Abschnitt. 1

Genthod bei Genf. 12. Jun. 1788.

Bonnet schlug mir vor, meinen Aufenthalt bei ihm noch um einige Tage zu verlängern, mein geliebter Bonstetten! Du wirst daher deine kleine Reise wohl allein machen müssen.


Er fährt in den Morgenstunden fort, seine Werke mit mir zu lesen. Jetzt sind wir bei den Naturbetrachtungen. Ich lese laut, und wo es einer Erläuterung bedarf, giebt er mir dieselbe mit der Klarheit und Präzision, die ihm in so hohem Grade eigen ist. Lange verweilten wir gestern bei der Weidenraupe (Phaloena Cossus. L.) und dem von Lyonnet darüber geschriebenen Werke, mit welchem ich bei dieser Gelegenheit zuerst bekannt wurde. Die Entstehungsgeschichte dieses Buches ist merkwürdig. Lyonnet, der mit der brennendsten Leidenschaft für die Naturgeschichte, ungewöhnliche Beharrlichkeit, hohe Ruhmbegierde und scharfen Beobachtungsgeist verband, nahm sich vor, eine ganz neue Bahn zu betreten, und ein Werk aufzustellen, welches in jedem Betrachte einzig wäre. Er verfiel zuerst auf die Blattläuse; dann auf die Polypen: aber, durch eine der wunderlichsten Launen des Zufalls, wurde bei jenen Bonnet sein Nebenbuhler, und bei diesen Trembley. Nun kam es darauf an, einen Pfad ausfindig zu machen, der, durch die auf demselben vereinigten Schwierigkeiten, ihn vor jedem Folger sicher stellte. Er erreichte diesen Zweck durch die Zergliederung der Weidenraupe. Aber kein Zeichner wollte die dazu nöthigen Tafeln übernehmen, weil Lyonnets-Forderungen zu übertrieben schienen, als daß nicht ein jeder dadurch hätte zurückgeschreckt werden müssen. Er lernte daher selbst zeichnen, und brachte es in kurzer Zeit so weit, daß er im Stande war, die unglaublich schweren Zeichnungen mit einer Feinheit und Genauigkeit auszuführen, die alle Künstler und Kenner in Erstaunen setzte. Da es ihm mit den Kupferstechern gieng wie mit den Zeichnern, und auch kein einziger von ihnen sich Geschicklichkeit genug zutraute, dem viel verlangenden Manne Genüge zu leisten, so lernte er auch diese Kunst, und brachte es bald zu jenem hohen Grade von Vollkommenheit, der die Kupfertafeln zu seinem Werke vor allen ähnlichen auszeichnet: Lyonnets Bildnis verdiente die Unterschrift: Man kann was man will, mit mehrerem Rechte, als die Figur jenes längst vergessenen Kraftmannes in Lavaters physiognomischen Fragmenten. Folgender Zug gehört noch ganz eigentlich zur Charakteristik dieses außerordentlichen Mannes.

Ein Seiltänzer im Haag, dessen seltene Geschicklichkeit vom ganzen Publikum angestaunt wurde. reizte Lyonnets Nacheiferungstrieb so lebhaft, daß er ausrief: Dieser Mensch hat nicht mehr Muskeln als ich, und ist nicht anders gebaut; auch ich muss können, was Er kann. Sogleich ließ er ein Seil in seinem Hofe ausspannen, und übte sich mit so eiserner Beharrlichkeit im Seiltanzen, daß er zuletzt seinen bewunderten Meister weit hinter sich zurückließ.

Außer Haller und Bonnet haben vielleicht nur sehr wenige Gelehrte Lyonnets Werk ganz durchgelesen. Auch macht des letztern vortrefflicher Auszug daraus, diese Lektüre, die, selbst für einen leidenschaftlichen Naturforscher zu den herkulischen Arbeiten gehört, ziemlich entbehrlich. Unter Lyonnets Nachlass befand sich auch ein Manuskript über den Schmetterling der Weidenraupe, nebst den dazugehörigen Zeichnungen, dessen Bekanntmachung aber schwerlich zu hoffen ist.

Heute kam ein Brief aus Lissabon, dessen Verfasser gesonnen ist Bonnets analytischen Versuch in das Portugiesische zu übersetzen. Wie tief er in den Sinn seines Autors eingedrungen sey, erhellt, unter andern, auch daraus, daß er ihn für einen Spinozisten erklärt. Sogar dieser aus dem gröbsten Unsinn zusammengewebte Brief soll beantwortet werden; denn Bonnet blieb, wie Leibnitz, nie eine Antwort schuldig.

