Erster Brief

Meine Freunde!

Ich schreibe euch durch die Zeitung, weil ich glaube, dass das die richtige Adressenform ist, Ich glaube, auf diesem Wege werden euch meine Worte treffen, wo ihr auch seid, Es liegt mir daran, dass meine Worte nicht verloren gehen. Denn ich bin kein Korrespondent, Publizist oder Artikelschreiber, Ich bin ein einfacher Jude mit einem einfachen jüdischen Herzen. Ich will euch schreiben, euch, meine Freunde, wie ein einfacher Jude einen Brief an seine Familie schreibt, und zwar gerade über Familiensachen. Und ich glaube, es wird euch interessant sein, zu lesen, was ich schreibe, denn ich schreibe doch nicht nur von mir selbst, sondern von unserer alten guten Mutter, die, nebenbei gesagt, auch jetzt noch, trotz Verwüstung und Verarmtheit, so schön ist, dass manche jungen Mütter sich wünschen dürften, so schön zu sein.


Was ist denn natürlicher als ein Gruß von der alten Mutter. Wir aber sind unserem alten Heim, einem Heim überhaupt so entfremdet, dass selbst ein Gruß von der Mutter uns kalt und versteinert klingt. Man fühlt — oder man erlebt noch tiefer als jedes Fühlen — Fremdheit vor der ganzen Welt, Verstoßenheit und Elend, und „Mutter“ ist für uns fast zu kindlich, zu herzlich, zu menschlich. Verlassene Kinder, aber keine Waisen. Das Gefühl ist wie eingefroren, aber nicht tot. Es ist in jeder jüdischen Seele ein Funke vorhanden, wenn auch dem bloßen Auge unsichtbar. Und ein Funke ist genug. Man muss ihn nur zu behandeln wissen. Vor allem darf man nicht allzu sehr auf ihn losblasen. Das bringt ihn nur zu einem Aufflackern und Verlöschen. Man muss ganz allmählich Asche und Schutt des fremden Bodens abgraben, die ihn sticken und keine frische Luft einlassen. Man muss nur die Seele befreien, — der Funke wird schon das Seinige tun. Still, einfach, ernst müssen die Reden zur Seele sein; wahr, nackt müssen die Nachrichten sein, die man ihr von dem bringt, was ihr nahe und lieb ist. Das reinigt, das befreit, denn das bringt das Leben, wie es ist, und das Leben selbst kann auf der Seele spielen, auf allen Saiten des Gefühls und des Gedankens.

Und so einfach ist mein Gruß aus Palästina. Alles ist in Palästina so einfach, werktägig wie überall. Ihr habt hier alle Kleinlichkeiten und, wenn ihr wollt, alle Niedrigkeiten wie überall. Und unsere nationale Arbeit ist so klein, so mikroskopisch klein — selbst in den guten Jahren —, dass man einen sehr hellen und scharfen Blick haben muss, um sie so zu sehen, wie sie wirklich ist. Denn Lärm, Gepolter und Feuerwerk, das auch in Palästina reichlich vorhanden ist, kann einer ernsten Seele nicht viel geben — außer Beleidigung und Ärger. Das alles müsst ihr wissen, meine Freunde, damit ihr nichts Besonderes erwartet und nicht enttäuscht werdet.

