Samstag, den 20. November.

Samstag, den 20. November

Ein Wiener Gelehrter hat mir in diesen Tagen geschrieben, und ich will Ihnen einiges aus seinem Briefe mitteilen. Eine Art Kerkerluft weht durch alle seine Worte, eine gewisse Trauer ist über seine Reden verbreitet, und so wahr und liebevoll ist alles, was er spricht, daß es mir in das Herz gedrungen. Wie sehr sind die armen Wiener Gelehrten zu bemitleiden! Sie leben im schnödesten Geistesdrucke, und darum und weil sie sich gar nicht aussprechen dürfen, müssen sie die freisinnigen Ideen in Philosophie und Politik weit lebhafter fühlen und müssen viel schmerzlicher von ihnen gequält werden als wir andern, die wenigstens klagen dürfen. Nachdem Herr *** von dem Eindrucke gesprochen, den meine Schriften auf ihn und einen andern gleichgesinnten Freund gemacht, und mir seine Übereinstimmung mit meinen Ansichten lebhaft zu erkennen gegeben, fährt er fort: „Es tut not in so zerspaltener, einheitsliebloser Zeit, daß ihre Besseren und Edleren sich finden, erkennen, lieben und vereinigen für ihr gleiches Ziel – das allein Rechte – die Freude des Menschen und das Wohl der einzelnen wie des ganzen Geschlechts, das ja nur die Summe aller einzelnen ist. Darum ist eben so schön und tief der Satz, den Sie im siebenten Bande Ihrer Schriften aussprechen und gegen den nicht nur die Theologen, sondern alle, die selbsüchtig und Feinde der Freiheit sind, aufstehen – der Satz: die Menschheit ist um der Menschen willen da.


Es ist wohl an der Zeit, daß der eingerissene Ideen-Götzendienst einmal aufhöre und daß der lebendige Mensch nicht mehr einem luftigen Ideal geopfert und mit ihm nicht mehr Experimente angestellt werden. Ihr ausgesprochener Satz, folgerecht durchgeführt, wirft alle Systeme über den Haufen, und statt des toten Begriffs Menschheit steht der lebendige Mensch schaffend im Mittelpunkt der Welt.

Diesen Satz kann aber eben nur wahrnehmen und aussprechen der Mensch, der in sich Kern, Wert und Würde trägt; wer selbst nichts ist, muß sich natürlich entweder unter den Schutz ich weiß nicht welcher Idee als einer eingebildeten Macht begeben, oder er muß geradezu, wenn er scheinbar etwas stärker ist, das Tierrecht des Stärkeren, d.h. die Selbstsucht schlechtweg für sich ansprechen.

Wir sehen auch die Zeit nach dieser Spaltung in zwei Teile geteilt. Der eine, die Gelehrten, brütet über Ideen und sucht im Trüben zu fischen; der andere, die Materiellen, als die Stärkern, spricht geradezu durch Wort und Tat die Selbstsucht aus und tritt den Begriff wie den lebendigen Menschen in allen Verhältnissen mit Füßen, wogegen die andern bloß die Hände ringen und die Vorsehung zum Zeugen der Frevel ausrufen. – Was uns am meisten not tut, ist – Vereinigung...“

Ich erstaune gar nicht, einen Wiener so sprechen zu hören; denn eigentlich ist Österreich die hohe Schule des Liberalismus. Wohin uns andere oft nur philosophische Spekulation führt, dahin bringt jene die Not, und Not ist eine bessere Lehrerin als Philosophie. Hören Sie ferner, was er von Goethe sagt, wobei ich nur nicht begreife, was ihn auf den Gedanken gebracht haben mag, daß ich hierin anderer Meinung sei als er selbst. Ich erinnere mich zwar nicht, je meine Abneigung gegen Goethe deutlich ausgesprochen zu haben; aber sie ist so alt und so stark, daß sie in meinen Schriften doch wohl einmal hervorgeschienen haben muß.

