Dritter Brief

Meine Freunde!

Ich komme jetzt zum schwierigsten Gegenstand unserer Unterhaltung. Wir halten beim Krieg. Lasst uns sehen, was sich aus der elementaren Umwälzung, einer Umwälzung, dergleichen die Welt noch nicht gesehen hat, für das lebendige Denken, die lebendige Seele ergibt, Völker, Kulturvölker schlagen sich, machen andere und sich zu Trümmerhaufen, metzeln Millionen junger Menschen, ihre besten Kräfte, nieder, zerstören Städte, Dörfer, Provinzen, Länder, die Arbeit von Hunderten von Jahren. Was ist das? Was geschieht da? Werden sie denn so viel gewinnen, als sie an sich und anderen zerstören? Wo ist die Weisheit, der Fortschritt, das Licht, alle die schönen Dinge, deren sich die heutige kluge Generation so rühmt?


Es ist undenkbar, dass das alles durch einen Zufall, einen Irrtum oder dergleichen gekommen ist. Wir sahen, dass Menschen, die stets gegen den Krieg sind, mit kaum begreiflicher Glut in ihn eintraten. Wenn Menschen, die fühlen und denken, dichten und schaffen, das Recht predigen, Geräte der Arbeit und des Schaffens in solche des Mordens und der Verwüstung umzuschmieden, so lässt sich das nicht mit leeren Phrasen erklären. Menschen sind stets und überall Menschen. Noch weniger lässt es sich durch einen Zufall oder dergleichen erklären, dass die Arbeiterparteien in den Kriegsländern, die größten und entschiedensten Gegner des Krieges, nach allen ihren Protesten so einstimmig in den Krieg eingetreten sind. Hier ist offenbar etwas zum Ausbruch gekommen, ein menschliches, tiefmenschliches Gefühl, eine höhere menschliche Gewalt, die lang, lang unterdrückt war, oder die man lang, lang sich nicht vollkommen ausleben ließ.

Dass man hier Schuldige findet, dass ein Volk dem andern, eine Klasse der andern, die Arbeiterpartei des einen Landes der Arbeiterpartei des andern die Schuld zuschiebt, das sind natürlich nur Vorwände, Schuld sind alle oder keiner. Der Krieg hat, wie wir wissen, nicht auf Grund reiflicher Überlegung aller Beteiligten angefangen, er ist unerwartet für alle Beteiligten ausgebrochen. Schuld ist also das ganze frühere Leben, d. h, die Lebensweise aller Beteiligten, in denen sich etwas staute, bis es ausbrach. Es sagt sich so leicht, so sicher: der Kapitalismus, die Regierungen. Wer sind denn der Kapitalismus, die Regierungen, wenn nicht die Völker? Kann eine Regierung ohne Volk, ein Kapital ohne Arbeiter sein? Das Volk, die Kraft des Volkes regiert stets, bei jeder Regierung, auch bei der despotischen. Und wenn es eine schlechte Regierung hat, bedeutet dies, dass es nicht genug Bewusstsein oder Willen besitzt, um eine bessere zu haben. Das Kapital wird stets durch die Arbeiter geschaffen, und hängt stets mehr von den Arbeitern, von der Arbeitergemeinschaft ab, als sie von ihm, und wenn das Kapital über die Arbeiter herrscht, bedeutet dies, dass sie nicht genug Bewusstsein oder Willen besitzen, um das Kapital zu beherrschen. Das Kapital in dem Sinne zu beherrschen, wie es hier gemeint ist, heißt aber letzten Endes vor allem vom Kapital, von der Begierde nach Kapital frei sein. Die Begierde nach Kapital bedeutet wieder im letzten Grunde nicht mehr und nicht weniger als die Begierde, über den andern, seine Kraft, seinen Willen, sein Leben zu herrschen, um ein wirtschaftlicher oder ein geistiger Parasit oder beides zu sein. Der Kapitalist ist nicht dadurch stark, dass er wirklich eine reale Herrschermacht besitzt, — die Arbeit ist eine größere und in Wahrheit realere Macht —, er ist nicht durch seine Macht stark, sondern durch der anderen Schwäche, durch der anderen Begierde, die er befriedigen kann und sie nicht. Die Begierde lässt sich aber nicht so leicht entwurzeln, wie man glaubt. Da reicht es noch nicht aus, genug Bewusstheit und Willen zu besitzen, dass der andere nicht über einen herrsche: die Begierde, über den andern zu herrschen, ist damit noch keineswegs erstorben, wenn sie auch gewöhnlich sehr tief verschlossen und zumeist dem Eigentümer selbst verborgen ist. Das kann man im Leben sehen, sofern man es nicht unmittelbar psychologisch einsieht. Es ist deshalb nicht ohne weiteres offenbar, weil es ja auch nicht ohne weiteres offenbar ist, dass ein auf breiterer als der durch die eigene Kraft möglichen, ökonomischen Grundlage ruhendes Leben und, allgemein gesprochen, die Inanspruchnahme von wirtschaftlichen Gütern über das Maß dessen hinaus, was man zum Leben braucht, dessen, was man braucht, um aus sich alles herzugeben, was man zu geben fähig ist, — das dies bereits über andere herrschen heißt. Die Begierde hat zu tiefe Wurzeln im Willen des Menschen, möglichst leicht und bequem zu leben, sie hat zu tiefe Wurzeln in der ganzen bisherigen Kultur, in der Reichtum, Herrschaft soviel wie Glück, Ehre, Größe, Stärke bedeutet.