Wenn ihr euch aber mit einem grundoffenen Herzen nach Palästina wendet, mit einem Herzen, das die Wehen des Schaffens nachfühlt, auch wenn sie in Krümmungen, in oftmals ganz unschönen Schreien ihren Ausdruck finden, dann könnt ihr sicher sein, dass ihr auf euere Rechnung kommen werdet. Das ist der Vorzug von Palästina für uns, dass wir in ihm bei uns sind, bei uns in allem, was wir sind und was wir erleben — ob wir es nun fühlen oder nicht. Da bleibt alles unser: unser Eingreifen, unser Versäumnis, unser Licht, unser Schatten, unsere Freuden, unsere Leiden. Sorgen mit allem Zubehör, in allen Arten und Farben habt ihr dort, in anderen Ländern vielleicht nicht weniger wie wir hier, — aber euere Sorgen haben keinen Sinn, das sind Sorgen für nichts und wieder nichts. Hier aber, in Palästina, mögen die Sorgen noch so bitter, herb, schrecklich sein, sie haben einen Sinn. Hier gibt es keinen Schlag, der verloren ginge, keine Sorge, die sinnlos wäre, — hier geht wirklich kein Funke, kein Ton verloren. Ist einer in Palästina, hat er etwas getan, etwas gelitten für unsere Sache, so mag er später auch, Gott behüte, bankrott machen oder gar außer Landes fahren, mag sein Tun in Nichts zerfallen, — seine Energie, seine Hingabe, sein Leiden bleibt. Und dabei gibt es immerhin auch solche, die hier gesunde Samenkörner säen und selbst ihr Leben. Das alles wächst, von all dem legt sich um die Seele eine neue Lebensschicht. . Das alles ist mikroskopisch klein, kaum dass man es sehen kann, — aber es lebt und mit der Zeit macht es sich auch fühlbar.

Aber am deutlichsten fühlt man es, wenn man hier arbeitet, wenn man der offenherzigen, majestätisch lichtvollen, prophetisch vertieften Natur des Landes Auge in Auge, Herz an Herz, bei der Arbeit, gegenübersteht. Man arbeitet einfach, ohne Künste, manchmal schwer und derb, und doch erlebt man zeitweise etwas, das nicht besser auszudrücken ist, als dass man sich gewissermaßen organisch in die Arbeit der Natur selbst einarbeitet, in ihr Leben und Schaffen hineinwächst. Etwas erfasst den Menschen so weltengroß, so himmelrein, so abgrundtief, dass es ihm vorkommt, als ob er auch Wurzeln in der Erde schlüge, die er gräbt, als ob er sich auch von den Sonnenstrahlen nährte, als ob er auch mit allen Gräslein, allen Palmen, allen Bäumen sich tiefer in die tiefe Natur, größer in die große Welt hineinlebte. Und wenn schwere Augenblicke kommen — und sie kommen sehr oft — und man erhält von außen, oder gar von innen, schlimme, sinnlose, unerwartete Schläge, Schläge, dass es einem dunkel vor den Augen, trübe im Herzen wird und man wie betäubt bleibt, — da kommt einem die alte Agadah in Erinnerung, und man denkt, dass es der Engel ist, der im Frühling mit einer Rute auf das Gräslein schlägt und ihm zuruft: »Wachse!«

Und immer dasselbe. Die Woche ist länger als der Sabbat, die Zerstörung größer als der Aufbau, die Wehen stärker als das Schaffen. Die Wehen sind nicht zu ertragen, sind tief wie der Meeresgrund, weil die Kräfte klein, die Seelen kleinlich sind. Die ganze Größe dessen, was geboren werden muss, wird nicht umfasst, der zweitausendjährige nationale Schmerz wird nicht als große Schaffenskraft für unsere Arbeit nutzbar gemacht, Es gibt keine Verständigen, die den Wert dieses ungeheueren Kapitals zu erkennen vermöchten. Kleine Händler und Mäkler auf kleinen oder auch auf großen Börsen. Alles ist klein, kleinlich, Parasiten aber haben wir aller Art: kleine und große, ökonomische und geistige. Unser Parasitentum haben wir aus dem Golus ungemindert hierher gebracht, frisch, gesund, kräftig. Und man sät es hier tüchtig aus, und es wächst ohne Regen und blüht und trägt Früchte, die glänzen und duften und in der ganzen Welt einen klingenden Namen haben. Und von außen stürmen böse Winde, die mit einem Sturm fast alles von dem wenigen Tauglichen, das hier eingepflanzt ist, ausreißen, fast alles, was wirklich zu leuchten beginnt, auslöschen.

