Vierter Brief

Meine Freunde!

Ich kehre jetzt zu unserem Gegenstand zurück, zu unserer eigenen Nation. Wer einer lebendigen Nation angehört, kann sich den Luxus oder die Laune erlauben, ein Kosmopolit, ein Antinationalist, ein Nationalist auf Bedingung, ein Nationalist aus Gnade oder Verpflichtung und dergleichen zu sein. Ihm wird das gar keinen Schaden bringen. Im Grunde bleibt er unbewusst, wenn nicht bewusst, seinem Volke mit Leib und Seele ergeben. (Wir haben es zu Anfang des jetzigen Krieges an den größten Antinationalisten zur Genüge beobachten können.) Er hat in seinem alltäglichen Leben genügend nationale Luft, die ihn nicht national sterben läßt, die ihn mit dem Leben, mit der Seele seines Volkes in lebendiger Verbindung hält; das Land, die Sprache, die Sitten — alle Beziehungen zum Leben. Sein Anteil an der nationalen Arbeit seines Volkes, seine Hingabe an diese Arbeit wird dadurch nicht viel geringer werden, denn er arbeitet das, was er auch immer für die Menschheit arbeiten mag, in Wahrheit für sein Volk und in den Grenzen seines Volkes. Aber wir? Was läßt uns nicht national sterben? Wo ist unsere nationale Luft? Für wen arbeiten wir, wenn wir für die Menschheit arbeiten? Was verbindet uns untereinander? Was erhält uns heute auf der Welt als eine besondere Nation?


Ein für allemal: wir müssen wissen, wo wir in der Welt sind, wir müssen wenigstens den Mut haben, uns selbst die reine Wahrheit zu sagen: wenn nicht Nationalismus bis ins letzte, d, h. wenn nicht das nationale Ideal das höchste ist, vor dem alle übrigen Ideale, parteiliche und unparteiliche, zurücktreten, dem wir mit Leib und Leben restlos ergeben sein müssen — dann Assimilation bis ins letzte, bis zur Vermischung mit den Völkern, unter die wir zerstreut sind. Wir dürfen keinen Augenblick vergessen, dass, wenn wir nicht beizeiten darauf achten, die Assimilation bei dem gegenwärtigen Niedergang der Religion überhaupt von selbst kommen wird, besonders wenn in den Golusländern die Lage der Juden wirklich etwas besser werden wird. Wir müssen uns darüber klare Rechenschaft abgeben, dass wir nicht geistig so in die Welt hinein leben dürfen wie andere, ebenso wie wir es materiell nicht dürfen. Wir haben heute keine geistigen, wie auch keine materiellen ererbten Güter oder so gesicherte Berufe, dass sie es uns ermöglichen könnten, geistig wie materiell sorglos zu leben. Wir können uns nicht von verschiedenen Strömungen und Wellen tragen lassen wie andere, weil die Strömungen und Wellen nicht die unseren sind, weil sie nicht von unserem Leben kommen und uns, wie sie es schon mit vielen von uns getan haben, dorthin verschleppen können, von wannen man nicht zurückkommt. Wir müssen selbständig-bewusst leben. Die Hauptsache ist: jeder von uns muss aus der Tiefe seines eigenen „Ich“ erkennen, dass er, wenn er für das Leben unserer nationalen Seele sorgt, zuinnerst für die Ganzheit seiner eigenen Seele sorgt, für das Leben und Schaffen seines eigenen Ich.