Ein nicht viel weniger ergiebiger Boden findet sich für sie in der neuen Kultur mit ihrem Streben nach Herrschaft über die blinde Natur. Schon in dem Gedanken einer Herrschaft über die Natur hegen die Wurzeln der Herrschaft des einen Menschen über den anderen begründet. Wenn der ganze Sinn des Lebens, seine ganze Schönheit und Stärke darin liegt, dass der Mensch sich, als Herrscher und durch sein Herrschen als Gebieter fühlt, kann es nicht ausbleiben, dass bei ihm irgend einmal ein Gedanke und ein Wille geboren wird, sich als Herrscher über den Menschen, als Herrscher über den Herrscher, Gebieter über den Gebieter zu fühlen, sei es durch Macht über den einfachen Menschen, sei es durch geistige Herrschaft, oder wie Übermenschentum beschaffen sein mag. Herrschaft bleibt stets Herrschaft, stets schwer zu ertragen für einen wahrhaft freien Geist, stets schädlich in ihrer Wurzel — stets führt sie schließlich zu ganz gewöhnlicher Herrschaft mit allen ihren Nachwirkungen für andere: Abhängigkeit, Knechtschaft, Armut usw. Das kann man auch im Leben sehen, wenn man es nur ohne Brille betrachtet. Aber zu glauben, dass es möglich sei, eine solche soziale Ordnung oder eine solche Art ordnungslosen Lebens zu schaffen, dass auf ewig jede Möglichkeit der Herrschaft des einen über den anderen ausgeschlossen bleibt, heißt glauben, dass man eine derartige Ordnung oder Lebensweise schaffen kann, dass es unter Menschen keine stärkeren und schwächeren gibt, keine niedrigen Seelen mit großen und keine edlen Seelen mit kleinen praktischen Fähigkeiten usw. Dies würde soviel bedeuten wie wollen, dass das Leben eine Art mechanisches Gehwerk, der Mensch eine Art Maschine werde. Die heutige Kultur mit ihrer Herrschaft über die blinde Natur, mit ihrem Triumph über deren Blindheit, mit ihrer Fesselung des Lebens in eiserne Bande, — die heutige technische Kultur strebt eben danach. Und so geht es seinen Gang. Der Mensch wird immer maschinenartiger, das Denken wird technisch, das Fühlen technisch, das ganze Leben wird technisch. Aber das Leben ist, wie wir sehen, stärker. Es protestiert auf seine Art, despotisch, elementar, kosmisch. Es schafft einen Krieg, den niemand braucht, niemand will, der keinem Nutzen bringen kann, einen Krieg, der mit der Sprache des Todes und der Verwüstung dekretiert, was Menschen nicht hören wollten, solange es mit der Sprache des Lebens und des Schaffens nach Ausdruck rang. Da, sollte man meinen, handelt es sich um etwas Tieferes als um das, wovon in Parlamenten, Versammlungen oder auch Akademien geredet wird. Da wird etwas Höheres gefordert als das, was durch Kanonen und dergleichen Ausdrucksmittel von der heutigen technischen Kultur gefordert wird.

Vor allem erhebt sich da vor uns die Notwendigkeit, uns etwas mehr in das Nachdenken über den Menschen und sein Leben zu vertiefen. Auf den ersten Blick sind wir doch alle gegen den Krieg, jeder der nur ein Herz und ein Hirn sein eigen nennt. Auf den ersten Blick sehen wir doch alle in ihm nur Wildheit, Grausamkeit, Barbarei. Und doch — warum sollen wir uns täuschen? Irgendwo in der Seele ist etwas, das eine gewisse Bewunderung für die grandiose Gewalt des Krieges hat. Irgend etwas ist es, das wie ein Vulkan oder dergleichen große Weltkräfte auf uns wirkt. Wir sehen da, wie groß, wie weltengroß des Menschen Wille ist, seine Aufopferung, sein Bedürfnis nach Aufopferung in bestimmten Augenblicken (zu glauben, dass hier nur Zwang wirkt, würde jedenfalls von keinem tiefen Verstehen zeugen). Wir sehen da ein Verhältnis zum Leben, das kosmisch groß und stärker als der Tod ist. Wie groß könnte das menschliche Leben sein und wie erhaben die Beziehungen des Menschen zum Nebenmenschen, zur Natur, zu sich selbst, wenn er zu leben verstünde!

Was heißt das: großes Leben, erhabene Beziehungen? Kann der Mensch groß leben, wenn er der Natur entfremdet ist? Kann er frei leben als Knecht der Natur oder als Herrscher über sie — was vielleicht ein und dasselbe ist? Kann des Menschen Leben lichtvoll sein, wenn die Natur, der Quell des Lebens, blind ist? Kann dort Leben sein, wo alles auf Mechanik, auf Technik beruht? Geh und finde da einen Sinn für die höheren Bestrebungen der menschlichen Seele! Geh und finde da höheres Leben das Volkstum, ein Grundelement der Menschenseele und das furchtbarste von allen!

Es muss ein für allemal klar werden, dass das ganze höhere Streben der menschlichen Seele, alle ihre höheren Forderungen, die ihren Ausdruck in dem finden, was man Ästhetik, Moral, Religion nennt, nichts anderes ist als das Streben der Seele, sich vollkommen nach allen Richtungen auszuleben, alles zu durchleben, was der Verstand fasst, und mehr als er fasst. Das hat aber keinen anderen Sinn als ein Leben mit der Natur zu leben, nicht nur menschlich, sondern auch kosmisch, Altruismus und dergleichen sind nur arme, schwache Ausdrücke für einen ganz klaren, aber unendlich großen Begriff: die menschliche Seele, das Ich jedes Menschen will einfach ein höheres Leben führen, nicht nur stumpf, eingesperrt, erstickt in dem kleinen, engen Kreis leben, den man Egoismus, egoistisches Ich nennt, sondern mit allem und in allem Bestehenden, in allen seinen Tiefen, mit der Natur und in allen ihren Tiefen, mit ihrem großen kosmischen Leben, in der Unendlichkeit. Je größer, tiefer und reicher die Seele ist, um so größer, tiefer und reicher ist auch ihr Streben nach einem höheren Leben.