Mit großem Interesse las ich Bonnets Charakteristik derjenigen Gelehrten mit welchen er Briefe wechselte. Sie ist seiner Korrespondenz angehängt, die schon aus vielen Bänden besteht; von der aber, mit seinem Willen, nie etwas ins Publikum kommen wird. Nur mit Hallers Briefen, vielleicht den wichtigsten und reichhaltigsten von allen, wollte er eine Ausnahme machen; das Manuscript lag auch wirklich schon zum Drucke fertig, als unvorhergesehene Hindernisse die Herausgabe desselben vereitelten. Der große Haller teilte ihm beinahe alles mit, was er in einem Zeitraume von 25. Jahren beobachtete, entdeckte, berichtigte, widerlegte und veranlasste; zum Beispiele, seine Entdeckungen über die Generation, Nachrichten von den Salzwerken in Bex, Darstellungen der Versuche die Sümpfe im Gouvernement von Aigle auszutrocknen, und eine Menge anatomischer, physikalischer, historischer, und moralischer Untersuchungen.

Der Briefwechsel mit dem schwedischen Naturforscher von Geer begann im Jahre 1746. und der mit dü Hamel, dessen Physik der Bäume Bonnet allen seinen Schülern, zur Entwickelung und Übung ihres Beobachtungsgeistes, sehr angelegentlich empfiehlt, im Jahre 1750.

Spallanzanis Briefe enthalten die Resultate seiner wichtigsten Versuche, welche Bonnet, wie dessen Antworten dartun, größtenteils veranlasste.

In Merians Briefen vereinigen sich Gelehrsamkeit, Geschmack, Scharfsinn, und Schönheit der Diktion.

Sulzer, der Bonnets persönliche Bekanntschaft auf seiner Reise nach Nizza machte, schrieb ihm von dorther einige Briefe voll politischer, naturhistorischer- und philosophischer Bemerkungen, die alle mit dem Stempel der Wahrheit und Menschenliebe bezeichnet sind.

Merkwürdige Fremde sind seit einigen Tagen nicht hier gewesen, wohl aber einige junge Reisende, denen ich’s anzumerken glaubte, daß sie lieber ins Kaffeehaus gegangen wären, als zum Weisen von Genthod; die denn aber doch dem Despotismus der Mode, das Antlitz jedes berühmten Mannes anzustaunen, dessen Wohnung nicht allzuweit von der Landstraße abliegt, sich hatten unterwerfen müssen. Unmöglich kann ich der Versuchung widerstehen, dir das Fragment eines Gesprächs zwischen Bonnet und einem dieser Herren mitzuteilen, welches aber einer kurzen Einleitung bedarf.

Ich war vor drei Tagen in Genf und aß an einer Wirtstafel. Ein junger Engländer, der bei mir saß und den ich bald für einen von den Störchen in Lessings Fabel erkannte, denen es selten einfällt, auf ihren Zügen sich um etwas anders, als um die Topographie der Froschgräben zu bekümmern, fragte mich nach Bonnets Wohnung. Auf meine Erkundigung, ob er Bonnets Werke gelesen habe? antwortete er: Nein, die kenne ich gar nicht; aber sein Name steht hier auf meiner Liste. Mit diesen Worten öffnete er seine Schreibtafel, wo folgendes Verzeichnis Genfischer Merkwürdigkeiten zu lesen war:

1. Das Portal der Peterskirche.
2. Die Vereinigung der Arve und Rhone.
5. Das Naturalienkabinet des Herrn von Saussüre.
4. Herr Bonnet.
5. Herr Bourrit.

Da Sie noch nichts von seinen Werken gelesen haben, fuhr ich hierauf fort, so rate ich Ihnen in den Buchladen zu gehen und sich etwas davon zeigen zu lassen; zum Beispiele die Naturbetrachtungen. Lesen Sie einige Kapitel dieses Werks, und Sie werden dann nicht nur weniger verlegen seyn, wenn er Ihnen etwa die Frage thun sollte, ob Sie mit seinen Schriften bekannt sind, sondern überdem auch noch sehr viel Wohlgefallen an dieser Lektüre finden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe von F. Matthisson