„Was mich aber wundert, ist dies, daß Sie den wilden Goethe öfters anführen. Dieser Mensch ist ein Muster von Schlechtigkeit; man kann in der Weltgeschichte lange suchen, bis man einen seinesgleichen findet. Töricht ist es, daß man immer sagt: Schiller und Goethe, wie Voltaire und Rousseau. Um soviel Rousseau mehr ist als Schiller, um so viel ist Goethe schlechter als Voltaire. Goethe war immer nur ein Despotendiener; seine Satire trifft weislich nur die Kleinen; den Großen macht er den Hof. Dieser Goethe ist ein Krebsschaden am deutschen Körper, und das Ärgste ist noch, daß alles die Krankheit für die üppigste Gesundheit hält und den Mephistopheles auf den Altar setzt und Dichterfürsten nennt. Ja Fürsten-, d.i. Despotendichter sollte er eigentlich heißen.“

Wie wahr, wie wahr das alles, und wie heilsam wäre es, solche Gesinnung – nicht zu verbreiten, sie ist verbreitet genug –, sondern den Mut zu verbreiten, sie auszusprechen. Goethe ist der König seines Volkes; ihn gestürzt, und wie leicht dann mit dem Volke fertig zu werden! Dieser Mann eines Jahrhunderts hat eine ungeheuer hindernde Kraft; er ist ein grauer Star im deutschen Auge, wenig, nichts, ein bißchen Horn – aber beseitigt das, und eine ganze Welt wird offenbar. Seit ich fühle, habe ich Goethe gehaßt, seit ich denke, weiß ich warum. Wir haben oft davon gesprochen, und Sie begreifen meine Freude, in einer Geisteswüste, wie Österreich ist, einem menschlichen Wesen begegnet zu sein, das fühlt und denkt wie ich.

– Saphir wurde von allerhöchsten Händen aus Bayern gejagt, weil er gegen einen Komödianten geschrieben! C'est perruque – würde ein Pariser sagen; aber ich kann nicht lachen darüber. Was helfen Barrikaden gegen solche Charlesdischen, gegen solche Ordonnänzchen? Das kriecht einem zwischen die Beine durch, das macht sich, wie Wasser, durch die kleinste Lücke Bahn. Es ist zum Verzweifeln, daß deutsche Tyrannei zugleich so viel Lächerliches hat: das lähmt den Widerstand. Warum aber unsere Fürsten sich so große Mühe geben, die französische Revolution, die viel Metaphysisches hat, den Bürgern und Landleuten durch Zeichnungen, Modelle und Experimente faßlich zu machen – das begreife ich freilich nicht. Es muß wohl Schickung sein.

–Wenn sich unsere Kaufleute, die viel dabei verlieren, über Belgien ärgern, so lasse ich das hingehen. Aber die andern – sie betrachten das alle aus einem falschen Gesichtspunkte. Es ist wahr, es fanden viel Pfaffenintrigen statt; aber was tut das? Die Belgier haben ihren König nicht länger behalten wollen, sie haben ihn fortgejagt und seine Leute geprügelt – ist das nicht schön und ein gutes Beispiel nachzuahmen? Ein König für Saphir, das ist billig. Herr Wellington ist auch abgesetzt. Wahrhaftig, mich dauern die armen Diplomaten; es kömmt diesen Schwachköpfen gar zu viel auf einmal über den Hals; wie eine Sündflut gießen die Verlegenheiten auf sie herab. Die Änderung des englischen Ministeriums ist für uns auch gut. Lesen Sie im heutigen Constitutionnel, wie der belgische Gesandte in London, Herr v. Weyer, nach seiner Rückkehr öffentlich im Kongresse von seiner Sendung Rechenschaft abgelegt und wie er vor allem Volke erzählte, was Wellington, Aberdeen, der Prinz von Oranien und andere mit ihm verhandelt. Das hat mich sehr amüsiert. Diplomatische Geheimnisse öffentlich in einer Ständeversammlung auszuplaudern, und das während die Verhandlungen noch im Gange sind, das ist unerhört, das ist himmelschreiend – werden sie in Berlin, Wien und Frankfurt sagen.

– Der neue Minister des Innern, Montalivet, ist erst achtundzwanzig Jahre alt. Er war nie Referendär, nie Hofrat, nie Regierungsrat, nie Geheimer Regierungsrat, nie Kammerdirektor, nie Präsident – plötzlich ist er Minister geworden. Es gibt keinen Gott mehr.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe aus Paris.