Mehr brauchen wir nicht. Jeder Jude soll für sich, für seine eigene geistige Form, seine eigene Seele sorgen, dann werden wir schon irgendwie einen Weg finden. Für sich sorgt man anders, ruhiger, sicherer, tiefer, klarer. Da ist kein Ort für Meinungsverschiedenheiten. Da sieht jeder bei sich das ganze Gebäude von allen Seiten und bis in die tiefsten Fundamente. Und da sieht er bald, dass in Wahrheit seine eigene Seele zerrissen ist und wir deshalb untere einander so zerrissen sind, da wird ihm klar, dass unser nationaler Riss seinen Anfang in der Seele eines jeden von uns hat. Jeder von uns soll den Riss seiner Seele heilen, in seiner Seele Frieden stiften, dann werden wir auch zu einem Frieden unter uns kommen. Jeder von uns soll dorthin gehen, wohin ihn seine eigene ganze und freie Seele, sein eigenes, reines, natürliches, selbstständiges Ich führt, dann werden wir schließlich, auf verschiedenen Wegen, zu unserer echten nationalen Seele, zu unserem reinen nationalen Ich kommen. Von allen Punkten einer Kugeloberfläche treffen sich die Linien, die in die Tiefe führen, im Mittelpunkt. „Die Hauptsache ist das Pünktchen“, pflegten frühere Juden zu sagen, und das ist gar nicht so töricht, wie man heute meinen zu müssen glaubt, und wenn man ein wenig gründlicher nachdenkt, gewinnt es einen ganz tiefen Sinn.

Das alles und viel mehr spricht jetzt zu uns das Leben, spricht mit der Stimme unseres vergossenen Blutes.

Wir müssen ohne Dolmetscher hören, was es spricht, ohne Brille es von Angesicht zu Angesicht schauen. Dann wird uns klar, dass alles, was uns fehlt, sich in dem einen Wort ausdrücken läßt: Leben. Von welcher Seite wir auch an unsere Frage herantreten, sei es von der politischen, sei es von der ökonomischen, sei es von der geistigen, — die Frage geht um das Leben, um die Umschaffung dessen, was bei uns bis jetzt Leben heißen musste. Wir wollen keine Parasiten auf fremdem Organismus sein, mit all den Phrasen und all den Genüssen von Parasiten, wir suchen unser eigenes Leben. Wir müssen wenigstens ein Fleckchen auf der Erde haben, wo wir selbst neues Leben schaffen, das wie ein belebendes Elixier auf unseren ganzen zerstreuten nationalen Volkskörper wirkt und ihm überall Kraft gibt, sein Leben nach dem Bilde und Maße seiner lebendigen Seele umzuschaffen — bis die glückselige Zeit der vollen Erlösung kommt.

Und da haben wir den anderen Punkt, in gewisser Hinsicht den Mittelpunkt, auf den wir uns praktisch einigen können. Es gibt keine Kraft auf der Welt, die Menschen so verbindet wie gemeinsames Schaffen, weil es keine Kraft gibt, die den Menschen so belebt, die den Menschen so umwandelt, wie das Schaffen. Schafft der Mensch Leben, so schafft er Leben für sich selbst, schafft sein eigenes Ich umschafft er sich selbst um, so schafft er Leben. Nicht durch Debatten und nicht durch Unterbandlungen können wir zu einer Verständigung, zu einer gemeinsamen nationalen Arbeit kommen, sondern gerade durch die Arbeit selbst, durch das Schaffen von Leben. Mögen die Juden in jedem Lande ihre lokale Arbeit tun, wir, alle Juden insgesamt, haben eine große nationale Arbeit: einen eigenen Winkel eigenen nationalen Lebens zu schaffen. Und das können wir in der Tat bald tun, sobald nur der Krieg aufhören wird. Ein Stückchen Anfang haben wir doch schon in Palästina, (Jetzt ist er niedergehalten, vom bösen Sturm mitgenommen, aber der böse Sturm wird sich legen und der junge Samen wird mit der Zeit wieder aufleben, denn er lebt.)

Also — Palästina? Wird ein Jude eine solche Frage stellen, so überlasse ich seinem eigenen Urteil, überlasse sie ihm ganz ruhig, ohne die geringste Furcht, nur mit der einen Bedingung, dass auch er keine Furcht habe, deutlich und standhaft die Antwort anzuhören, die ihm auf diese Frage in der Tiefe seiner Seele gegeben wird. Vor einer jüdischen Seele hat Palästina keine Angst.