So ist das Leben des Einzelnen und so das des Volks. Eines hängt von dem andern ab. Richtiger: das Volk ist das wichtigste Zwischenglied zwischen dem Leben des Individuums und dem der Natur. Das Volk, kann man fast sagen, hat den Menschen geschaffen: das Volk hat seine Sprache, seine Sitten, seine Kunst, seine Religion geschaffen, das heißt soviel wie: seinen Verstand, seine Seele, seine Welt, — das Volk, nicht die soziale Gruppe. Das Volk ist mehr als eine soziale Gruppe. Das Volk — das ist der Mensch, das menschliche Ich eines gewissen Teiles der Natur (eines gewissen Landes) in seinen verschiedensten Gestaltungen und Erlebnissen. Erst das Volk, das kollektive Ich, die Seele der Nation, allumfasst die Seele der Natur, die die Seele des Einzelnen nicht zu umfassen imstande ist; erst in dem kollektiven Verstand des Volkes spiegelt sich der unendliche Verstand der Natur wider, der sich nicht vollkommen in einem einzigen Tropfen widere spiegeln kann. Erst durch das Leben des Volkes ist das menschliche Leben fähig, menschlich zu sein, erhält der Mensch die Möglichkeit, kosmisch groß zu leben, bedeuten überhaupt die höheren Bestrebungen des Menschen etwas, sind sie keine leere Phantasie. Das Volk ist eine lebendige Kraft, die, wie wir sehen, in großem Maßstab schaffen kann, Leben schaffen kann (und daher hat sie in dem Maße gesündigt, als der Mensch überhaupt sündigt); aber deshalb muss sie auch lebendig sein, stets mit dem Leben Hand in Hand gehen. Das heißt: es muss wieder, ebenso wie beim Individuum, ein für allemal klar werden, dass das bessere Leben, das die Seele eines Volkes sucht, das Glück, die Größe, nach der das nationale Ich strebt, nicht, wie man meint, im egoistisch-nationalen Glück besteht, nicht in einem Leben, das von der großen Welt abgeschlossen ist. Das nationale Ich, die Seele des Volkes, will so gut wie das individuelle Ich auch ein höheres Dasein führen, über die Grenzen seines nationalen Lebens hinaus, über die Grenzen des Lebens, das ihm die Natur seines Landes gewährt, in das Leben der übrigen Völker hinein, in das Leben, das dem Menschen die ganze unendliche Natur gewährt. Die Nation lebt, so gut wie der Einzelne, nicht nur für sich selbst, sie hat wie der Einzelne nicht nur für sich selbst, sondern auch für die übrige Welt zu sorgen und zu arbeiten. Das, was man nationale Interessen, nationale Ideale nennt, ist nicht in den Grenzen egoistisch-nationalen Lebens abgeschlossen, — nationale Interessen und Ideale umfassen das ganze Leben des Menschen, die ganze Menschheit, die ganze Welt. Es gibt keine weiteren, höheren, erhabeneren Ideale und Interessen als nationale; es gibt keine besonderen nationalen und besonderen allmenschlichen Ideale und Interessen, — es gibt hier, wie beim Individuum, kleinere, engere, egoistische nationale Ideale und Interessen und höhere, weitere, allmenschliche, kosmische nationale Ideale und Interessen. Ja noch mehr, der Einzelne kann allmenschliche Ideale und Interessen, wenn sie einen lebendigen Wert, eine lebendige Kraft haben und nicht leere Phantasien sein sollen, erst durch das Leben des Volkes erhalten, das alle möglichen Erlebnisse und Beziehungen, Ideale und Interessen umfasst, die das menschliche Leben nur in sich schließen kann. Das ganze menschliche Interesse am Leben, der ganze menschliche — das heißt psychologische, nicht nur physiologische — Sinn des Lebens ist durch die Nation geschaffen. „Menschheit“, „allmenschliche Ideale“ usw., das sind nur Abstraktionen, kollektive Begriffe; in Wirklichkeit gibt es nur Völker, jedes Volk mit seinem besonderen Leben; im Leben gibt es nur nationale Ideale, nur nationale Interessen. Kein Mensch lebt in der Luft, in der „Menschheit“: jeder lebt in seinem Volk und mit dem Leben seines Volkes (oder eines fremden Volkes), auch wenn er in der Wüste lebt (Beispiel: die Sprache, in der er denkt). Das Schlimme ist aber, dass im Leben, und gerade im bewussten Leben, einstweilen noch die Abstraktionen wirken. Gerade diejenigen, die große Ideale, großes Leben suchen, gerade sie überspringen die Nation, springen vom Individuum gleich in die abstrakte Menschheit. Die Nation, die nationale Seele, die nationale Form des Lebens verneint man entweder ganz, als eine Übergangsform des menschlichen Lebens, oder man behandelt sie wie eine alte Mutter, die man aus alter Liebe, aus wohltätigem Sinn, aus Pflicht unterhält, oder die man für ein notwendiges Übel hält, mit dem man rechnen muss, und die gewisse Verdienste hat. Aber dass sie die Kraft sein soll, die vereinigt und dem ganzen Organismus Leben gibt, die ohne Aufhör wirkt und schafft, die Kraft, die die Grundlage für alle gesellschaftlichen Beziehungen ist, gleichgültig von welchem Samen sie stammen, —das klingt etwas unglaubhaft. Sie sieht man erst, wenn sie elementar hervorbricht, und da hat sie freilich keine Lichtgestalt. So verhält man sich zu ihr, sowohl dort, wo man sich von der idealen Seite dem Leben nähert, wo man ein Ideal sucht, nach dem sich das bewusste menschliche Leben richten soll, als auch dort, wo man sich ihm von der sozialen Seite nähert, wo man das soziale Leben der Allgemeinheit zu verbessern strebt.