Einen Trost haben wir, d, h. alle, die fest stehen und fest stehen können: dass wir die Schmerzen fühlen, fühlen bis auf den Grund. Wir sind jetzt gleich einer Frau, die jahrelang keine Kinder bekam, so sehr sie auch Gott darum bat, — und plötzlich fühlt sie, dass sie schwanger ist. Sie freut sich über jeden Schmerz, sie hat nur Angst, vielleicht ist der Schmerz zu gelinde, vielleicht ist es nicht das. Im Golus haben wir diese Schmerzen nicht gefühlt. Das sind die Wehen des Schaffens und sie geben uns Mut und Hoffnung, dass wir alles überstehen werden.

So kommen wir mit festen Schritten zu unserer schweren, finsteren Lage. Zu anderer Zeit hätte mein Gruß vielleicht voller, schöner, wärmer sein können. Ich habe auch keine Einzelheiten geschrieben und überhaupt kein Bild gegeben. Das finde ich jetzt nicht wichtig. Das könnt ihr aus anderen Quellen schöpfen und ich werde vermutlich auch noch dazu kommen, über alles in seinen verschiedenen Seiten zu reden. Meine Absicht ist jetzt nicht, bei euch für Palästina Interesse zu erwecken: es wäre überhaupt sehr schlimm, wenn ich bei Euch, meine Freunde, erst Interesse erwecken müsste. Bei jemand Interesse erwecken heißt nicht, ihn für immer gewinnen, gewinnen mit Leib und Leben, — und Erez Israel fordert von euch Leib und Leben oder es fordert nichts. Ihr seid Juden, solche Juden, wie wir in Palästina. Meine Absicht ist, euch nicht so sehr darauf aufmerksam zu machen, was ihr für Palästina tun müsst und könnt, als vielmehr darauf, dass Palästina für euch mehr tun kann, dass es euch mehr geben kann als ihr ihm. Und nur dann, wenn Erez Israel euch etwas Lebenswichtiges gibt, nur wenn ihr in ihm das sucht, was ein Jude nirgends sonst finden kann, was tief in jeder jüdischen Seele fühlbar ist, ohne dass es einen Ausdruck finden kann, weil es keinen Ausdruck besitzt, weil es nach einem solchen erst in Palästina sucht, — erst dann könnt ihr etwas Wesentliches für Palästina tun. Sehr schlimm, sehr schädlich würde es für euch und für Palästina sein, wenn ihr ihm nur geben und nichts von ihm nehmen würdet. Mutter Erez Israel ist keine Schnorrerin. (Und gerade deshalb gibt es hier so viele Schnorrer, weil sie nur von anderen zu nehmen verstehen und nicht von ihr, im besten Fall von ihr nur das zu nehmen wissen, was sie bei anderen viel leichter hätten bekommen können.) Solange ihr nur gebt und nichts nehmt, gebt ihr nur solches, was zum Schnorrer macht, ihr seid aber auch imstande, eurerseits etwas zu geben, das sich auch in die neuen Lebensschichten senken kann. Es wäre schon längst an der Zeit gewesen, darüber nachzudenken, wie nötig die Schaffung einer lebendigen Verbindung wäre, eines lebendigen Verkehrs zwischen den Juden in Palästina und den Juden in anderen Ländern. Jetzt hat das Leben selbst die Angelegenheit auf die Tagesordnung gestellt. Und das ist vorerst der einzige Nutzen, den wir aus unserem jetzigen nationalen Ruin ziehen können. Dieses Einzige hat aber einen sehr hohen Wert, das heißt, der Wert kann so hoch sein, wie tief wir die Sache fühlen und verstehen wollen und wie sehr wir von ihr Gebrauch machen können. Und das hat mich hauptsächlich jetzt zum Schreiben veranlasst.

Aber dieser Gegenstand fordert einen besonderen Brief. Einstweilen — Vertrauen, Mut und Arbeit! Das brauchen wir alle, wir und ihr.

Lebt wohl!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe aus Palästina