Ist Plattdeutsch oder Hochdeutsch die vollkommenere Sprache?

Ich werde nach und nach, in nicht gar zu unregelmäßigen Pausen, meine Gedanken über sprachliche Gegenstände niederschreiben soweit sie mit meinen poetischen Arbeiten in näherer Beziehung stehen. Es kann Ihnen wenigstens keine Last sein sie zu lesen, wir bleiben in einem geistigen Verkehr, den mündlich eine ungebundene Unterhaltung leichthin knüpfte oder naturwissenschaftliche Untersuchungen ernst machten.

Philosophische Fragen knüpfen sich an alles an; wer nicht zuletzt strebt mit seiner geistigen Errungenschaft wenigstens an die Lösung der großen Rätsel des Menschenseins heranzugehen, wen das Leben, und sei es das einer Blume, nicht an den Tod, die Regel an den Zusammenhang des Ganzen erinnert, wem nicht das Wissen eine Angelegenheit des Herzens wird, der weiß schon gar nicht.


Für mich habe ich den Vorteil, dass ich an eine bestimmte Stufe der Anschauung anknüpfen kann wenn ich einer bekannten Persönlichkeit meine Gedanken niederschreibe, — dass ich es mit einer gewissen Freude tue, wenn ich sie Ihnen mitteilen darf.

Manches von dem was ich zu sagen habe wird etwas ganz Gewöhnliches sein, Neues wird wenig vorkommen. Aber wie viel Neues denkt der Einzelne? Ich werde es sogar meistens nur mit alten Vorurteilen zu tun haben.
Ist Plattdeutsch oder Hochdeutsch die vollkommenere Sprache? Ich sage absichtlich nicht schöner oder besser, sondern vollkommener. Die Schönheit ist nur eine Seite, die Bequemlichkeit, die Brauchbarkeit eine andere. Das Englische möchte doch für den Gebrauch auf Kanzel, Markt und Katheder, für Geschichte, für die Wissenschaft, für den Verkehr bequemer sein, aber schön wäre es nicht. „Schön ist was gefällt.”

Es gibt fast keine der s. g. gebildeten europäischen Sprachen, die nicht von irgend einer Seite her als Muster der Vollkommenheit gepriesen ist oder wird, die Griechische von den Gelehrten, die Französische von der halben feinen Welt, wenigstens früher. Jedes Volk lobt seine Sprache, und man verzeiht es ihm, bloß der Norddeutsche ließ sich bis dahin gefallen seine Muttersprache als platt, d. h. hier gemein zu bezeichnen und anzusehen. Eine Zeitlang sprachen geheimnisvolle Stimmen vom Sanscrit als der gottgeschaffenen Urmutter aller indogermanischen Sprachen, von ihrem wunderbaren Glanz in Farbe und Bau, das ist jetzt nicht mehr Mode. Unser Altmeister Jacob Grimm schrieb vor vierzig Jahren vom Gotischen wie von dem Ideal der Schönheit, wovon wir Neudeutsche in Schuld und Sünde abgefallen, vor zehn Jahren hielt er gerade das entgegengesetzte Ende der germanischen Sprachentwickelung, die englische Sprache für die vollendeste.

Ist es möglich hindurch zu finden, wo man auf diese Weise schwankt? vermögen wir es mit unserer Kraft, wo die Besten nur zu tappen scheinen? Ist es der Mühe Wert, wenn man hindurch fände, sich ein Urteil zu bilden? Man könnte vielleicht etwas Besseres tun. Aber ich für meine Person musste mich fragen als ich meine poetischen Arbeiten vorbereitete, ob nicht eine schwächliche Neigung für heimische Klänge mich verführte, im Plattdeutschen eine Schönheit und Vollendung zu finden, die in Wirklichkeit vielleicht nicht darin steckten.

Man sagt ein Genie gehe nicht unter, einmal vorhanden breche es sich von selbst notwendig Bahn. Ich glaube freilich nicht daran, ich glaube dass manchem Genius früh genug die Flügel geknickt werden, dass er nicht zum Fliegen kommt. Man sollte denken auch eine Sprache, wenn sie Lebenskraft hat, müsse sich selbst erhalten, entwickeln, ausbreiten. Diesem Vorurteile gemäß denken viele Vernünftige über Volksdialekte ohne Literatur, wie übers Unkraut gegen ein Gartengewächs oder einen vollwüchsigen Baum. So schrieb Grimm in der Vorrede seiner Grammatik, Volksdialekte seien roh. Ich las dies vor lange mit wahrhaftem Schrecken, denn ich hatte zu viel Respekt vor Jacob Grimms Urteil, ich glaube zu viel.

Wenn ich gegen einen solchen Ausspruch an, der sich namentlich auf das Plattdeutsche bezieht, kämpfend und Schritt für Schritt allmählich zu der Überzeugung gekommen bin dass das Plattdeutsche die vollkommenere der beiden Schwestern sei, so werden Sie schon neugierig werden auf die Gründe aus denen diese Ansicht erwachsen ist.

Könnte ich sie Ihnen nur leicht und klar vorbringen! — Wir wollen zunächst nur einzelne Charakterzüge aufsuchen, hin und her, und wie Sie es bei Bestimmung einer Blume zu machen pflegen, Merkmale sammeln, deren tieferen Zusammenhang wir vielleicht später in einen Gesichtspunkt zusammenfassen können.

Lob und Tadel würde ich lieber gar nicht aussprechen, ich kann es aber nicht vermeiden, ich habe zugleich eine tief Verletzte zu verteidigen. Sollte ich dabei mitunter etwas warm werden, so liegt die Schuld vielleicht nicht bei mir.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe über Hochdeutsch und Plattdeutsch