Von der idealen Seite will das eigentlich heißen, dass der Begriff des menschlichen Lebens nach allen tiefen Forschungen, nach allen hohen Bestrebungen noch immer der Begriff eines Lebens bleibt, das im letzten Grunde eng egoistisch ist, und das man verlassen muss, wenn man nach höherem Leben strebt. Das menschliche Ich bleibt noch immer in sich selbst verschlossen, abgeschieden von der Natur, der Quelle des Lebens, das heißt abgeschieden von allem. Wieviel man auch darüber grübeln mag, es bleibt doch der Sinn des Lebens, das Interesse des Lebens dabei in kleinen, begrenzten, egoistischen Erlebnissen erschöpft. Und wenn die sündige Seele sich hier eng, bedrückt und gewürgt fühlt und etwas Weiteres, Höheres, Erhabeneres sucht, so muss sie ihr Ich verlassen und zu irgendeinem Altruismus übergehen oder in einen Übermenschen hinüberwandern oder in der großen Abstraktion, die Menschheit heißt, aufgehen. Die Nation, das nationale Ich muss sie überspannen, so gut wie sie das eigene persönliche Ich verlassen muss, wenn sie höhere Sphären des Lebens sucht, denn das Leben der Nation bleibt, wie das Leben des Individuums, an sich egoistisch, das heißt national-egoistisch, bleibt an sich bei den niedrigeren Sphären des Lebens, bei den kleinen, engen, egoistisch-nationalen Idealen und Interessen, da die höheren Sphären abstrakt geblieben sind und nur in der Abstraktion Menschheit ihren Ort haben.

Noch deutlicher ist das auf der Seite der sozialen Strömungen. Gerade in den Kreisen, in denen man das ganze gesellschaftliche Leben umzuschaffen sucht, berücksichtigt man die nationale Seele sehr wenig, wenn man sie nicht gar verneint. Im besten Fall bestätigt man ihr das Recht, in den geistigen Sphären des Lebens, man kann sagen, in den Sphären der Phantasie zu schaffen, denn die Wirkung dessen, was man das Geistige zu nennen pflegt, auf das Leben ist sehr wenig lebendig. Aber in dem lebendigen Leben, im Schaffen des alltäglichen und ständigen Lebens gehe es größere und wirksamere Kräfte. Da arbeiteten einerseits der Lebenswille jedes Einzelnen, sein Kampf ums Dasein, andererseits die sozialen Verhältnisse, der Kampf der verschiedenen Klassen um ihren Anteil an den ökonomischen Gütern. Wenn man also ein höheres Leben für die Allgemeinheit, für die ganze Menschheit suche, so sei die eine Voraussetzung, dass man die soziale Seite des Lebens, die soziale Ordnung verbessere oder umschaffe, und die andere, dass man die individuelle Seite des Lebens, die Erziehung des Individuums verbessere oder umschaffe. Andere kehren die Reihenfolge um. Die nationale Seite aber, die Seite, von der alle Individuen mit einem lebendigen Band umschlossen und zu einem lebendigen und schaffenden Organismus, zu einer lebendigen Nation vereinigt sind, die Seite, durch die die Nation mit den übrigen Völkern verbunden ist, durch die sie im Grunde mit der lebendigen, unendlichen Natur und damit mit der ganzen Menschheit vereint ist, — diese Seite hat keine wissenschaftliche Fundierung und hängt also in der Luft, wenn sie nicht ganz und gar eine leere Phantasie ist. Auf diese Weise bleibt die nationale Seite als wirkende Lebenskraft vollkommen frei für die Teile des Volkes, die zumeist ungebildeter, gewöhnlicher, fanatischer sind, ebenso wie für die Kreise, die ihre ganze Kraft vom Nationalismus haben und daher daran interessiert sind, dass das nationale Gefühl egoistischer, gröber, unbändiger sei, — und alle diese sorgen schon für diese Seite in ihrer Weise. Sie beschäftigen die nationale Seele mit kleinlichen nationalen Interessen und erziehen sie so in den niedrigsten Sphären des nationalen Lebens. Im allgemeinen bleibt der Nationalismus eine Art Kult, der das gerade Gegenteil des Ideals einer Nation ist, die Größe in ihrem Streben nach einem großen Leben mit allen Nationen sieht.

So wird durch hohen Idealismus und wissenschaftlichen Sozialismus die Nation, der Mensch erstickt. Zu derselben Zeit, da man zum Beispiel für das ästhetische Gefühl Wege sucht, um es auf eine neue Art zu beleben und es auf der Höhe der neuen Gedankenwelt zu erhalten, lässt man das nationale Gefühl, die Seele des Volkstums mit allen ihren abgrundtiefen Wurzeln irgendwo in einem Treibhaus, wenn nicht in einem finsteren Keller wachsen, weit entfernt von dem lebendigen Leben, weit hinter den neuen Horizonten, die für die menschliche Erkenntnis entdeckt werden. Man kann fast sagen, dass das Leben in den heutigen Zeiten nicht deshalb so trocken, so hart, oder wie man sagt, so grob materialistisch ist, weil man an diese oder jene materialistische Lehre glaubt, weil der Verstand heute so klug ist, klüger als die Quelle, der er entspringt, klüger als des Menschen Seele, als sein eigenes Ich, als das Leben — sondern weil die Nation ausgetrocknet ist, weil sie mit dem Leben zu gehen aufgehört hat. Der Mensch, kann man sagen, hat heute keine Seele mehr, weil die Nation, das Leben keine Seele mehr hat. (Wenn die Furcht vor Gott nicht wäre, die heute so groß ist, hätte ich noch mehr gesagt: der Mensch hat heute keinen Gott, weil die Nation keinen Gott hat.) Schon die eine Tatsache, dass das ganze Gebäude des menschlichen Zusammenlebens auf dem Sozialismus und nicht auf dem Nationalismus und letzten Endes sogar in einem entschiedenen Gegensatz zum Nationalismus errichtet ist, beweist zur Genüge, dass das Gebäude des menschlichen Zusammenlebens nicht als lebendiger Organismus betrachtet wird, in dem erst durch das kollektive Leben aller Zellen das Leben jeder einzelnen Zelle seinen echten, lebendigen Sinn erhält, sondern als Mechanismus, bei dem man nur dafür zu sorgen braucht, dass seine Teile ganz und richtig zusammengesetzt sind, damit er richtig gehe und gehörig arbeite. Das ist kein organisches Zusammenleben, das ist ein mechanisches Leben nebeneinander, richtiger ein Existieren nebeneinander. Da gibt es kein lebendiges und belebendes Band, keine Lebenseinheit zwischen den einzelnen Menschen eines Volkes, das einzige Band, das Menschen zu einem Streben, zu einem Leben verbindet, sind die gleichen, in der Hauptsache ökonomischen Interessen. Was für ein lebendiges und belebendes Band, was für eine Lebenseinheit kann da zwischen einem Volk und dem anderen, zwischen allen Völkern vorhanden sein?

Das alles führt dazu, dass, so sehr sich auch bei einzelnen Menschen oder bei ganzen sozialistischen Gruppen der Gedanke und das Gefühl entwickeln mag, dass alle Menschen gleich, dass alle Brüder sind, ja sogar, dass auch alle Nationen gleiche Rechte haben, —dennoch die Völker als kollektive Individuen (und im Grunde auch die einzelnen Menschen verschiedener Nationen dort, wo in ihnen, bewusst oder unbewusst, das nationale Gefühl spricht, und soweit es tief in ihnen spricht und lebt), doch stets einander fremd, fern, und gegeneinander blind und in einer Stimmung bleiben, die zu allen Zeiten der Feindschaft näher als der Freundschaft ist, so dass es mitunter nur eines kleinen Funkens bedarf, damit der Chauvinismus, wenn nicht die Feindschaft, wie ein höllisches Feuer aufflackere.

Ein für allemal: wenn wirklich einmal eine Zeit kommen soll, in der Kriege unmöglich sind, so kann das nur auf dem Wege eines großen, menschlich-kosmischen Nationalismus geschehen. Nur dann wird ein Volk nicht das Schwert gegen das andere erheben, wenn nicht nur Menschen die Pflicht haben, aufrichtig zu sein, wenn nicht nur Menschen einen Willen haben, groß zu sein und zu leben, sondern wenn Völker nach Größe, nach menschlich-kosmischer Größe streben, wenn ein Volk des anderen Seele fühlen wird, wie es seine eigene Seele fühlt, das heißt im Grunde, wie wir sahen, wenn es seine eigene Seele so tief als möglich zu fühlen vermag. Wird die Nation ein großes Leben suchen, so wird sie ein großes Leben schaffen und keines Krieges bedürfen, um sich vollkommen auszuleben. Schaffen kann sie aber nur dann, wenn sie etwas zu schaffen hat, wenn sie genügend Weite zum Schaffen hat. Hat sie aber nicht genug Weite, um einen Tempel für alle Völker zu schaffen, so schafft sie Gefängnisse, Ketten für andere Völker wie auch für ihre eigenen Kinder. Schafft sie nicht, so vernichtet sie. Das sehen wir im gegenwärtigen Krieg.

