Abschnitt. 2

Er dankte mir für diesen Rath, den er zu befolgen versprach und verließ mich, nachdem er den Namen von Bonnets Wohnort sorgfältig in sein Taschenbuch eingetragen hatte.

Gestern Nachmittags, als Bonnet eben Schach spielte, wurde ein Fremder eingeführt, den ich sogleich für den Mann von gestern erkannte. Bonnet empfing ihn mit der herzlichen und zuvorkommenden Güte - die Du an ihm kennst, und nötigte ihn auf den Sopha. Nachdem der Faden des Gesprächs durch die gewöhnlichen Formeln, von wannen? und wohin? angesponnen war, tat Bonnet die Frage an ihn:


„Sie haben sich wahrscheinlich auch mit der spekulativen Philosophie beschäftigt?“

Der Fremde. Nein, das nicht; aber ich habe gestern alle Ihre Werke gesehn. Bonnet. Gesehen? — Hier hielt er etwas inne, fuhr aber in der Meinung, der Fremde, der das Französische sehr schlecht sprach, habe sich im Ausdrucke geirrt, sogleich fort: Nun, es wurde mich freuen, wenn meine Schriften von einigem Nutzen für Sie gewesen waren. Hat vielleicht irgend etwas darin einen vorzüglich lebhaften Eindruck auf Sie gemacht?

Der Fremde. Ja, das sind besonders die Gletscher; denn sie sind ganz vortrefflich natürlich, (excellens naturels, war sein Ausdruck.) Man braucht kein Oedipus zu seyn, um hier sogleich zu erraten, daß er im Buchladen Bourrit, der auch auf seiner Liste stand, mit Bonnet verwechselt, und man ihm daher dessen Alpenreisen gezeigt hatte, worin die Kupfer seine Aufmerksamkeit wahrscheinlich am stärksten angezogen haben mochten. Bonnet merkte den Irrtum sogleich, und es war mir rührend, wie er, anstatt die Verlegenheit des Fremden (hundert andre hätten dies an seiner Stelle gethan) zu einer pikanten Szene zu benutzen, mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke von Güte und Schonung, dem Gespräche plötzlich eine andre Wendung gab und ihn nach seiner Heimat, seiner Familie, ja sogar nach seinen Hunden und Pferden fragte.

Solche Züge, die beim ersten Anblicke unbedeutend scheinen, sind es hauptsächlich, wodurch Plutarch ein so warmes Leben und eine so täuschende Darstellung in seine Biographien brachte, daß Timoleon, Dion und Philopömen, uns nicht wie Geisterscheinungen aus dem grauen Altertume vorschweben, sondern wie vertraute Bekannte, mir denen wir Jahre lang in Einer Stadt oder unter Einem Dache wohnten, lebendig vor uns dastehen. Nach allem was wir in den Denkwürdigkeiten des Sokrates lesen, wäre dieser Weise, bey ähnlicher Veranlassung, einer solchen Schonung nicht fähig gewesen; und welche bittre Spottlauge ergoss nicht Voltaire über jenen Reisenden, dem man aufgeheftet hatte, alles was geschrieben und gedruckt sey, habe Voltaire geschrieben und drucken lassen, und der sich, weil Rollins alte Geschichte die einzige Lektüre war, deren er sich noch erinnerte, in dieser Voraussetzung, mit folgender Anrede bei ihm einführte: „Ich habe mit eben so vielem Nutzen als Vergnügen Ihre alte Geschichte von Rollin gelesen“.

Du kennst Bonnets warme Vaterlandsliebe, und wie das wechselnde Steigen und Sinken der Republik Genf, welche seit seiner Geburt allein neunmal durch innerliche Unruhen erschüttert wurde, ihn bald mit der tiefsten Wehmut bald mit der lebhaftesten Freude erfüllt; es bewegte mich daher innig, als er neulich, bei Wiedererblickung seiner Vaterstadt, die er seit vielen Jahren nicht gesehen hatte, und wohin ihn wichtige Geschäfte riefen, in die Worte des sterbenden Paolo Sarpi ausbrach: Esto perpetua!

Bonnet hört mich sehr gern von Deutschland, am liebsten aber vom großen Friedrich erzählen, den er verehrt und von dessen häuslichem Leben er durch seinen Freund Merian ziemlich viel weiß. Er pflegt ihn entweder mit dem Cäsar, dem er hauptsächlich darin am nächsten kommt, daß er nie Zeit verlor, oder, noch passender, besonders in Absicht der Höhe, zu welcher ein an sich mittelmäßiger Staat durch ihn sich aufschwang, mit dem Epaminondas zu vergleichen.

Wir haben Herrn Volney, in den Abendstunden bei Madame Bonnet, mit immer wachsendem Interesse auf seiner Reise durch Syrien, und Ägypten begleitet, und ihn vor einigen Tagen mit Bedauren am Ziele seines Laufs verlassen.

Wir glaubten hier nicht, wie bey Savarys Briefen der Fall war, ein rosenfarbnes Feenmährchen aus den Tausend und Einer Nacht zu lesen, sondern die männliche Erzählung eines mit Scharfsinn, Beobachtungsgeist und allen nöthigen Vorkenntnissen ausgerüsteten Reisenden, dem Wahrheit und getreue Darstellung heilig sind.

Jetzt haben wir die Korrespondenz des Königs von Preußen mit Voltaire angefangen. Kaum hatten wir einige Briefe gelesen, als wir wie aus Einem Munde ausriefen: Wie tief steht Voltaire unter Friedrich! Dies bestätigte sich immer mehr, je weiter wir vorrückten. Welche niedrige Schmeichelei, welcher kleinliche Gernwitz, welche seichte Raisonnements in Voltaires, hingegen welches erhabene Selbstgefühl, welcher Adel des Ausdrucks, welche Blitze des Genies in Friedrichs Briefen!

Ich bin spätstens in acht Tagen in Nion. Hoffentlich bist du dann schon wieder zu Hause. Gedenke mein am Fuße des Süchet und in der Grotte von Montcherand. Vale et bene rem gere.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe von F. Matthisson