Also — Palästina. Was können die Juden in den Golusländern für Palästina tun? Was kann Palästina den Juden in den Golusländern geben? Da kommen wir wieder zu dem, was am Ende des ersten Briefes gesagt wurde, dass nur dann Juden etwas Rechtes für Palästina tun können, wenn Palästina ihnen etwas Rechtes gibt. Und daher gilt es, über beide Fragen oder über beide Seiten dieser einen Frage zu sprechen, und zwar zuerst über das, was Palästina den Golusländern geben kann.

Die erste, wenn nicht die größte Gabe ist das Bewusstsein, dass wir unser Leben schaffen, dass wir etwas sind und etwas können. Wir haben bereits den Geschmack des Lebens einer Nation vergessen, — und hier fühlen wir ihn wieder! Zwar ist das Leben klein, mikroskopisch klein, ein Tropfen im Meer — aber ein Tropfen Leben! Wisst ihr, was das heißt? Jedes Leben beginnt mikroskopisch: mit einer Zelle, mit einem Mikroorganismus. Das Wesentliche ist, dass der Tropfen lebendig und entwicklungsfähig sei. Ein Tropfen Leben wirkt lebendiger als ein großes Meer von Wasser.

Das sehen wir gerade in Palästina an allem.

Das erste ist die Arbeit. Da beginnt man erst zu fühlen, was mikrokosmisch natürlich — volkswirtschaftliche Arbeit bedeutet. Da beginnt die Arbeit sich organisch mit der Erde, mit der Sprache, mit dem ganzen nationalen Leben und der nationalen Psychologie zu verbinden. Das alles ist, wie gesagt, mikroskopisch klein, nicht mit dem bloßen Auge zu sehen, und doch werde ich, so will es mir scheinen, mit meinen Worten nicht sündigen, wenn ich sage, dass es kein Land gibt, das den Juden so an die Arbeit bindet wie Palästina. Hat ein Jude eine lebendige Seele, hat er ein Studio chen eigenes geistiges Kapital und dazu die Möglichkeit, so wird er arbeiten. Man muss, so scheint es, schon ein vollkommen Armer oder Verarmter sein, um in Palästina nicht zu arbeiten, sobald man nur die Möglichkeit hat. Vielleicht täusche ich mich. Ich gebe mich nicht für den größten Sachverständigen auf dem Gebiete geistigen Reichtums aus, aber ich schätze nach meiner Urteilskraft.

Das kann heißen, dass die Arbeit — wieder selbstverständlich mikroskopisch gemessen — im höheren Sinne national wird. Hier steht die Arbeit nicht auf rein ökonomischem, sondern im Grunde auf nationalem Boden. Der Kampf für die Arbeit trägt hier auch keinen Klassenkampf, sondern nationalen Charakter: es ist ein Kampf für die Arbeit gegen das Parasitentum. Selbstverständlich ist es noch zu früh, darüber Bestimmtes zu sagen, es ist nur ein Anfang, ein Tropfen im Meer. Aber wer weiß? Vielleicht wendet sich vieles an uns selbst, dass hier etwas Neues geschaffen wird. Jedenfalls können hier die Juden der Golusländer viel wirken durch ihren Einfluss, der hier sehr groß ist, richtiger sehr groß sein kann, wenn sie bewusst wirken werden. Ich meine hauptsächlich den moralischen Einfluss, d, h. die öffentliche Meinung der Juden in den Golusländern, was soviel heißt als die Meinung des jüdischen Volkes. Sie müssen nur sehr energisch fordern, dass in Palästina die Arbeit nur durch eigene Hände getan werden soll. In Palästina darf der nicht von der Erde leben, der nicht selbst mit seiner Familie arbeitet (schon deshalb nicht, weil das jüdische Volk nicht soviel Erde besitzt, um sich den Luxus von nichtarbeitenden Gutsbesitzern erlauben zu können). Hat einer Erde, so ist er verpflichtet zu arbeiten, er und seine Familie, nur im Notfall darf er Helfer nehmen und zwar, selbstverständlich, jüdische. Eigentlich musste die Erde in Palästina überhaupt national sein. Das ist der Hauptgedanke des Nationalfonds. Aber nicht weniger wesentlich ist die Arbeit. Nationale Erde und nationale Arbeit, das sind zwei Seiten einer Münze. Was das jüdische Volk in Palästina vor allem sucht oder suchen muss, ist ein Leben durch eigene Hände und kein parasitäres, Parasitentum heißt wieder Golus. Das jüdische Volk muss durchaus jüdische Arbeit fordern. Diese Forderung, das Wirken für sie ist eines der Dinge, die die Juden der Golusländer für Palästina tun können, die sie zu Teilhabern an unserm Leben und Schaffen machen. Das kann für beide Teile eine gute Folge haben: es werden mehr jüdische Hände arbeiten, und die Arbeitenden werden sich moralisch gestärkt fühlen. Das Bewusstsein, dass das jüdische Volk zu der Erkenntnis gekommen ist, dass unser Leben durch unsere eigenen Hände geschaffen werden muss, ist eine große und schöne moralische Stütze für die Arbeit in Palästina.

Das Größte aber, das die Juden der Golusländer geben können und müssen, sind junge Kräfte, die hierher kommen sollen, um hier zu arbeiten und ihr Leben zu gestalten. Je größer die Kräfte, je reicher die Seelen, desto besser. Wir brauchen hier nicht nur Hände, mit den Händen, die kräftig arbeiten, muss zugleich eine Seele sein, die stark, reich, groß lebt, ein Gedanke, der das hell beleuchtet, was hier gearbeitet, gelebt und gelitten wird. Wir legen jetzt den Grundstein eines neuen Lebens, und dieser Grundstein muss aus großen, mächtigen Quadern bestehen. Kräfte, große, reiche Kräfte fordert Palästina vom jüdischen Volke, geistiges Kapital; mit materiellem Kapital kann man hier gar nichts machen, wenigstens gar nichts Schöpferisches. Abgesehen vom Nationalfond und dergleichen Institutionen, die der nationalen Erde dienen, kann man fast sagen, dass Palästina an das jüdische Volk unseres Vaters Abraham Bitte hat: „Gib mir die Seelen, das Geld magst du behalten!“

Überhaupt sollten wir, wenn wir an eine Arbeit in Palästina herantreten, mehr ans Schaffen denken denn ans Machen, mehr an ein neues, ersehntes, großes Leben denn an das Wenden des abgenützten, abgetragenen Lebens. Palästina ist mehr als ein altes Feiertagskleid, mehr als ein guter Broterwerb, mehr als ein technisches Unternehmen. Man muss da einen großen Maßstab anwenden, einen allmenschlich kosmischen Maßstab, der in unseren alten Träumen von Erez Israel enthalten ist. Darin ist auch unser Recht auf Erez Israel und unsere Kraft für Erez Israel enthalten. Wir haben keine andere Kraft, aber diese Kraft ist groß genug, wenn wir sie recht verstehen und erleben. Mit einem kleinen Maßstab können wir hier nichts zustande bringen, nicht einmal einen guten Broterwerb — fürs Volk natürlich. Das kann man leicht und klar an dem erkennen, was man hier mit großen Kapitalien und kleinen Maßstäben gemacht hat. Zerstörung und nicht Aufbau, Golus und nicht Erneuerung. Was von der früheren Aufbauarbeit wirklichen Wert hat, ist von Menschen geschaffen worden wie die Bilu, die noch den großen Maßstab hatten. Ich will darüber nicht viel reden, — das gehört ja auch zu den Dingen, die sich nicht beweisen lassen. Aber wer sein eigenes Leben mit einem großen Maßstab misst, der wird es ohne Beweise einsehen. Man soll aber nicht glauben, dass ich da von Luftschlössern spreche, — ich spreche hier vor allem andern ganz einfach von der Arbeit der eigenen Hände. Das ist die Grundlage, auf der unser Tun und Schaffen Realität und Wert erhalten kann. Schaffen, bildet man sich ein, könne man nur mit dem Gehirn, mit einer Art luftiger „Intuition“. Unsere Wohltäter „schaffen“ auch — mit fremden Händen. Es ist bald Zeit zu verstehen, dass man Leben vor allem mit den Händen schafft, mit der Intuition, die den ganzen Menschen ausfüllt, die den ganzen Körper und die ganze Seele bewegt und die leben, menschlich leben heißt. Habt ihr keine Intuition in den Händen, wenn ihr daran geht, Leben zu schaffen, so habt ihr sie nirgends. Das ganze Unglück ist aber, dass unser Parasitentum so tief wurzelt und uns so umfassend und durch und durch beherrscht, dass wir es gar nicht fühlen. Wir sind Parasiten auf fremden Händen, auf fremdem Gehirn, auf fremder Seele, auf fremdem Leben. Selbst zu arbeiten, selbst zu denken, fühlen, schaffen, selbst zu leben — das müssen wir erst lernen, Palästina ist zwar unser Lehrer, aber wir sind sehr schlechte Schüler. Etwas davon lernen wir aber doch.

Ebenso steht es mit unserer Sprache. Schwer fällt es uns, arbeiten zu lernen, — reden zu lernen fällt uns auch nicht leicht. Und trotzdem lernen wir etwas. Das zeigt uns wieder, was Leben, wenn auch nur ein Tropfen Leben heißt. Wie ihr seht, meine Freunde, bin ich weit davon entfernt, euch die Dinge schönzufärben. Ich will euch nicht erzählen, dass in Palästina unsere Sprache lebe, dass man hier ausschließlich hebräisch spreche. Man redet verhältnismäßig wenig hebräisch, und die Sprache ist noch nicht eigentlich lebendig und richtig. Und doch — die Sprache wächst, das ist eine Tatsache. Nicht nur Schulen werden hebräisch geführt, nicht nur Versammlungen, Aufführungen, Referate Hebräisch gehalten, — auch im alltäglichen Leben breitet sich hebräisch immer mehr aus, man spricht immer mehr und immer besser. Und wenn ihr hört, wie ein Kind — und solche gibt es hier sehr viele, immer mehr — mit der Mutter hebräisch spricht und nur hebräisch, weil es keine andere Sprache kann, oder wenn ihr seht, wie Kinder in hebräischer Sprache spielen, sich necken, streiten, — das schmeckt schon, sagt was ihr wollt, nach Leben. Das ist kein Gespräch von Mitgliedern eines hebräischen Sprachvereins mehr. Und zudem hatten wir doch auch sozusagen einen Kampf mit dem „Hilfsverein“ wegen Hebräisch. Das ist zwar auch etwas sehr Kleines gegenüber einem wirklichen Kampf, den ein lebendiges Volk — z. B. die Tschechen oder Polen — für seine Sprache führt. Aber die Hauptsache ist, dass Leben da war. Ein Zeichen dafür ist, dass es unseren Freunden in den Golusländern so nahe gegangen ist. Und nicht umsonst.

Offenbart sich der Mensch, wie man sagt, im Stil, so sicherlich die Nation in der Sprache. Unser Hebräisch in Palästina ist ein klarer Spiegel unseres Lebens in Palästina. Und in diesem Spiegel sehen wir am klarsten, wie groß die Schwierigkeiten in unserem Tun und Schaffen sind, die aus uns selbst, aus unserem inneren, geistigen Golus kommen.

Es wurde oben gesagt, dass hier die Arbeit sich organisch mit der Sprache zu verbinden beginnt. Aber der Anfang ist schwer und so klein, dass er sich eher erraten als spüren lässt. Es ist genug, zu sagen, dass man fast nicht merkt, dass hier eine Art Bund sein muss. Und woher soll dort ein solches Gefühl entstehen, wo man so wenig, ja man übertreibt nicht, wenn man sagt: gar nicht die Notwendigkeit eigener Arbeit fühlt? Nicht nur über eine einfache, palästinensische Siedlung, sondern auch über ein geistiges Zentrum lässt sich so gut denken, reden, schreiben ohne jede jüdische Arbeit oder mit so viel, als nötig ist, um dem werktäglichen Unternehmen einen feiertäglichen Hauch zu geben. Die Hauptsache ist, dass Juden einen anständigen Unterhalt und ein ruhiges Leben haben, damit sie sich mit Thora, Wissenschaft und guten Taten beschäftigen können. Es ist kein Wunder, dass man ein vielleicht noch glücklicheres Ideal gefunden hat, dass es ein Schreiber fertig gebracht hat, mit seherischem Blick zu entdecken, dass Palästina ein Land für Touristen sein und davon sehr gut leben wird, d, h. einfach, dass Palästina eine Art großes Hotel sein wird. Etwa keine schöne Erwerbsquelle für das jüdische Volk? Bei solchen Begriffen von dem, was wir in Palästina suchen — was für ein lebendiger, natürlicher Bund kann da zwischen unserem Leben und Tun und unserer Sprache sein? Welche neuen, eigenartigen Begriffe, Gedanken, welche neuen Seelenregungen, die ein besonderes Ausdrucksmittel fordern, können auf einem solchen Boden wachsen? Im Gegenteil, wenn ihr euch mit dem Leben unserer größten Kolonien bekannt macht, werdet ihr sehen, ob in ihrem ganzen Leben etwas geschaffen wird, das einen neuen, eigenen hebräischen Ausdruck erfordert. In Wirklichkeit sprechen sie Jargon (der Teil der jungen Generation, der im Land geblieben ist, spricht etwas Hebräisch), weil ihr ganzes Leben, kann man sagen, nichts anderes als eine Art Jargon ist. Das ist ein Leben, das sehr gut dadurch charakterisiert wird, dass es nicht einmal die wenigen Kolonistenkinder an sich zu fesseln vermag. Die junge Generation hat sich mit diesem Leben so vollgesogen, dass sie großenteils fortgegangen ist, um die Hauptelemente dieses Lebens, d, h. Franken, Napoleons, Dollars, Pfund, dort zu suchen, wo sie leichter zu haben sind — in Amerika, Afrika, Australien usw.

Mehr spricht man hebräisch unter den Arbeitern und vielleicht noch mehr unter den Arbeiterinnen. Es ist zu beobachten, dass Mädchen, die nie in einem Cheder gelernt haben, schneller Hebräisch lernen können und im allgemeinen mehr geneigt sind, Hebräisch zu reden als die männliche Jugend. Erst hier, im Leben der Arbeiter, beginnt man von einem Bund zwischen dem Leben, das man sucht, und der hebräischen Sprache zu träumen. Hier wird etwas gesucht, und irgendwo aus der Tiefe lässt sich das Leben vernehmen. Aber vorläufig ist es noch, ein ferner Traum, sofern wie das Leben, das gesucht wird. Die Arbeit, die Sprache — das ist das Volk, der Mensch. Die Arbeit kommt uns schwer an, die Sprache kommt uns schwer an, weil es schwer, schwer ist, einen neuen Menschen zu schaffen, sich selbst aufs neue zu schaffen. Das ist vielleicht das Größte, das gesucht wird, aber auch das Schwerste. Daher ist es kein Wunder, dass die Suchenden nicht immer leicht den festen Bund zwischen den drei Dingen Mensch, Arbeit, Sprache sehen und nicht erkennen, dass das ein organisches Leben ist und dass, wenn man sich nur einem oder zweien dieser Elemente auf Rechnung der übrigen hingibt, man allen, dem ganzen Leben schadet.

Aber die Sprache wächst wie gesagt und die Arbeit wächst auch, folglich muss man danach streben, dass auch der Mensch wachse. Man sieht nicht wie Gras wächst, wie der Mensch wächst gewiss nicht.

Und da können auch die Juden in den Golusländern vieles durch ihren moralischen Einfluss wirken, wenn sie von Palästina genügend beeinflusst sein werden. Wenn das Volk bewusst leben wird, wird sein Wille hier bewirken, dass wir tiefer und bewusster leben, dass unser Leben hier immer mehr an Ganzheit gewinnt von seinen Wurzeln tief in der Natur bis zu seinem Ausdruck in unserer Sprache. Aber auch umgekehrt. Ob die Juden in den Golusländern Hebräisch reden werden oder nicht (darüber können nur die Juden in ihren Wohnorten selbst entscheiden), — die Wirkung, die das lebendige Hebräisch auf das ganze Volk, seine ganze Seele haben wird, wird sicherlich so groß sein, als die Sprache in Palästina lebendig sein wird. Man kann sagen: wenn unsere alte Sprache in unserem alten Lande vollkommen lebendig sein wird, wird das bedeuten, dass unser altes Volk lebt.

Die Arbeit, die Sprache, der Mensch, das Leben — das lenkt den Gedanken gleich auf die Schulen. Die Schule umfasst auch das ganze Leben, wie die Arbeit und die Sprache, nur von einer anderen Seite. Die Schule bildet die neue Generation heran und das bedeutet in Wahrheit die Schaffung eines neuen Menschen, eines neuen Lebens. Sie muss sicherlich mit allen Elementen des menschlichen Lebens eine organische Einheit bilden. Ich will hier nicht von unserer Schule überhaupt sprechen: das ist eine zu große Frage. Aber in dem Zusammenhang, in dem wir hier stehen, kann man, glaube ich, in unseren Schulen ein Streben nach dem richtigen Weg sehen. Wir sehen wenigstens, dass viele Schüler, die z. B, das Jaffaer Gymnasium absolviert haben, zur Arbeit übergehen. Überhaupt sieht man unter den älteren Schülern des größten Teiles der Schulen, und man kann fast sagen, unter dem größten Teil der Lehrer eine gewisse Annäherung an die Sphäre der Arbeit und der Arbeiter. Das ist selbstverständlich nicht durchweg so, und vielleicht in nicht genügend großem Maße, aber etwas ist es und es erweckt Hoffnung. Von hier aus ist der Gedanke nicht mehr fern, dass die Idee einer Universität in Palästina nicht so gefährlich ist, wie sie sich in der Phantasie derer darstellt, die vor „Geistern“ oder Geistigkeit so sehr zittern. Wenn man von der Universität zur Arbeit kommen wird — und man kann hoffen, dass ein gewisser Teil bestimmt kommen wird — wird man von der Arbeit zur Universität auf dem rechten Weg kommen, auf dem Weg, der vom Leben ausgeht und zum Leben führt. Dabei können beide gewinnen: sowohl die Arbeit als auch die Universität. Aus dieser gegenseitigen Wirkung kann in der Tat ein neuer Gedanke entstehen, ein Gedanke, der unmittelbar aus unserem Leben, unserem Schaffen, unserer Natur hervorwächst.

Aber ich nehme die Sache auch von einer anderen Seite, Wenn ich hier über die Schulen und eine Universität spreche, so geht es mir nicht nur um Palästina, sondern auch um die Golusländer. Mag wer will vor dem ,,bourgeoisen“ Gedanken erschrecken — , mir geht es sehr darum, dass unsere Jugend in den Golusländern in einem gewissen Maße die Möglichkeit haben wird, in Palästina erzogen zu werden. Das wird gewiss einen großen Einfluss auf die Juden in jenen Ländern haben, auf ihr ganzes geistiges Leben, und wird auch als lebendiger Verkehr zwischen Palästina und den übrigen Juden dienen. Mögen nur junge Kräfte nach Palästina kommen, um hier zu arbeiten und zu leben, Kinder und Erwachsene, um hier zu arbeiten und zu leben, Kinder und Erwachsene, um hier zu studieren (von ihnen wird sicher auch ein Teil hier bleiben und arbeiten), — das wird beide Seiten beleben und erleuchten: sowohl Palästina als auch die Golusländer. Da ist ebenfalls eine gegenseitige Wirkung vorhanden. Wird Palästina leben und Leben schaffen, dann wird das Leben der übrigen Länder auch größer, tiefer, reicher werden und seinerseits das Leben in Palästina vertiefen und bereichern.

Das alles, d. h. unser ganzes Tun und Schaffen in Palästina hängt natürlich nicht allein von uns selbst ab. Von dieser Seite, d, h. von der politischen Seite habe ich hier nicht gesprochen. Ich bin kein Politiker und das ist nicht meine Sache. Darüber sollen die nachdenken, die dazu fähig sind. Gewiss, wir hängen schließlich doch von andern ab, ich habe aber von dem geredet, was von uns abhängt. Das ist bei mir die Hauptsache. Werden wir einen Willen haben, — so werden wir wohl leiden, werden Sorgen, Störungen haben, aber am Leben werden wir bleiben und schließlich wird etwas da sein. Unsere Arbeit kehrt sich nicht um Politik, wenn der schlimme Wind sich ein wenig legt, können wir wieder arbeiten.

Noch eine der wichtigsten Fragen habe ich hier nicht berührt — die Frage unseres Verhältnisses zu den Arabern. Hier fragt man nicht so sehr nach der politischen als nach der moralischen Seite. Man weist uns hier auf einen tiefen moralischen Widerspruch hin, der in unserem ganzen Palästinaideal steche. Davon will ich hier nicht reden, meine Briefe sind auch so schon länger geworden als ich dachte. Darüber vielleicht ein anderes Mal. Hier kann ich nur einen Wink geben, dass unser Verhältnis zu den Arabern — natürlich soweit es von uns abhängig ist — auf neue Grundlagen gestellt werden muss, auf die Grundlagen, die hier höhere nationale, alle menschlich-kosmische nationale Interessen genannt worden sind.

Ich hätte hier vielleicht noch etwas, vielleicht noch viel zu sagen gehabt, etwas das viel sagt, etwas das man sagt, wenn das Herz offen ist. Aber das ist nicht nötig, das vermittelt sich ohne Worte, wenn es genug Kraft hat, Herzen zu öffnen, und begleitet in der Tiefe das, was durch Worte ausgedrückt werden muss. Ein Gedanke hat mich zum Schreiben gebracht, und dieser eine Gedanke nimmt jetzt Abschied von mir, da ich zu schreiben aufhöre, nimmt Abschied wie einer der zum erstenmal von seiner Heimat in die große Welt hinausgeht,— wer weiß? . . . . Wer weiß ob wir selbst jetzt — ich glaube, es genügt zu sagen: selbst jetzt, ohne Erklärungen — wer weiß, ob wir selbst jetzt uns schließlich umsehen, bis auf den Grund unsere Lage erkennen und ernstlich an die Heilung unserer zerrissenen Seele gehen werden, uns verständigen, uns zu einer großen nationalen Tat vereinigen werden, — wer weiß? . . .

Was sagt ihr, meine Freunde, habe ich mich an die richtige Adresse gewandt? . . .

Friede und Segen sei mit euch!

Palästina.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe aus Palästina