Und das alles sieht man ganz besonders gerade in dem, was man Kapitalismus nennt. Das Kapital, sagt man, ist international. Was heißt das? Das heißt, das Kapital hat keine Seele und dient seinem Eigentümer nur als Maschine. Es hat nur ökonomische Werte zu schaffen und wirtschaftlich zu beleben. Es schafft eigentlich parasitär und macht zum Parasiten; es kommt aus fremder Kraft und gibt Reichtum und Herrschaft, was gleichbedeutend ist mit einem Wachsen durch das Blut und Mark eines anderen und einem sich hoch und erhaben Fühlen, indem man auf dem andern reitet. Es kann und muss international sein, weil ihm das Leben das Volkes, das heißt im Grunde das Leben der ganzen Menschheit belanglos ist; es kümmert sich nur um die Kasse seines Eigentümers. Ihm ist gleichgültig, oh das Volk glücklich, menschlich, gesund, natürlich lebt, oh alle Glieder des Volkes gesättigt, kräftig, lebendig und fähig sind, das schönste und beste Leben zu schaffen. Und daher sucht es nicht das zu schaffen, was für das Volk, für alle Teile des Volkes und damit auch für die ganze Menschheit von größerer Notwendigkeit ist, sondern das am meisten Gangbare, das heißt das, was Reichere brauchen, Parasiten gleich seinem Eigentümer, und Reichere gibt es auf der ganzen Welt natürlich mehr als in einem Volk. Daher sucht es auch für die anderen Länder nicht das für die ganze Bevölkerung Nützlichere zu schaffen, sondern das in irgendeiner Hinsicht für das Kapital überhaupt besser Lohnende. Und daher fühlt es als sein gutes Recht, riesengroße Geschütze und alle die Waffen zu schaffen, die dem Menschen nur Verderben und Tod bringen, sei es in physischer, sei es in geistiger, sei es in beiden Hinsichten.

Und die Arbeit? Die Arbeit, sagt man, kämpft mit dem Kapital, Aber wie denn? Genau so, wie das Kapital mit der Arbeit kämpft. Das Kapital kämpft für seine Klasse und die Arbeit für die ihre. Das Kapital ist international und die Arbeit ist auch international. Das Kapital sucht weitere Absatzgebiete für seine Ware und die Arbeit braucht Märkte, sobald sie eines Weges mit ihm geht. Das Kapital flieht aus dem Dorf, aus der Natur in die Stadt, wo es bessere Geschäfte machen kann, die Arbeit ihm nach (nicht nur aus Not). Das Kapital baut Fabriken, um Kanonen und alle die Dinge zu fabrizieren, die die Welt verwüsten oder den Menschen vernichten, oder alle die Dinge, die nur für Reiche taugen, während Dinge fehlen, die für alle wie das Leben nötig sind, — und wer macht dies alles? Die Arbeit. Man darf nicht glauben, dass hier die Not allein wirke, dass der Arbeiter das alles arbeiten müsse, um sein Brot zu verdienen. Damit kann man den oder jenen einzelnen Arbeiter, den oder jenen Fall entschuldigen, aber nicht die gesamte Arbeiterschaft, nicht die Arbeit als solche. Gibt es denn bei den Arbeitern irgendein Verbot, in der erwähnten Weise zu arbeiten, solange man auch ohnedies, wenn auch etwas bescheidener, leben kann? Sind denn irgend einmal Streike in diesem Sinne vorgekommen? Haben sich denn die Arbeiter einmal ihrer internationalen Verbindung bedient, um die Herstellung von Kanonen und dergleichen zu verbieten? Geht es denn überhaupt bei den Arbeitern in ihrem Kampf, in ihrem unmittelbaren Kampf um andere Interessen, um andere Verhältnisse, um andere Forderungen außer ökonomischen, außer dem, was eine Beziehung zu wirtschaftlichen Dingen oder zur Bekämpfung der gegnerischen Kreise hat? Geht es in dem unmittelbaren, alltäglichen Kampf auch um ein anderes, höheres Verhältnis der Arbeit zu dem, was gearbeitet wird, das heißt, geht es, soweit es möglich ist, darum, dass die Arbeit nicht das schaffe, was man nicht braucht, was Schaden, Demoralisation bringt, was nur dem Parasitentum und dergleichen dient? Geht es hier um andere, neue, tiefere Beziehungen zum Leben an sich?

Das ist die Folge davon, dass die Arbeit nicht national ist, dass sie auf Klassen- und nicht auf nationalen Interessen beruht, nicht auf den Interessen des Volkes und des Landes. Wenn die Arbeit wirklich das gesellschaftliche Leben des Menschen umzuschaffen strebt, muss sie das ganze Leben des Menschen, den ganzen Menschen, das heißt vor allem das Volk, die Nation in dem oben erwähnten Sinne umschaffen. Und die Arbeit kann es auf natürlichem Wege, weil sie natürlich schafft und natürlich belebt. Sie schafft Größeres als das Kapital schaffen kann, und erzeugt ein höheres Leben als dieses. Sie macht nicht reich, macht nicht zum Herrscher, während sie schafft und belebt, — und das ist vielleicht ihre größte Macht. Sie muss aber diese Macht kennen und sich ihrer zu bedienen verstehen. Man muss sich klar machen, dass ein höheres Leben führen als das Leben in Reichtum und Herrschaft — sich vollkommen in das Leben der unendlichen Natur einleben heißt, dass die Arbeit nicht nur technisch das Leben zu verbessern, sondern es auch zu schaffen und zu entdecken hat und zum Erforschen eines neuen Lebensinteresses, eines neuen Lebenszieles führen soll. Die menschliche Erkenntnis hat für den Menschen Lebensinteressen, Lebensziele und Genüsse geschaffen oder entdeckt, die andere lebende Geschöpfe nicht kennen, wie etwa ästhetische, ethische und religiöse. Die Arbeit hat in dieser Richtung weiterzugehen. Die Erkenntnis hat dem Menschen die Möglichkeit gegeben, die Natur zu erkennen und dadurch das Leben besser, bequemer zu machen, hauptsächlich in technischer Hinsicht. Die Natur erkennen heißt aber noch nicht sie lebendig erfassen, sie leben. Die Arbeit muss dem Menschen die Möglichkeit geben, sozusagen kosmisch zu erkennen, kosmisch zu leben, kosmisch zu schaffen. Die Arbeit hat das menschliche Leben von dem Menschen zu befreien — wenn dieser Ausdruck genug sagt —, die engen, verschlossenen Mauern der Stadtkultur, in der das Leben eingesperrt und eingezwängt ist, niederzureißen und es sich frei mit dem Leben der Natur vereinigen zu lassen. Da öffnen sich dem Menschen Fundgruben von neuen Interessen, Erlebnissen, Erkenntnissen, Beziehungen, Schöpfungen — ein neues Leben, nicht etwa eine Umwertung alter Werte, sondern neue Werte, neuer Reichtum, ein neues Reich ohne Herrscher und Knecht — eine neue Welt. Das wichtigste Zwischenglied aber zwischen dem Leben des Einzelnen und dem Leben der Natur ist, wie gesagt, die Nation, das Leben der Nation. Die Arbeit muss national sein. Die Arbeit — das ist das Volk, die ganze Kraft des Volkes. Ihr Kampf ist kein Klassen-, sondern ein nationaler Kampf, der Kampf des Volkes gegen seine Parasiten. Nicht um die Interessen der Arbeiter (im sozialistischen Sinn) und der Arbeiterklasse darf es der Arbeit in ihrem Kampf, der sich auf diese Weise nur auf ökonomisches Gebiet erstrecken kann, sich handeln, sondern um die Interessen eines jeden, der sein und des Volkes Leben mit seiner, und nur mit seiner Kraft schafft (das heißt, der nach Möglichkeit so viel gibt, als er Leben in sich hat, und wirtschaftlich nicht mehr — und selbstverständlich nicht weniger — nimmt, als er zum Leben braucht) und um die Interessen des ganzen Volkes. Der Kampf muss also auf nationaler Grundlage ruhen. Diese Grundlage hat eine ganz andere Weite, denn es ist die Grundlage des ganzen Volkes mit allen seinen Interessen und Idealen, die Grundlage des ganzen Landes, der ganzen Menschheit, nicht im abstrakten Sinn, weil hier auch die realen Interessen der anderen Völker mit inbegriffen sind, soweit ein Volk für die Interessen der anderen Völker zu sorgen imstande und verpflichtet ist.

Dies alles sind selbstverständlich nur kurze Andeutungen. Ich habe hier nicht die Absicht, neue Theorien aufzustellen oder alte zu bestreiten. Ganz im Gegenteil habe ich mich bemüht, möglichst nur das zu sagen, was für meinen Gegenstand höchst nötig ist. Es geht mir da hauptsächlich um unsere eigene Nation.

Aber darüber in dem folgenden Brief.

Einstweilen alles Gute, meine Freunde!

Palästina,
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe aus Palästina