Zweiter Brief

Meine Freunde!

Was kann, sollte man glauben, einfacher und klarer sein als der Gedanke, dass wir alle, das ganze jüdische Volk, eins sein, einen Willen haben, nach einem Ziele streben müßten? Und besonders jetzt, in diesem schweren Augenblick, da bei uns alles zerstört und vernichtet wird, so dass es schwer zu sagen ist, wo die Vernichtung größer ist, in den Golusländern oder in Palästina, unserer letzten Zuflucht, und es keine Hoffnung mehr gibt, außer auf uns selbst — worüber, sollte man meinen, müßten wir mehr nachdenken, wonach mehr streben, als nach Vereinigung aller unserer Willen zu einem nationalen Wollen, aller unserer Kräfte zu einer nationalen Arbeit? Was ist, sollte man denken, da viel zu fragen, zu erklären, zu reden? Und doch ist das bei uns eine bittere, tiefe Frage, — gerade weil das bei uns eine Lebensfrage ist. So sind alle unsere Lebensfragen, so ist unser ganzes Leben, weil es kein Leben ist, nicht von uns und nicht nach unserem Maß und Ebenbild geschaffen. Unser Leben ist nichts als das Werg aus fremdem Flachs, ein Abfall des fremden Lebens und so verstrickt im fremden Leben, dass wir nicht feststellen können, wo das eigentlich beginnt und endet, was wir unser Leben nennen. Es gibt auf der ganzen Welt kein Volk, das sich in so eigenartig tragischer Lage befände.


Wir haben nicht einmal die drei realen Grundsäulen, deren auch ein politisch unselbständiges Volk nicht entraten kann: Land, Sprache und Arbeit. Wir haben weder unser Land, noch unsere einzige lebende nationale Sprache, die Sprache unserer Seele, noch unsere nationale ökonomische Arbeit. (Wenn wir auch in den Golusländern arbeiten und in großen Massen arbeiten, so ist unsere Arbeit doch nicht national-ökonomisch, sondern sozialökonomisch, weil wir durch sie nicht unser nationalökonomisches Leben schaffen, Chinesen z. B, arbeiten national-ökonomisch in China, aber nicht in Amerika. Und daher steht bei uns der Sozialismus in höherem Ansehen als bei anderen, d. h, das soziale Ideal wirkt auf uns stärker als das nationale.)

Wir haben nicht das Tiefste des Lebens: den nationalen Willen, das nationale Denken, das heißt, uns fehlt die nationale Seele.

Und was ist tragischer, beinahe kann man sagen tragikomischer: gerade in der Zeit, da unser Golus am finstersten war, da wir in einem besonderen Ghetto eingeschlossen waren, hatten wir noch einigermaßen einen nationalen Willen, eine nationale Seele. Aber damals hatte unser Wille, unsere Seele keinen Körper und daher auch — keine Kraft. Wir lebten in der Vergangenheit, in der Welt unserer Eltern, das heißt — in der Luft. Jetzt da es bei uns etwas heller ist, da wir immerhin einen Körper, eine Kraft zu fühlen beginnen, — haben wir keinen Willen, keine Seele. Wir leben in fremden Welten, das heißt — wieder in der Luft. Unser Wille, unsere Seele ist in so viele Stücke zerrissen, unter wie viel Völker wir zerstreut und aufgeteilt sind oder wie viel es bei diesen Völkern Parteien gibt, wie viel Ideale und Theorien sich aus ihrem Leben schaffen lassen. Bei uns tritt der nationale Wille, das nationale Ideal hinter jedem Parteiwillen, jedem Ideal, jeder Theorie zurück. Sogar uns als Volk zu fühlen, uns selbst einzugestehen, dass wir national leben wollen, hatten wir nicht die Kühnheit, solange andere nicht den Nationalismus offiziell für erlaubt erklärten, das heißt, solange ihr Leben sie nicht dazu gebracht hatte, in einer Theorie das zum Ausdruck zu bringen, was in ihrer Seele und in ihrem Leben niemals zu wirken aufgehört hatte. Bei uns zum Beispiel hat einer Zionist sein und sogar in Palästina arbeiten und zu gleicher Zeit Anti-Nationalist sein können, als die Zeit kam, da der offizielle Sozialismus offiziell erlaubte, Nationalist zu sein. Überhaupt, für unser Volk arbeiten, wie jeder lebende Mensch für sein Volk arbeitet, oder wie viele von den Unseren für andere Völker gearbeitet haben oder arbeiten, sich vollkommen den Idealen unseres Volkes hingeben — das heißt noch heute bei uns: zu engherzig. Das beweist euch nicht nur jeder Theoretiker, sondern jeder Berufene und Unberufene. Und nicht selten kommt es vor, dass man euch, wenn ihr von der Ganzheit des Volkes sprecht, „Kal-Jisroel-Politik!“ vorwurfsvoll zuruft. Die Haltlosigkeit unseres Lebens führt dazu, dass wir Luftmenschen sind, nicht nur ökonomisch, sondern auch geistig. Wir schreien stets „Menschheit“ lauter als alle Menschen, nicht weil wir wirklich ethisch höher stehen als alle, sondern weil „Menschheit“ eine Abstraktion ist, ein Luftbegriff, — im Leben gibt es nur Völker, und in Wirklichkeit arbeiten wir, obwohl wir „Menschheit“ schreien, doch nur für das Volk, unter dem wir leben, nur nicht für uns selbst. Unsere geistige Welt ist eine Art Spinngewebe aus Äther, aus fremder Luft. Sie ist nicht aufzuzeigen, nicht anzutasten. Nur wer sein eigenes, grundeigenes, lebendiges Denken hat, kann an unserem Leben und auch an unserer Literatur erkennen, wie tief wir verknechtet und hypnotisiert sind. Wir fühlen selbst nicht, wie tief das fremde Leben in unserer Seele herrscht, unseren Willen und unsere Gedanken am Gängelband führt, auf unser Schaffen einwirkt, so dass wir nicht mehr wir selbst, sondern irgend welche andere sind. Und wie oft seht ihr bei uns einen Menschen, der nach seiner geistigen Physiognomie, so scheint es, vollkommen der unsere ist, ein Enkel des alten Israel, in dem aber doch eine Art wandernde Seele aus einem fremden Leben mit fremden Gedanken und Gefühlen lebt, die aus ihm redet und wirkt, während er ganz ernst glaubt, dass er es selbst sei. Wir empfinden die fremde Wirkung nicht und können sie nicht empfinden, weil nur der empfinden kann, wie Gefühle und Gedanken aus fremden Welten wirken, der seine eigene Welt hat, die aus seinem eigenen Leben, aus seiner eigenen Seele emporgewachsen ist. Wir aber, in heutiger Zeit, haben keine eigene nationale Weltanschauung, das heißt eigentlich, wir legen uns keine bewusste Rechenschaft ab über unser eigenes national-psychologisches Verhältnis zum Leben und zur Natur. Denn die Weltanschauung unseres vergangenen Lebens, die für unsere Ehern getaugt hat (und daher empfanden sie ja auch die geringste fremde Wirkung so tief), taugt für uns nicht mehr, und ein neues Leben, ein national-selbständiges Leben, das uns die Möglichkeit gäbe, eine neue nationale Weltanschauung zu schaffen, haben wir nicht. Daher wissen wir nicht, wo und wer wir in der Welt sind. Und wenn sich daher bei uns eine nationale Lebensfrage erhebt, haben wir keinen einheitlichen nationalen Willen, um den Weg zu dem zu finden, was wir suchen, sondern — soviel verschiedene Willen, als es Richtungen unter uns gibt. Das sehen wir in allen unseren gegenstandslosen Kämpfen, die ohne Ende sind, um Dinge, die niemals bewiesen werden können, die sich einzig und allein an die Lebendigkeit und Tiefe des nationalen Gefühls wenden.

Ich schreibe das alles, nicht um irgend jemand zu beschuldigen, im Gegenteil, ich wollte deutlich zeigen, dass es hier keine Schuldigen gibt. Ich wollte, dass man begriffe, dass wir einander nicht deshalb nicht verstehen, weil der oder jener einen kleinen Verstand, einen engen Horizont, wenig Wissen oder geringen Ernst hat, seinem Volk untreu ist und dergleichen, sondern weil wir kein nationales und damit kein einheitliches Leben führen, weil die verschiedenen Strömungen des fremden Lebens uns nach verschiedenen Seiten tragen. Da ist keine Schuld vorhanden, da ist Tragik, Herzeleid, wenn ein Herz da ist. Und dia Tragik ist noch tiefer, weil kein Schuldiger vorhanden ist, und wir beständig Schuldige in denen sehen und sehen müssen, die nicht denken und fühlen wie wir. Das führt dazu, dass wir noch zerrissener werden und nie zu einem nationalen Willen, einem nationalen Ideal kommen und eine große nationale Arbeit leisten.

Wir hatten bei der Arbeit für andere Völker und besonders in dem gegenwärtigen Krieg genügend Gelegenheit, zu sehen, dass wir eine Kraft sind. Und wenn sich alle Arbeitsfähigen unserer zwölf Millionen zu einer einzigen nationalen Arbeit vereinigen könnten, wären wir gewiss eine ganz ansehnliche Kraft und würden etwas unternehmen können, das uns früher oder später zu einem schönen Ergebnis führen würde. Das Schlimme aber ist, dass bei uns jeder nur für seine „Klaus“ arbeiten kann, seine „Klaus“ für die beste hält und glaubt, dass es gar nichts Besseres geben könnte, als wenn alle so fühlen, verstehen und arbeiten würden, wie er. Und keiner will fühlen, dass hier keine Schuld, dass hier nur Tragik ist.

Da erhebt sich vor uns erst die Frage, wie wir es schließlich doch erreichen können, dass wir einen nationalen Willen haben, eine nationale Arbeit tun.

Was diese Frage bedeutet, weiß jeder Jude, der an sich Fragen stellt und unter ihnen leidet, aber jetzt, glaube ich, stellen sich diese Frage eine Menge solcher, die sie früher niemals gestellt haben. Der Krieg hat uns die Augen ganz neu geöffnet. Er hat uns so richtig gezeigt, was es heißt, ein Volk ohne Heim zu sein, was es heißt, Brüder zu töten, zu verwunden, zu vernichten ohne Schuld, ohne Interesse, ohne Ausblick, ohne Sinn. Und wenn wir nach dieser letzten Lektion nicht bis auf den Grund verstehen und einsehen, dass wir etwas tun müssen, dann weiß ich nicht mehr, was mit uns geschehen wird. Und der Krieg hat uns ja auch schon zu fühlen gegeben, dass wir etwas tun müssen. Man redet ja von einem jüdischen Kongress, von einer Vertretung auf der Friedenskonferenz, wenn man uns nur zulassen wird. Etwas wird auch dafür getan. Das ist alles gut, — warum nicht? Aber mehr, einen tieferen Grund als das „Warum nicht?“ haben wir nicht. Es ist Zeit, dass wir verstehen, dass auf einer solchen Konferenz, auf der es um die Interessen der großen Staaten geht, die Gerechtigkeit mit der Sprache der Kanonen spricht, und dass, wer diese Werkzeuge der Gerechtigkeit nicht besitzt, ruhig mit seinem Rechtsgefühl zu Hause bleiben mag. Das will aber nicht heißen, dass wir schweigen müssen. Wir müssen tätig sein und dürfen nicht darauf verzichten, etwas zu tun. Wir müssen aber wissen, was wir zu tun haben, und uns keine Träume einreden, als ob wir davon etwas Richtiges erhofften. Wir wissen schon übergenug, was wir von allen Seiten zu erwarten haben. Sich noch einmal davon zu überzeugen, kann nicht schaden, aber nützen kann es uns nur als Mittel, unser altes Grundgesetz zu vertiefen, dass wir nur auf uns selbst hoffen dürfen. Unsere Hauptaufgabe muss stets sein: unsere Seele aus ihrer Zerrissenheit zu erlösen und zur Einheit zu führen! Aber das ist bei uns das Schwerste. Darüber müssen wir viel, viel nachdenken.

Recht klar wird uns das erst, wenn wir der Sache mehr auf den Grund gehen, wenn wir gewahr werden, dass wir, um eine scheinbar so einfädle, klare Frage, wie die der Heilung unserer zerrissenen Seele zu behandeln, erst einen weiten und nicht sehr sicheren Umweg machen müssen. Denn wer kann dafür, dass in unserem Leben, das, wie gesagt, in ein fremdes verstrickt ist, erst die Frage unserer nationalen Ganzheit aus der Frage des Lebens und Wertes einer Nation überhaupt herausentwickelt werden muss?

Und da können wir wieder vom Kriege lernen. Wir müssen sehen, was er nicht nur uns selbst sagt, sondern was er dem Menschen überhaupt sagt. Wir müssen nicht nur darüber nachdenken, was er uns ausdrücklich sagt, sondern auch aus eigener Initiative uns über ihn Gedanken machen. Denn im gegenwärtigen historischen Augenblick steht die nationale Frage in ihrem weitesten und tiefsten Umfang, in ihrer allmenschlichen, ja kosmischen Ausdehnung und Bedeutung vor der ganzen Kulturwelt, Wenn das Leben, wie man sagt, Fragen stellt, so hat es hier, glaube ich, die Frage so gestellt, wie sie nur das Leben stellen kann, und nicht nur, wie es sie immer stellen kann, sondern wie es sie nur in solchen Augenblicken stellen kann, da die Saiten bis zum äußersten gespannt sind, da schon ein Ende kommen muss. Aber während die lebenden Völker vielleicht ihren Weg weiter gehen können, wie sie ihn bisher gegangen sind, ohne besonders darauf zu hören, was man hier hören kann, — müssen wir unbedingt hören und verstehen, weil es bei uns ums Leben geht.

Aber dieses Thema fordert wieder einen besonderen Brief.

Lebt inzwischen, meine Freunde, wohl und glücklich!

Palästina.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe aus Palästina