine liebe Mutter und Schwester wohl und munter angetroffen habe. Erstere ist sehr dauerhaft und hat sich in den sieben Jahren fast gar nicht verändert, sie macht alles selbst und läßt niemand dreinreden; auch klettert sie auf alle Kommoden und Schränke hinauf, um Schachteln herunterzuholen und Ofenklappen zuzumachen. Ich mußte mir eine Serviette zum Essen förmlich erkämpfen, und da gab sie mir endlich ein ungeheures Eßtuch aus den neunziger Jahren, von dem sie behauptete, daß es wenigstens vierzehn Tage ausreichen müsse! Ich kann es wie einen Pudermantel um mich herumschlagen beim Essen. Meine Schwester ist eine vortreffliche Person und viel besser als ich; als ich eines Tages wieder melancholisch war und die Mutter in der Zerstreuung etwas anfuhr, ohne es zu wissen, rückte mir Regula auf das Zimmer und hielt mir eine so scharfe Predigt, daß ich ganz kleinlaut und verblüfft wurde. Beide hatten große Freude, als ich kam, aber ich habe ihnen auch nicht im mindesten imponiert!...


Hier in Zürich geht es mir bis dato gut, ich habe die beste Gesellschaft und sehe vielerlei Leute, wie sie in Berlin nicht so hübsch beisammen sind. Auch eine rheinische Familie Wesendonck ist hier, ursprünglich aus Düsseldorf, die aber eine Zeitlang in Neuyork waren. Sie ist eine sehr hübsche Frau, namens Mathilde Luckemeier, und machen diese Leute ein elegantes Haus, bauen auch eine prächtige Villa in der Nähe der Stadt, diese haben mich freundlich aufgenommen. Dann gibt es bei einem eleganten Regierungsrat feine Soupers, wo Richard Wagner, Semper, der das Dresdner Theater und Museum baute, der Tübinger Vischer und einige Züricher zusammenkommen und wo man morgens zwei Uhr nach genugsamem Schwelgen eine Tasse heißen Tee und eine Havannazigarre bekommt. Wagner selbst verabreicht zuweilen einen soliden Mittagstisch, wo tapfer pokuliert wird, so daß ich, der ich glaubte aus dem Berliner Materialismus heraus zu sein, vom Regen in die Traufe gekommen bin: An diversen züricherischen Zweckessen bin ich auch schon gewesen; man kocht sehr gut hier, und an Raffiniertheiten ist durchaus kein Mangel, so daß es hohe Zeit war, daß ich heimkehrte, um meinen Landsleuten Moral und Mäßigung zu predigen, zu welchem Zweck ich aber erst alles aufmerksam durchkosten muß, um den Gegenstand recht kennen zu lernen, den ich befehden will...

Wir wohnen parterre in einem Garten, am Fuß eines Berges, der von Gärten und Gehölzen bedeckt ist, so daß der Frühling wieder einmal sehr schön für mich werden wird, es ist aber auch Zeit dazu. Nur soll es eine Menge Spinnen geben, die im Sommer aus dem Garten in die Stuben kommen.

Berlin habe ich schon gänzlich vergessen, was sich erwarten ließ. Dennoch sind nicht üble Leute dort, wenigstens zeitweise, und ich danke Ihnen auch besonders für alle mir erwiesene Freundlichkeit...

Darf ich Sie bitten, inliegendes Briefchen etwan auf die Stadtpost werfen zu lassen? Herrn Duncker werde ich bald schreiben und bitte mich bis dahin empfohlen sein zu lassen.

Ihr ergebenster
Gottfried Keller.
Zürich-Hottingen, Gemeindegasse, den 13. Januar 1856.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe