Tegel , den 10. Juli 1822.

Ich glaube Ihnen schon gesagt zu haben, daß ich Sie bitte, Ihre Briefe, wenn die meinigen diese Überschrift tragen, immer nach Berlin zu adressieren, sie kommen mir sicherer zu. – Hier brachte ich meine Kindheit und einen großen Teil meiner Jugend zu. Ich liebe Tegel sehr. Die Gegend ist wenigstens die hübscheste um Berlin; auf der einen Seite ein großer Wald, auf der anderen von Hügeln, die schön bepflanzt sind, eine Aussicht auf einen ausgedehnten, von mehreren Inseln durchschnittenen See. Um das Haus und fast überall sind hohe Bäume, die ich in meiner Kindheit erst in mäßiger Stärke sah, und die nun mit mir emporgewachsen sind. Ich baue jetzt ein neues Haus hier, das schon halb fertig ist, und bringe auch hierher die Gemälde und Marmorsachen, die wir haben, so wird es ein anmutiger Wohnplatz, von dem ich selten in die Stadt kommen werde.

Hier bekam ich auch Ihre beiden lieben Briefe, den vom 25. v. M. und den vom 3. d. M., für die ich Ihnen herzlich danke. Ich beantwortete den ersten, in dem Sie mich so sehr bitten, Ihnen augenblicklich zu schreiben, nicht gleich, weil ich wußte, daß einer von mir in der Zeit in Ihren Händen sein müßte.


Daß ich ihren Hang zur Einsamkeit tadeln oder einschränken möchte, dürfen Sie nie fürchten. Ihr alter väterlicher Freund Ewald ist aber doch wohl hier viel gütig-sorglicher gewesen und hat an Ihr Glück gedacht und geglaubt, Sie hätten mehr Vergnügen in einer geselligeren Art zu leben. Ich meine nun das garnicht, allein, wenn ich es auch meinte, so würde ich doch mehr zur Einsamkeit raten. Es ist nun einmal (das lobe ich aber nicht) meine Art so, bei mir (das möchte hingehen), aber auch bei anderen, viel weniger auf ihr Glück, ihren Genuß, als auf das, was sie in sich sind, auf den vorzüglicheren Grad und die eigentümliche Art ihrer Gemütsstimmung zu sehen. Diese nun ist aber schon schöner, wenn man die Einsamkeit liebt, und wird schöner, wenn man dieser Liebe nachhängt; sie würde es aber allmählich auch, wenn man von Natur die Einsamkeit nicht liebte, und sich nur Gewalt antäte, in ihr zu beharren. Das ist so in vielem meine Theorie.

Daß Sie mir gelegentlich erzählen, daß an Ihrem Haus und Garten ein Bach mit einem Steg ist, hat mir Vergnügen gemacht. Solche kleinen Züge bezeichnen die ganze Lage und versetzen einen in die Gegenwart. Denken Sie nun auch hübsch an mich, teure Charlotte, hinter Ihrem Bach.

Der Aufsatz, den Sie mir vorerst als Beantwortung meiner Frage senden, der ursprünglich nicht für mich bestimmt war, in dem aber eine Stelle über mich vorkommt, für die ich Ihnen sehr dankbar bin, hat mich sehr interessiert. Ich liebe die Ansichten, die jemand, der bei vielen andern genauen Übereinstimmungen doch sehr verschieden sein muß, über Gegenstände wie über Schriften hat, mit denen man durch das Leben gegangen ist. Es muß in solchen Beurteilungen vieles einseitig, selbst unrichtig sein, aber es ist die wahre, die natürliche und die eigene Ansicht, diese zieht immer an, weil man von ihr aus wieder Blicke in das Individuum tut, sie ist auch in hohem Grade belehrend, weil man sie sich gar nicht so von selbst vorstellen kann, und den Wert, den Eindruck, die Wirksamkeit der Dinge meist nur nach allgemeinen Maßstäben mißt und nur gewohnt ist, sich alles im Zusammenhange mit Denkart, Charakter, Erziehung und äußeren Umständen zu denken. Man wird die individuelle Ansicht immer ehren, auch wenn man nicht darin übereinstimmen könnte. Das, was Sie über mich sagen, ist sehr liebevoll und gütig, aber ich kann auch gewiß hinzusetzen, daß das gewiß wahr ist, daß ich unfähig wäre, je einen Menschen, der mir irgend nahe stand, zu vergessen oder aufzugeben, ich verfolge vielmehr jede Spur, die aus der Vergangenheit übrig ist. Jede solche Verbindung, ja jedes solches bloßes Begegnen, hängt ja mit so vielen in einem zusammen, und das Leben ist schon ein solches Stück- und Flickwerk, daß man nicht genug trachten kann, die zusammenhängenden Teile fester aneinander zu knüpfen. Freilich kommt es auch darauf an, daß die, an die man sich auf solche Weise erinnert, noch etwas behalten haben, was dem Bilde entspricht, das in der Seele lebt. Aber selbst, wenn das nicht ist, wie ich auch deren Beispiele in meinem Leben habe, so ergötze ich mich doch, wenn mir solche Personen wieder vorkommen, sie und ihr Treiben zu betrachten, ohne ihnen weiter ein fortdauerndes Interesse zu beweisen. Bei Ihnen ist das nun aber sehr anders; Sie haben so lange Jahre mein Andenken treu bewahrt, ohne irgendein Zeichen des Andenkens von mir zu empfangen; Sie leben gern und viel in Gedanken mit mir; Sie machen keine Ansprüche noch Forderungen an mich, als die ich gern und mit Freuden erfülle.

Sie bitten mich abermals, meine Briefe bewahren zu dürfen. Liebe Charlotte, ich bin ein großer Feind von alten Briefen, und wenn auch gar nichts darinnen steht, was irgend jemandem im mindesten nachteilig sein könnte, habe ich das Aufheben nicht gern. Ein Brief ist ein Gespräch unter Anwesenden und Entfernten. Es ist seine Bestimmung, daß er nicht bleiben, sondern vergehen soll, wie die Stimme verhallt. Bleiben soll der Eindruck, den er in der Seele hervorbringt, und den dann der zweite und die folgenden verstärken oder verändern.

Aber Sie legen einen so hohen Wert darauf, Sie bitten mich so inständig und dringend darum, daß ich es Ihnen gewiß nicht abschlagen will. Behalten Sie also immerhin die Blätter. Es ist ja dazu sehr lieb und gut von Ihnen, daß Sie sagen, Sie holen sich immer daraus, was Sie bedürfen. Ich schreibe nie eine Zeile, die ich nicht mit Fug und Recht verteidigen könnte, so ist es mir auch nicht gegeben, über das Schicksal meiner Briefe unruhig zu sein. Auch war es das nicht, was mich bewog, Sie um Verbrennung der meinigen zu bitten, sondern, wie ich oben sagte, weil ich das Aufheben der Briefe überhaupt nicht liebe. Selbst das Lesen alter Briefe will mir nicht recht einkommen. Ich dächte, man beschäftigte sich lieber mit dem Gegenstande in Gedanken, an dem das Herz hängt, da der Brief doch sein Leben verloren hat, wenn er nicht eben von geliebter Hand kommt. Bei Ihnen ist das anders. So behalten Sie immerhin die Briefe. Es macht mir Freude, Ihnen einen Wunsch zu gewähren, da Sie so selten einen Wunsch aussprechen. Nun leben Sie herzlich wohl, liebste Charlotte, und bleiben Sie um mich mit Ihren Gedanken, die meinigen teilen oft Ihre Einsamkeit. Ihr H.

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Sie wundern sich, daß eine Liebe zur Beschäftigung mit Empfindungen, eine Milde und Zartheit in denselben, ein Eingehen in fremde Gemütsstimmungen, mir unter vielen und abziehenden Geschäften geblieben ist. Das kommt doch nur daher, daß jenes eigentlich die natürliche Beschaffenheit meines Gemüts ist, und daß es mir immer eigen gewesen ist, gegen das innere und eigentliche Sein, die Geschäfte nur wie eine Art Nebensache zu behandeln, immer ihrer mächtig zu bleiben, statt mich von ihnen beherrschen zu lassen. Man macht sich darum und auf diese Weise nur desto besser. Und das, was den Menschen als Mensch berührt, die Gefühle, die ihn erfüllen, die sich in ihm drängen und stoßen, haben immer einen hauptsächlichen Reiz für mich gehabt. Ich habe zuerst damit angefangen, mich selbst zu kennen und mich selbst zu beherrschen, und kein Mensch kann sich klarer durchschauen, keiner sich mehr in seiner Gewalt haben als ich. Ich habe dabei immer nach zwei Dingen gestrebt: mich empfänglich zu halten für jede Freude des Lebens, und dennoch durchaus in allem, was ich mir selbst nicht geben kann, unabhängig zu bleiben, niemandes zu bedürfen, auch nicht der Begünstigungen des Schicksals, sondern auf mir allein zu stehen, und mein Glück in mir und durch mich zu bauen. Beides habe ich in hohem Grade erreicht, über keine Freude und keinen Genuß des Lebens bin ich hinweg, wie es die Leute nennen. Die einfachste Sache, wenn sie nur etwas Anmutiges oder Höheres an sich trägt, oder wenn sie mir durch irgend etwas besonders zusagt, gewährt mir reine Freude. Daher niemand so dankbar ist als ich, weil wirklich auch wenig Menschen so viel Grund zur Dankbarkeit haben. Teils begegnet ihnen vielleicht weniger Erfreuliches, teils aber finden sie auch in dem, was ihnen begegnet, das Erfreuliche nicht so heraus, und genießen es nicht, wie sie könnten. Aber kein Mensch ist auch so wenig bedürftig als ich, und darauf beruht ein großer Teil meines Glücks, denn jedes Bedürfnis ist, wie es befriedigt wird, nur eigentlich Stillung eines Schmerzes, und alles, was darauf verwendet wird, geht dem reinen, ruhigen, stillen Genuß ab.

Der Fähigkeit, sich einem fremden Willen, bloß weil es ein solcher Wille ist, auch geradezu gegen die Neigung zu unterwerfen, als Muß sich zu unterwerfen, dieser Fähigkeit bedarf jeder, auch der Mann, und ich würde mich sehr tadeln, wenn ich nicht wüßte, daß ich sie hätte. Sie macht überdies das Gemüt milder, weicher und, so sonderbar es scheint, zugleich stärker, selbständiger und der Freiheit würdiger.

Ohne Kampf und Entbehrung ist kein Menschenleben, auch das glücklichste nicht, denn gerade das wahre Glück baut sich jeder nur dadurch, daß er sich durch seine Gefühle unabhängig vom Schicksale macht.

Das Geheimnis des Glücks in der Liebe
ISBN: 978-3-939198-38-3
Preis: 9,90 €
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin